Wer zu Lebzeit faul auf Erden” – hat eine stattliche Schlange an unveröffentlichten Buchvorstellungen im Backend seines Blogs. Vier der hier kurz angerissenen Bücher werden bald mit einer ausführlichen Präsentation gewürdigt, denn mein Lesemonat Mai war tatsächlich großartig und vielfältig. Zu Kohlhaas kann man unendlich viel sagen, ich belasse es lieber bei dem kurzen Stück unten, verbunden mit einer heftigen Leseempfehlung. Dem literarischen Schmuckstück kann, sollte man sich durchaus ab und zu aussetzen.

Auch der Roman von Daniel Mellem wäre eine eigene Buchvorstellung wert, seine Hauptfigur ist enervierend, unangenehm, faszinierend, genial, ein Sternengreifer, dessen vielschichtige Existenz die gewaltigen Umwälzungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts abbildet und eben auch das Schicksal eines Einzelnen, der seiner Zeit weit voraus ist und ihren sozialen und politischen Mechanismen zugleich hilflos (und eselig stur) gegenübersteht.

Mit Leonardo Paduras drittem Teil seines Havanna-Quartetts nehme ich meine Reise nach Cuba wieder auf. Bei diesem Werk lohnt es sich, das Nachwort vorher, nebenher oder nachher zu lesen. Ich habe es selten erlebt, wie ein paar Seiten einem Roman einen ungeheuren Glanz verleihen. Mit Petersons Vakuum geht es mal wieder in die Zukunft, wie schon Universum sehr unterhaltsam, originell strukturiert und Stoff zum Nachdenken gibt es auch. Danke noch mal an rezensionsnerdista für ihren Hinweis auf den Autor – Blogs lesen lohnt sich eben doch!

Wo ich schon einmal dabei bin: Dank des wunderbaren Buchblogs horatio-buecher bin ich auf Alida Bremers tolles Buch aufmerksam geworden – sie reiht sich ein in die Schar jener, die Wurzeln außerhalb Deutschlands haben und die deutsche Literatur mit ganz anderen Geschichten reicher machen, wie Stanišić, Haratischwili, Marinić, Ohde, Rávik-Strubel und viele mehr. Und Dubois? Prix-Goncourt!

Daniel Mellem: Die Erfindung des Countdown

Der Roman holt weit aus, führt den Leser zunächst in die Kindheit des Protagonisten, schildert ein wohlbekanntes Motiv, nämlich des unangepassten, aneckenden Kindes, das sich den engen Grenzen des Daseins nicht fügen will. Die Generation, der Hermann Oberth angehört, erfährt die Urkatastrophe des Ersten Weltkrieges am eigenen Leib. Der Bruder stirbt an der Front, und die Idee wird geboren, Kriege mit Hilfe einer Super-Raketen-Waffe unmöglich zu machen. Die Naivität ist ein Grund dafür, warum Oberth an den charismatischen Wernher von Braun gerät, und beide den Weg in die Finsternis beschreiten, an deren Ende eine Vergeltungswaffe steht. Während Millionen während des Gemetzels in den Tod gehen, endet Oberths Leben nicht, im Nachkriegsdeutschland und den Sieger-USA hinterlässt er Spuren.

Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas

Die Erzählung gehört zu den Texten, die ich am häufigsten (wieder-)gelesen habe. Je älter ich werde, desto besser gefällt sie mir. Erzählerisch ist es ein großes Werk, die Wechsel in der Dynamik, durch die Kleist die Aufmerksamkeit seiner Leser auf bestimmte Dinge richtet und von anderen fernhält, gehört für mich zu ganz großer Kunst. Früher habe ich mehr den Zorn verspürt und – Kohlhaas zwischenzeitliche Demut – nicht recht nachvollziehen können. Jetzt finde ich gerade diese Passagen, in denen Kleinigkeiten oder Zufälle (im Sinne von Max Frisch) dafür sorgen, dass alles in einem gewaltigen Desaster endet, zu den spannendsten. Der Einzelne im Mahlstrom der Macht. Zermalmt.

