Recht wenig Rezensionsexemplare, dafür wieder einmal sehr breit gestreut: Mein Lesemonat Juni. Cover jeweiliger Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Ab und zu lese ich gern einen Thriller von Don Winslow. In diesem Monat war es Frankie Machine, um das ich eine recht lange Zeit herumgeschlichen bin, weil ich mit dem Titel nichts anfangen konnte. Die Geschichte aber ist wirklich gut, sehr spannend, während sich peu á peu die Gründe und Hintergründe entpuppen, die für das Leben der Hauptfigur eine dramatische Wendung bringen. Bei Winslow habe ich immer den Eindruck, dass er weiß, wovon er schreibt; so auch hier.

Hilmar Klute ist mir als Essay-Autor in der Süddeutschen Zeitung mehrfach aufgefallen, also habe ich die Gelegenheit genutzt, einen längeren Roman von ihm zu hören. Sprachliche Köstlichkeiten pflastern den Weg der Erzählung, die auch deswegen einen sperrigen Titel benötigt, weil sich Die schweigsamen Affen der Dinge ein wenig zu lang über einem recht dünnen Sujet ausbreitet. Das war schon okay, die von den Essays geweckten Erwartungen hat das Buch aber nicht erfüllt.

Wozu Rassismus? von Aladin El-Mafaalani ist, was ich als akademische Analyse und Darstellung von Rassismus und Antirassismus bezeichnen würde. Man erfährt eine Menge, vielschichtig und wohlgesetzt fordert das Buch geradezu Widerspruch und Nachdenken heraus – ein generelles Gütesignal. Wie der real existierende Antirassismus aussieht, nun, die Geschichte der Ismen gibt Auskunft. Einen Vorgeschmack liefern die Sozialen Medien, die vom konstruktivem Diskurs, den El-Mafaalani immer wieder anführt, so weit entfernt sind wie das Leben vom Paradies.

Immer wieder gern lese ich Bücher von Klaus Modick. Im Juni war es Keyserlings Geheimnis: Graf Eduard von Keyserling ist ein vergessener Schriftsteller aus dem gleichfalls vergessenen deutsch-baltischen Adel. Modick erweckt beides in seinem Roman wieder zum Leben, mit einer sehr gelungenen, atmosphärisch passenden Sprache. Von Keyserling habe ich tatsächlich ein sehr schmales Büchlein gelesen: Wellen.

Überraschend spannend las sich Krieg der Welten von H.G. Wells. Wie auch immer man den Roman oder die etwas längere Erzählung einordnet, bemerkenswert ist der Kniff, Kritik an Missständen gewissermaßen über die Bande zu äußern. Wells lässt seine Hauptfigur in die Zukunft reisen und dort erleben, wohin die scharf getrennte Klassengesellschaft führen kann. Wie im Genre Dystopie üblich, enthält das Werk eine Warnung an die Gegenwart.

Gute Unterhaltung bot der Urban-Fantasy-Roman Ritual von London von Benedict Jacka. Seit ich Bekanntschaft mit dem unvergleichlichen Bartimäus von Jonathan Stroud gemacht habe, verschlägt es mich immer mal wieder in dieses Genre, das entspannendes Lesen ohne besonderen Anspruch verspricht. Jacka hat eine ganze Reihe um den Magier Alex Verus gestrickt, das Ritual ist der zweite Teil.

Enttäuscht hat mich die Biographie Diokletian* von Alexander Demandt. Auf die vielen Fragen, die ich um den römischen Kaiser hatte, finden sich nur wenige Antworten. Das liegt sicherlich auch an der dürftigen Quellenlage, allerdings ist der Ansatz des Buches auch eher eine paraphrasierende Darstellung dessen, was überliefert ist.

Eine sehr positive Überraschung ist Der Meister des Jüngsten Tages von Leo Perutz gewesen. Leo wer? Nun, der Schriftsteller hat diesen Roman 1923 veröffentlicht, obwohl er zu einem Welterfolg wurde, gehört Perutz nicht zu jenen Autoren der Weimarer Zeit, die bis heute gern und häufig gelesen werden. Bedauerlich, denn dieses Werk hat Qualitäten!

Das lässt sich auch für Königsmörder von Robert Harris, in dem der Leer der Verfolgung zweier Oberste aus der Armee Oliver Cromwells, deren Unterschrift auf dem Todesurteil für den König ihr eigenes Leben verwirkt. Sie fliehen in die amerikanischen Kolonien, ein fanatischer Häscher ist auf ihren Spuren. Großartige und ausschweifende Schilderung der Lebensumstände um 1660, der allgegenwärtige religiöse Fanatismus ist beeindruckend; und schauderhaft.

