Noch immer ist Krieg. Wie in allen umwälzenden Momenten gibt es den Punkt, an dem der Schock weicht und das sanfte Ruhekissen der Gewöhnung einlädt, sich zu betten. Leider wird dieser Krieg das nicht lange zulassen. Das Wort “Eskalation” ist eine Sache, wir sind längst wesentlicher Bestandteil dieser Auseinandersetzung.
Wenigstens als Ziel von Desinformation und Fake News, aber auch durch mittelbare Wirkungen wirtschaftlicher Natur, dem Schrecken, den die fürchterlichen Verwüstungen, die unzähligen Toten, das namenslose Leid hinterlassen. Und ich würde nicht darauf wetten, dass es nicht doch zu einer direkten Konfrontation von Nato und Putins Vernichtungskriegrussland kommen wird.
Literatur kann ein Ruhekissen sein, ich mag solche Bücher nicht allzu gern, lasse ich mich doch lieber bewegen von ihren Inhalten. Wie von “Propaganda” und “Winterbergs letzte Reise”, die mich beide auf unterschiedliche Weise ganz besonders angesprochen haben. Die Highlights in diesem Lesemonat.
Eric Vuillard: Der Krieg der Armen
Die Flammen der Wut über die Ungerechtigkeiten der Welt schimmern durch die Zeilen dieses sehr knappen Buches, das Thomas Müntzer zum Thema hat – oder besser gesagt: seinen Krieg für eine bessere Welt und gegen jene, die sich ihr entgegenstellen. Interessant fand ich seine Vorläufer, gewalttätige Erhebungen in England und Böhmen. Und die Frage: Was hat es gebracht?
Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise
Zum Glück folgen viele Schriftsteller nicht den Ratpfaden aus Schreibratgebern. Andernfalls wäre dieser Roman nie entstanden und ich eines großen Leseerlebnisses beraubt worden! Ein Buddy-Gespann macht sich auf eine Tour durch Mitteleuropa, das heutige Tschechien, Österreich, Kroatien zurück nach Deutschland. Doch ist es eine Reise durch die Vergangenheit, denn der Reiseführer stammt aus dem Jahr 1913! Lange Episoden werden daraus zitiert und mit Gegenwart und persönlicher Vergangenheit sowie viel weiter zurückreichenden Ereignissen verwoben. Ja, das ist groß. Manchmal etwas anstrengend; aber groß!
Norman Davies: George II.
Der Untertitel gibt den entscheidenden Hinweis: Ein deutscher Fürst auf dem britischen Thron. Das historische Sachbuch bietet eine außergewöhnliche Perspektive, nämlich die Personalunion der Welfen (bzw. eines Zweiges) mit dem britischen Thron. Wer weiß heute noch davon, wenn er auf Welfenschlösser stößt, etwa in Hann. Münden, wenn dort ein Jugend Musiziert Preisträgerkonzert veranstaltet wird? Gern hätte ich noch mehr aus diesem Buch erfahren, es ist für meinen Geschmack etwas knapp ausgefallen. Dafür kann man sich im Handumdrehen einen erneuerten historischen Standpunkt aneignen.
Wolfgang Herrndorf: Tschick
Ein Besteller mit bitterem Beigeschmack! Während das schmale Road-Movie-Büchlein die Bestsellerlisten eroberte, erhielt der Autor die Nachricht, an einem nicht heilbaren Glioblastom zu leiden. Eine horrende Vorstellung! Tschick ist – anders als “Sand” – davon inhaltlich mehr oder weniger unberührt, ein leichtes, komisches, wunderbares Buch. Herrndorf hat es geschafft, wesentliche gesellschaftliche Probleme in ein Roadmovie einzuflechten und ohne faustisch-deutsche Eisenbeißerei zu erzählen. Er variiert den Tonfall, beißender Spott und Selbstironie wechseln sich ab mit garstigen Bemerkungen zu Personen, denen die Hauptfiguren begegnen. Zartbesaitete könnten sich getriggert fühlen. In seinem Blog “Arbeit und Struktur” hat Herrndorf ein Kapitel veröffentlicht, das dem Rotstift zum Opfer gefallen ist. Nicht nur deswegen ein Grund beides zu lesen oder zu hören. Und “Sand” gleich mit dazu!