Leonardo Padura: Labyrinth der Masken

Ich mag keine Krimis, aber Bücher, die so tun als wären sie Krimis und in dieser populären Kulisse ganz andere Dinge erzählen. So ist das in den meisten Werken des cubanischen Autors Leonardo Padura, ganz besonders auch in diesem. Der Leser kann dem Abgründigen nicht entkommen, denn Padura zerbricht mit stilistischen Mitteln den Lesefluss. Er lässt ganz gezielt die Gesprächspartner des Ermittlers ungewöhnlich ausführlich erzählen, wo in diesem Genre gewöhnlich Dialoge die Last der Handlung tragen. Bei der Suche nach einem Mörder wird das sozialistische System bloßgestellt, seine menschenverachtende Homophobie und die Folgen für die Betroffenen, die zum Schweigen gebracht und gebrochen werden.

Ausführliche Buchvorstellung: Labyrinth der Masken

Phillip P. Peterson: Vakuum

Ein Roman über das Nichts? Schlimmer noch, doch das wird jetzt nicht verraten. Zwar ist von Beginn an klar, dass etwas äußerst Gefährliches droht, eine totale Katastrophe, aber was und wie entfaltet sich auf eine schön konzipierte und spannende Weise, die ich nicht spoilern möchte. Ungewöhnlich ist der Roman wegen der Grenzüberschreitungen im Genre. Ja, Science Fiction, aber eben auch eine Art Dystopie, angereichert mit einer zweiten, im Umfang kleineren, aber für die gesamte Geschichte hochwichtigen und interessanten Erzähllinie auf eine anderen Zeitebene. Etwas verdruckst ausgedrückt, man möge es mir verzeihen – aber ich möchte das wirklich nicht verraten. Die Ereignisse sieht Peterson teilweise etwas optimistischer als ich es für den Fall tun würde; wunderbar, denn das gibt Stoff, über die reine Unterhaltung hinaus etwas nachzudenken. Wer sich nur unterhalten möchte – das kann auch das “Nichts”.

Ausführliche Buchvorstellung: Vakuum

Alida Bremer: Träume und Kulissen

Man könnte den Roman für einen Krimi in wundervoller Mittelmeer-Atmosphäre halten. Ja, es gibt einen Toten, die blaue Adria, Mahlzeiten, die von den Zutaten definitiv das Attribut “mediterran” verdienen, einen Polizisten, der sich auf die Spur begibt und mit allerlei Menschen dieser Stadt namens Split in einem Landstrich namens Dalmatien spricht, die tatsächlich ein wunderliches Durcheinander an Herkommen und Dasein bildet. Doch 1936 tobt bereits der Abessinienkrieg (wetten, Sie wissen davon nichts!), Deutschland rüstet und bricht den Versailler Vertrag, in der Ukraine sind Millionen verhungert (auch damals gab es Verharmloser), Juden werden im Nazi-Reich gepeinigt, politische Flüchtlinge sind in der Stadt, Schlepper machen mit ihnen Geld und Nationalisten, Faschisten und andere Extremisten laufen sich warm. Ja, das Unheil, von dem wir Nachgeborene wissen, lässt Idyll und Leser frösteln.

Ausführliche Buchvorstellung: Träume und Kulissen

Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

Dieser Roman hat den Prix Goncourt erhalten, ein Literaturpreis, der mich bislang nur ein einziges Mal enttäuscht hat (Leïla Slimani: Dann schlaf auch du). Es sagt eine Menge, dass auch dieser Roman trotz der Enttäuschung absolut lesenswert ist. Wie bei – fast – allen Preisträgern ist die Sprache herausragend! So viele wunderbare Sprachbilder, ein Fest treffender Ausdrücke. Und der Inhalt? Paul, der Ich-Erzähler, sitzt im Gefängnis, anders als bei Grass´ Blechtrommel kann er nicht in Ruhe schreiben, sein Zellgenosse ist ein mörderischer Rocker, die Zustände in der winzigen Zelle und dem Gefängnis sind erbärmlich. In langen Schleifen wird der Werdegang Pauls, seine ungewöhnliche Herkunft und sein Leben geschildert, auf eine spektakuläre Weise unscheinbar und dennoch mit einiger Wucht auf üble soziale Schieflagen zielend. Und das ist eine der zentralen Zielrichtungen des Romans – eine beißende Kritik an den unmenschlichen Auswüchsen des Kapitalismus.

Ausführliche Buchvorstellung: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise.