Neun Bücher im September 2023, quer durch die Genres; herausragend die Biographie zu Wolfgang Herrndorf. Bei Gelgenheit werfe ich einen Blick auf die Longlist des Deutschen Buchpreises, in dem mir vor allem eine große Leerstelle aufstößt. Cover beim jeweilgen Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Eigentlich wollte ich den Kometen übergehen und auf die vielen andern Facetten von Wolfgang Herrndorfs Leben (Malerei, Kindheit als Hochbegabter, Scheitern in Nürnberg, Internet-Bewohner etc.) fokussieren, doch das geht nicht. Die Diagnose der tödlichen und unheilbaren Erkrankung lässt das schlichtweg nicht zu; wenn der Komet eingeschlagen ist, ändert sich buchstäblich alles. Tobias Rüther hat in seiner Biographie Herrndorf* auf eine sehr gut lesbare und verständliche Weise den Lebensweg des Schriftstellers nachgezeichnet, unprätentiös und auf eine dem Autor zugewandte Weise. Für Leser Wolfgang Herrndorfs ein Muss; für alle anderen auch.

Diagnose und Symptome werden in Krise der Narration von Byung-Chul Han wunderbar, wenn auch ein wenig redundant ausgebreitet – was aber ist mit der Therapie? Was heißt eigentlich Erzählen? Der Autor bleibt letztlich die Erklärung schuldig. Möglicherweise gibt es auf diese Frage auch keine allgemeine, sondern nur persönliche, individuelle Antworten. Es finden sich aber sehr treffende Sätze in diesem Buch. Ein Beispiel: „Narrative sind wirksamer als bloße Fakten oder Zahlen, weil sie Emotionen auslösen.“ Trump erklärt, in einem Satz. Allein deswegen ist das Buch lesenswert, auch wenn der Autor die Grenze zur abgrundtief verhassten Esoterik ein- oder zweimal touchiert. Das tut dem Rest aber keinen Abbruch. Bei Kommunikatives Lesen findet sich eine detaillierte, kritische Besprechung.

Der Protagonist in Schwüle Tage von Eduard von Keyserling ist umstellt von hochbusigen Verlockungen und kann nicht, darf nicht. Die Mägde bewundern die Hände des „Jungherrn“, gehen aber mit den Knechten ins Heu. Das ins Unbestimmte gleitende Bedürfnis, irgendetwas tun zu müssen, die schwer lastende Atmosphäre fängt Keyserling ganz wunderbar ein. Eine schöne Erzählung über das adoleszente Begehren, sie steht am Anfang eines Erzählungsbandes, der bei Buchwolf besprochen wird.

Trotz des Titels ist Eine Formalie in Kiew kein Buch über den russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Es ist im Kern eine Migrations- und Familiengeschichte, die Dimitrij Kapitelman in einer sehr unterhaltsamen Weise erzählt. Allein die kruden Wortneuschöpfungen, mit denen er alles mögliche gekonnt aufs Korn nimmt, sorgen für manchen Lacher. Doch wird auch deutlich, dass Migration eben mehr ist als „Auswandern“, und dumpfbackiger Polit-Populismus mit Realitäten nichts gemein hat.

Ganz sicher ist Ich höre keine Sirenen mehr* ein Buch über den russländischen Krieg gegen die Ukraine und zwar ein ganz besonders gelungenes: Autor Daniel Schulz widmet sich dem Alltag im Krieg und rückt damit die Zivilgesellschaft ins Bild. Die hat sich bemerkenswert resilent gezeigt und einen erheblichen Anteil am Erfolg der Ukraine. Schulz liefert unmittelbare Impressionen, lässt die Betroffenen zu Wort kommen und das auf eine lobenswert journalistisch-kritische Weise.

Urban Fantasy ist das Genre, zu dem ich aus Unterhaltungszwecken greife. Der Magier von London von Benedict Jacka erfüllt diese Aufgabe ganz vorzüglich. Der dritte Teil der Buchreihe um den Magier Alex Verus macht einfach Spaß, die Balance, aus den Vorgängern das Nötige fortzuführen und doch Neues zu präsentieren, ist gelungen. Hier entfaltet sich peu á peu ein grausames Geheimnis, Anklänge an einen Krimi sind unübersehbar – aber einen mit Magie und Witz.

Literatur ist für mich auch immer ein Weg, Neuland zu betreten. Stephan Thome führt den Leser mit Pflaumenregen nach Taiwan, dessen Gegenwart und vor allem Geschichte in Form einer Familiengeschichte erzählt wird. Die Kolonialzeit und der Zweite Weltkrieg sowie die unmittelbare Nachkriegszeit Taiwans hinterlassen Spuren bis in die Gegenwart, in der die Insel von China in ihrer Existenz bedroht wird. Thome erzählt das auf eine sehr angenehme, unaufgeregte Weise, die Lektüre macht einfach Spaß. Sehr schön & ausführlich besprochen bei Literaturreich.

Was für ein wildes Buch! Der Elsinor-Verlag hat seine Reihe um Klassiker aus dem Krimi-Segment um ein ganz besonderes Exemplar erweitert: A.D.G. Die Nacht der kranken Hunde*. Es geht aufs Land, in Frankreich – und wer denkt da nicht an das berühmte Dorf? Tatsächlich erinnert die Figurenschar an die Gallier, allerdings ohne deren herzliche Freundlichkeit. Hippies nisten sich nahe dem Dorf ein, ein Tod setzt schließlich eine Entwicklung in Gang, die in ein turbulentes, Chaos mündet, alles umwirkt vom Flor des Anarchismus.