*[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Blog-Gestöber

Éric Vuillard hat in diesem Jahr mit Ein ehrenvoller Abgang einen für ihn sehr typischen Roman vorgelegt, der sich in gewohnt engagierter Weise mit dem Indochina-Krieg auseinandersetzt. Beim Blog-Stöbern bin ich bei literaturreich (Petra Reich) auf eine ganz hervorragende, ausführliche Besprechung gestoßen, die einen etwas anderen Akzent setzt, als meine eigene. Bücher sind wie Berge, sie ermöglichen unterschiedliche Perspektiven und Zugänge. Éric Vuillard – Ein ehrenvoller Abgang.

Ein mächtiges Unterfangen gibt es bei Julian Zündorf zu lesen: Vier Maximalist Novels über den Zweiten Weltkrieg. Ein monströser Krieg verarbeitet in monströsen Romanen, von denen ich keinen kenne, obwohl ich – wie man schon an der Schlagwortwolke auf meine Homepage erkennen kann – mit dem Thema auf vertrautem Fuß stehe. Der Zauber von Literaturblogs entfaltet sich in solchen Momenten, denn hier bekommt der Blog-Leser einen kleinen Zugang zu den monumentalen Werken und kann sich überlegen, ob er eines davon zur Hand nimmt oder sich mit dem Eindruck begnügt. Grossmanns Stalingrad werde ich nicht lesen, weil ich bereits Leben und Schicksal kenne und für interessanter halte. Um Die Wohlgesinnten schleiche ich schon geraume Zeit herum, Die Enden der Parabel und Europe Central klingen so verlockend, dass ich nicht lange widerstehen können werde.

Einige interessante Ausblicke auf die Herbstprogramme der Verlage:
literaturreich
Buch-Haltung
elementares lesen

Blog-Monat

Das meiste Interesse hat im Monat Juni die Besprechung von Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge* auf sich gezogen, gefolgt von Tony Hillerman: Blinde Augen* und Dawid Hewson: Garten der Engel.*

Im ersten Halbjahr 2023 wurde meine eher kritisch gehaltene Buchbesprechung zu Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen am häufigsten angesteuert, außerdem Kenneth Fearing: Die große Uhr und (sehr erfreulich!) Alexis Jenni: Die französische Kunst des Krieges, eines meiner Lieblingsbücher überhaupt.

Noch häufiger als der Buchblog wurde die Blog-Seite Piratenbrüder aufgerufen, wo sich nach langer Pause einiges getan hat: Die neuen Cover der ersten drei Bände sind dort zu sehen, außerdem kann man sich die Klappentexte durchlesen. Die Romane werden im neuen Look bald (wieder) erhältlich sein.

Indochina- / Vietnam-Krieg: Perspektive erweitern

Ganz besonders gefreut habe ich mich über das Interesse am Roman Der Gesang der Berge von Nguyễn Phan Quế Mai, der eine Lektüre-Lücke geschlossen hat. Ich kenne zwar eine Reihe von Romanen, die sich um den Indochina– (Frankreich) und vor allem Vietnam-Krieg (USA) drehen, natürlich auch eine Anzahl von Filmen und auch eine gute Dokumentar-Reihe, doch bleiben die Nordvietnamesen meist seltsam gesichtslos.

Es gibt sehr gute Romane zum Thema Vietnam: Alexis Jenni, Die französische Kunst des Krieges; Karl Marlantes, Matterhorn; Graham Green, Der stille Amerikaner; Èric Vuillard, Ein ehrenhafter Abgang; Viet Thanh Nguyen, Der Sympathisant; Nguyễn Phan Quế Mai, Der Gesang der Berge. Eigene Aufnahme.

Der Gesang der Berge schildert die beiden großen Kriege, außerdem die Besetzung Indochinas durch die Japaner aus der Sicht einer nordvietnamesischen Familie. Mehr noch: Vor allem die Frauen und Mädchen, die zuhause die Stellung halten mussten, während die männlichen Familienmitglieder an der Front kämpften, rücken in den Fokus des Überlebenskampfes.

Das ist teilweise nichts anderes als die Hölle. Der Leser erfährt die unendlichen Leiden, denen die nordvietnamesische Bevölkerung ausgesetzt war, endlich aus deren Sicht. Bisher waren Nordvietnamesen uniform gekleidete »Gegner«, wenn man sie denn überhaupt zu Gesicht bekam. Im Guerilla-Krieg blieben sie meist unsichtbar, wenn sie offen antraten, haben ihnen die Amerikaner immense Verluste zugefügt.

Der Roman stellt einen guten und notwendigen Kontrapunkt zu Filmen á la Platoon dar. In diesem Streifen stirbt in einer Szene ein amerikanischer Soldat (Elias Grodin, dargestellt von Daniel Dafoe), während gleichzeitige zahllose gesichtslose Nordvietnamesen (die sich reichlich dumm anstellen) von Hubschraubern unter Feuer genommen werden und sterben. Ein Drama ist aber nur der sterbende Amerikaner.

Mit Romanen á la Der Gesang der Berge treten Individuen aus der grauen Masse uniformierter Schatten, Menschen, die ein schauderhaftes Schicksal erlitten haben und ein bemerkenswerte Kraft entfalteten, um zu bestehen.