Albert Sánchez Piñol: Der Untergang Barcelonas
Kennen Sie Sébastien Vauban? Nein? Nun, er war das Genie des Festungsbaus! Wenn Sie durch Europa reisen und alte Städte besichtigen (gibt es “junge” Städte in Europa?), die ihre Wälle nicht geschliffen haben, dann könnten Sie eines seiner Bauwerke oder eines von seinen Ideen beseeltes besichtigen. Sternfestungen gibt es rund um den Erdball, wie ich nicht zuletzt bei der Recherche zu meiner Abenteuerreihe feststellen musste. In Piñols Roman erfährt der Leser eine Menge über derlei Festungen und wie man sie belagert. Für mein Empfinden hat der Autor eine gute Lösung gefunden, Infodump zu vermeiden. Zu den großen Nachteilen gehört bedauerlicherweise die Hauptfigur, die sich über viele hundert Seiten allzu treu bleibt und nicht entwickelt. Das macht den Roman wesentlich weniger lesenswert.
Steffen Kopetzky: Propaganda
Was für ein tolles Buch! Mir hat “Risiko” von Kopetzky schon gefallen, “Propaganda” übertrifft es auf ganzer Linie, nicht zuletzt wegen seiner inhaltlichen Vielschichtigkeit und den zahlreichen Zeit- und Ortssprüngen. Es ist anspruchsvoller erzählt und bietet dem geneigten Leser einen Zugang zu Facetten deutscher Geschichte, die nicht wirklich im Fokus stehen; aber eben auch solche der US-Historie, wie zum Beispiel den Rassismus in der US-Armee während des Zweiten Weltkrieges. Schon mal etwas vom “Crazy Nigger Highway” gehört? Nein? Hatte ich auch nicht. Das Episödchen beleuchtet wunderbar das Widersprüchliche im US-Befreiungskrieg gegen das Nazi-Reich, und ist doch nur eine flüchtige Randerscheinung. Ganz große Leseempfehlung!
Sarah Blacke: Darling, I fancy you
Die Regel: Ich lese weder Romance noch Young Adult. Hier ist eine Ausnahme. Am Anfang stand ein Zufall, der mich dazu gebracht hat, in diesem fremdartigen Genre zu wildern. Es wird eine Ausnahme bleiben, doch was wäre das (Lese-)Leben ohne Abwechslung? “Darling, I fancy you” lässt den Leser zwei Menschen bei ihren (bisweilen sehr expliziten) Liebeshändeln über die Schulter blicken. Die Autorin hat einen angenehm unaufgeregten Tonfall gefunden, frei von schwülstigem Gefühlskitsch. Sehr gelungen ist die Verwendung der Sozialen Medien als Mittel der Kommunikation. Was mich am meisten angesprochen hat, ist die völlige Fremdheit der Personen und ihrer Lebensumwelt. Man muss nicht mit der Enterprise in die unendlichen Weiten aufbrechen, Miami und New York reichen, manchmal auch Köln.
Thomas Vogtherr: Die Welfen
Wann immer mein Nachwuchs an “Jugend Musiziert” teilgenommen hat, folgte ein so genanntes Preisträgerkonzert. Oft sind wir nach Hann. Münden gefahren, wo die Veranstaltung im “Welfenschloss” stattfand. Eigentlich wäre das Grund genug, sich mit der Familiengeschichte einmal auseinanderzusetzen, doch ich habe noch einen: Sie erinnern sich? Ich habe eine Biographie über den König und Kurfürsten George II. gelesen. Der ist ebenfalls ein Welfensprössling, was mir bis dahin entgangen war, obwohl ich von der Personalunion zwischen “Hannover” und “London” wusste. Und die Familie der Welfen hat tatsächlich noch sehr viel mehr zu bieten, wie es im Untertitel heißt: schon im Mittelalter!
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