Drei Bücher dieses Lesemonats haben einen ähnlichen Wesenskern: Sie befassen sich in autofiktionaler Manier mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Protagonisten und ihre Familien. Jedes Buch unternimmt das auf eine sehr eigene Weise, was allein wegen des Blickwinkels kein Wunder ist: Während Andreas Fischer mit Die Königin von Troisdorf die deutsche (Nachkriegs-)Perspektive im Fokus hat, dreht sich Stefan Hertmans’ Der Aufgang* um den aus Belgien stammenden Kollaborateur Willem Verhulst; die Familie im Der Stammhalter* von Alexander Münninghoff stammt aus der Niederlanden, ist vor Kriegsausbruch im Baltikum ansässig und kehrt in die Niederlande zurück.
Mich haben alle drei Bücher fasziniert. Sie machen fühlbar, wie sehr der Zweite Weltkrieg die Verhältnisse in Europa umgewälzt hat, wie tiefgreifend die Folgen gewesen sind und dass nach dem letzten Schuss nicht alles »vorbei« war. Alexis Jenni hat es in seinem großen Roman Die französische Kunst des Krieges so formuliert: »Die Stille nach dem Krieg ist immer noch Krieg.« Das haben die folgenden Generationen zu spüren bekommen.
Auch Garten der Engel* von David Hewson führt in den Zweiten Weltkrieg, nach Venedig im Jahr 1943. Nachdem das Land die Seite gewechselt hat, weht durch die von der Wehrmacht besetzten Gebiete ein rauer Wind; den Bürgern jüdischen Glaubens droht die Vernichtung in den Blutmühlen des Naziregimes. Hewson strickt darum einen fesselnden Roman, der – trotz kleiner Schwächen – unbedingt lesenswert ist.
Das gilt auch für Serhij Zhadans Himmel über Charkiw. Kurz gesagt: Beeindruckende Impressionen aus der Frontstadt in der Ukraine aus den ersten Wochen des russländischen Überfalls. Das ist auch das Thema von Christoph Brumme, der deutsche Schriftsteller lebt in Poltava, unweit Charkiws, und schreibt wegen seiner Herkunft auch mit einem scharfen Blick in seine alte Heimat. Im Schatten des Krieges* lebt es sich wesentlich unbequemer als auf dem Sofa der Selbstgefälligkeit.
George Orwell ist vor allem durch seinen epochalen Roman 1984 berühmt und bekannt; doch hat er auch viel im journalistischen Bereich publiziert, unter anderem auch Beiträge, die in den Wochen und Monaten um die deutsche Kapitulation 1945 herum entstanden sind. Diese finden sich in dem kurzen Büchlein Reise durch Ruinen und sind bis heute sehr lesenswert; wie auch das vorzügliche Nachwort von Volker Ullrich.
Ab und zu behaupte ich, dass ich Krimis nicht gern läse. Stimmt nicht, denn das betrifft nur wirkliche Kriminalfälle á la Tatort; whodunit interessiert mich meistens nicht, es sei denn, es geht in dem entsprechenden Roman um mehr. So verhält es sich bei den Büchern von Tony Hillerman. In Blinde Augen* geht die Navajo-Police wieder auf Verbrecher-Jagd, ganz wunderbar werden Fall und Aufklärung mit Mystik und Kultur der Navajo verbunden, aber auch mit dem Genozid an den indianischen Gemeinschaften. Sehr spannend ist es obendrein.
Differenziert und wohltuend unaufgeregt setzt sich Jens Balzer mit dem Thema Appropriation auseinander und entwickelt einen eigenen Ansatz, mit dem Thema umzugehen. Seiner Ethik der Appropriation kann man folgen oder nicht, jedenfalls ist der Leser nach der Lektüre um einiges klüger. Erfreulich: Balzer unterstreicht, dass jenes aktivistische Eintreten für die historisch Geknechteten einen imperialen, kolonialistischen Gestus beinhaltet. So ist es.
Ich mag keine programmatische Literatur, aus gutem Grund. Pantopia von Theresa Hanning liegt eine tolle Idee zugrunde, die jedoch mit Beton an den Füßen ins tiefe Wasser stolpert und absäuft. Teile dieses Romans klingen wie Parteitagsreden, die beiden Hauptfiguren wirken ebenso künstlich und unwirklich, die Pläne oft naiv, die Gegenspieler sind keine Lichtgestalten und irgendwie schummelt sich die Handlung märchenhaft zum Ende hin durch. Ich habe beim Hören oft gedacht, hoffentlich wird das niemals Wirklichkeit und leider nicht abgebrochen.