Die Fotos des Kriegsfotographen Robert Capa sind weltberühmt, doch wie steht es um sein Leben? Die Graphic-Biography Capa von Florent Silloray widmet sich dem Lebenswerk Capas, der bürgerlich Endre Friedman hieß. Die Stationen, die ihn aus bitterer Armut zu Weltruhm führten, werden nachgezeichnet, die Schattenseiten seines Lebens werden nicht ausgeblendet, auch der bis zu seinem frühen Tod in Indochina nachwirkende Schock über den Tod Gerdas wird nicht übergangen.

Bloggestöber

Nach zwei Jahren Buchbloggen habe ich gelernt: Es ist unvorhersagbar, welcher Buchtitel auf Interesse stößt und welcher nicht. Im September gab es eine große Überraschung, denn die Tagebücher 1939-1945 von Hermann Stresau haben mit großem Abstand das meiste Interesse auf sich gezogen. Was ein kleiner Link auf einem anderen Buch-Blog nicht alles anrichten kann.

Mich freut das, denn Stresaus Als lebe man unter Vorbehalt* sind ungeheuer zeitgemäß. In den Tagebüchern, Aufzeichnungen und Berichten, die ich gegenwärtig aus der Ukraine und Russland lese, tauchen Motive wieder auf, die sich auch bei Stresau finden. Kleinigkeiten, wie das Ignorieren des Luftalarms, Grundlegendes wie die innere Zerrissenheit, die Erschöpfung, der Kampf um ein Stück Alltag im Krieg – alles schon einmal dagewesen und zurückgekehrt.

Ebenso erfreulich ist, dass der Beitrag über Die Nacht der kranken Hunde* von A.D.G. viel Aufmerksamkeit erhalten hat, ein Country-Noir-Klassiker in der wunderbaren Reihe des Elsinor-Verlages. Es gibt keinen ehrenhaften Abgang aus einem verbrecherischen Krieg, das haben die Franzosen in Vietnam (später auch die USA) am eigenen Leibe spüren müssen. Mein Blogbeitrag zu Éric Vuillards Ein ehrenhafter Abgang* wurde im September am dritthäufigsten angesteuert.

Neues gibt es auch von meiner Arbeit als Schrifsteller: Der zweite Band meiner Piratenbrüder-Buchreihe ist veröffentlicht, Chatou heißt der Teil.

Es geht rund: Hochspannung, Komik, Dramatik – Joshua und Jeremiah kämpfen einen schier aussichtslosen Kampf um das Leben ihrer Freunde und geraten dabei selbst in tödliche Gefahr.

Eine Longlist mit Leerstelle

Krieg? Welcher Krieg? Pssst! Du darfst das Wort nicht verwenden! Es kostet dich Reichweite. Schreibe lieber Kr*eg, dann merkt es der Algorithmus nicht und der Leser weiß dennoch, von was die Rede ist.

Die Schere im Kopf ist zurück.

Aber zurück zum Krieg. KRIEG! Man könnte auch in anderer Hinsicht meinen, es gäbe keinen. Wer einen Blick in die Longlist des Deutschen Buchpreises wirft, wird vergeblich einen Roman suchen, der den russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine thematisiert. Oder etwas in dessen Peripherie – Belarus vielleicht, Flüchtlinge, Oligarchen, fröhliche Z-Krieger im ach so verhassten Westen.

Nichts.

Das heißt nicht, dass die Themen, die von den Romanen auf der Longlist behandelt werden, sämtlich uninteressant wären, ganz im Gegenteil: NSU-Komplex oder die Sirenenklängen des so genannten Islamischen Staats; Historisches, das den Leser in die unmittelbare Zeit vor der Urkatastrophe Europas führen; Migration – ein wichtiges Dauerthema in Deutschland.

Eine Abwertung der Romane und ihre Inhalte liegt mir fern, ich ziele auf die Leerstelle ab, die ich persönlich als ebenso schmerzlich wie bezeichnend finde. Im Grunde genommen ist der verbrecherische Angriffskrieg Russlands kein Thema, man hat es sich eingerichtet zwischen billigem Gas aus Putins Reich, dem militärischen Schutz der USA und Stillstandsverwaltung; in der Komfortzone ruht der Blick bequem auf sich selbst.

Putin? Im vergangenen Jahr hatte man hierzulande wenigstens Serhi Zhadan den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zugesprochen, sein Roman Internat ist thematisch, sprachlich und in seiner Konzeption überragend. In Frankreich hat man Guliano da Empolis Der Magier im Kreml immerhin ausgezeichnet, wenn auch nicht mit dem Prix Goncourt, für den ein Werk autofiktionaler Eigenfokussierung gewählt wurde. Als gäbe es keine Welt außerhalb der eigenen und würde diese nicht längst davon massiv beeinflusst.

Das spielt aber in den Romanen der Buchpreislonglist gar keine Rolle, ebensowenig in der Rezeption. Andere Dinge machen die Musik. Ein willkürliches Bespiel. Die taz etwa kümmert das Geschlecht der sechs Autoren, die auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gekommen sind. Die Shortlist wäre »geradezu passgenau um die Figur des älteren weißen männlichen Autors herumgebaut

Was soll das? Warum nicht gleich darauf verweisen, dass die Nachnamen mit dem Anfangsbuchstaben A-M auf der Shortlist marginalisiert werden?

Literatur-Preise werden nie nach literarischer Qualität vergeben. Das ist auch völlig in Ordnung. Insofern sind diese Preise auch Gradmesser für das, was dem Publikum als zeitgemäß präsentiert wird. Als Indikator für die weltabgewandte Lese- und vielleicht auch Leseweise ist die Longlist des Deutschen Buchpreises dank der Leerstelle bezüglich des wichtigsten Themas unserer Tage eine Schande.

*Rezensionsexemplar