Da war ich in einem anderen Fall klüger. Schon nach wenigen Seiten war die tänzelnde, selbstverliebte Sprache nicht auszuhalten. Also ging ich nicht mit auf die Afghanische Reise von Roger Willemsen.
Blog-Monat
Auf meinem Blog gibt es eine Schlagwortwolke. Ich mag das sehr, auch wenn die graphische Umsetzung etwas schlicht daherkommt. Die Wolke aus Schlagworten lädt zum Stöbern ein, außerdem gibt sie Auskunft über die inhaltlichen Schwerpunkte der Bücher, die von mir vorgestellt werden.
Wenig verwunderlich steht Historischer Roman ganz oben, Politik, Sachbuch, Deutschland, Frankreich und USA sowie Zweiter Weltkrieg gehören auch zu den von mir am häufigsten verwendeten. Tatsächlich ist das der Kern dessen, was in vielen Romanen und Sachbüchern eine wesentliche Rolle spielt.
Die Wolke zeigt aber auch, dass diese Kernbegriffe umgeben sind von einem Schwarm an Schlagwörtern, die auf eine gewissen thematische Breite hinweisen und trotzdem in irgendeiner Weise in das Gravitationsfeld meiner Kernthemen gehören.
Neu sind drei Schlagworte: Familienroman, Generationenroman und Nachkriegsstille. Zuletzt habe ich eine Reihe von Büchern gelesen, die alle drei Aspekte miteinander vereinen: Aufgang, Der Stammhalter, Die Königin von Troisdorf, Garten der Engel – aber auch andere, wie Die Detektive vom Bhoot-Basar oder Der Gesang der Berge, die in Indien bzw. Vietnam spielen.
Familien und Geschichten, die mehrere Generationen betreffen, gibt es rund um den Globus; doch auch das, was ich Nachkriegsstille getauft habe, ist überall anzutreffen. Das Wort geht auf den bereits genannten Satz aus dem Roman Die Französische Kunst der Krieges von Alexis Jenni zurück, der sagt, die Stille nach dem Krieg sei immer noch Krieg.
Nachkriegsstille bestimmt die Zukunft
Wie sehr das stimmt und wie weit diese Nachkriegsstille reicht, wie sehr sie das Schicksal von Generationen nach dem Ende der Kampfhandlungen noch beeinflusst, zeigen diese Bücher eindringlich. Da wir Zeitgenossen eines großen, blutigen Angriffs- und Vernichtungskrieges sind, in der Russland seine brutale imperialistische Tradition fortführt, ist das Thema von beunruhigender Brisanz.
Trotz aller Zuversicht, dass die Streitkräfte der Ukraine letztlich den militärischen Sieg von Putins Russland zu verhindern und selbst triumphieren, wird es ein Verlust sein. Es geht dabei keineswegs nur um die ohnehin dramatischen materiellen Schäden, die in der Ukraine angerichtet wurden, sondern auch die immateriellen, die viel länger und ärger wirken werden.
Und das ist auch eine – sicherlich unangenehme – Lehre aus der Nachkriegsstille. Russland wird nur im Falle einer vollständigen Niederlage überhaupt in der Lage sein, wie Deutschland nach 1945 einen neuen, friedlichen, demokratischen Weg zu beschreiten. Erst der völlige Bankrott der imperialen putinistischen Ideologie wird das Fundament bilden.
Denn: 1939 hat Deutschland Polen nicht allein zerstört, auch die Sowjetunion, in deren direkter Nachfolge Putin Russland stellt, war mit dabei; sie hat Finnland angegriffen, Bessarabien besetzt und auch das Baltikum. Deutschland war Hammer, die Sowjetunion der Amboss, zwischen denen Ostmitteleuropa zermalmt wurde. Dieses Erbe wirkt in Russland frei von jeglichem Verantwortungsgefühl bis heute.
Lesemagnet
Ganz besonders viel Aufmerksamkeit hat im Monat Mai meine Buchvorstellung zu Andreas Fischers Die Königin von Troisdorf erfahren, die am häufigsten von allen Beiträgen von den Besuchern meines Blogs angesteuert wurde. Unter den Sachbüchern fand der Atlas von Christian Grataloup: Geschichte der Welt die meiste Aufmerksamkeit.
Ein Dauerbrenner ist und bleibt mein Beitrag zu dem Roman Propaganda von Steffen Kopetzky, der drauf und dran ist, den bisherigen Leseliebling unter meinen Buchvorstellungen, Nicolas Mathieu, Wie später ihre Kinder, abzulösen. In einigen Wochen erscheint Kopetzkys neuer Roman, Damenopfer, den ich bereits lesen durfte. Die Buchbesprechung auf meinem Blog erfolgt im August.
[*=Rezensionsexemplar]
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