Schriftsteller - Buchblogger

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Blogmonat November 2024

Gleich zwei Kandidaten für meine Auswahl »Bücher des Jahres 2024« habe ich im November ausgelesen, Grenzfahrt und Die Achse der Autokraten. Christopher Clarks großartiges Buch über Preußen war ein Genuss, Hillermans Navajo-Police ist eine Bank.

Der Wahlkampf in Deutschland läuft, die arg ins Straucheln geratene, tief gespaltene und in Teilen kurios gebärdende SPD macht sich daran, dass verbliebene Stimmvolk zu umgarnen. Die Pro-Ukraine-Fraktion wurde ausgedünnt und ein Ex-Fossil-Lobbyist exhumiert, der seinen politischen Ruhestand durch fortgesetzte Anbändelei mit einem diktatorischen Verbrecher versüßt hat.

Nach der »Klima-Kanzler«-Groteske von 2021 folgt nun also ein Angstwahlkampf um den »Friedens-Kanzler«. Die Realitäten, so bitter und schmerzlich sie sein mögen, werden durch Nebelwerfen und Sand-in-die-Augen-streuen verwischt, auf dem Rücken der Ukrainer, die sich nun schon fast drei Jahre gegen Russland wehren. Das wird sich bitter rächen. Das hätte es schon einmal, wenn man auf die Friedens-Schwärmer in den 1930er Jahren gehört hätte.

Hitler wollte Krieg. Trotz der bereits begangenen Verbrechen und diktatorischen Maßnahmen, dem Landraub und Bruch von Völkerrecht, der Unterstützung Francos im Spanischen Bürgerkrieg, trotz des Überfalls auf Polen und der unsäglichen Gräueltaten, die selbst deutsche Soldaten erschütterten (Wilm Hosenfeld) gab es im Oktober 1939 in den USA Diskussionen um Waffenlieferungen an England. Kommt bekannt vor? Ein kurzer und prägnanter Beitrag dazu unter dem Titel Stoppt die Waffenlieferungen! auf dem Blog Aisthesis.

Die heutigen Realitäten werden auch von anderen mit recht schonungsloser Offenheit beschrieben. Wer von einem »eingefrorenen Konflikt« salbadert, macht sich zum Propaganda-Knecht. Acht Jahre haben die Menschen im Osten der Ukraine in einem solchen Zustand gelebt, der eben doch ein Krieg war und nichts anderes. Man kann davor die Augen verschließen oder einmal die Betroffenen zur Wort kommen lassen. Internat von Serhij Zhadan schildert einen vor sich hin köchelnden Krieg besonders eindringlich.

Der Krieg würde weitergehen, denn Putin führt nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen den Westen Krieg.  Er wird nicht aufhören. An der Seite des Kreml-Herrschers steht eine ganze Riege von Autokraten, die sich gegenseitig unterstützen. Seit dem 05. November 2024 ist der Schatten der Tyrannei noch ein gutes Stück dunkler geworden, doch auch vorher haben viele Bewohner des Westens keine allzu rühmliche Rolle gespielt. Sie sind Steigbügelhalter geworden, wie Anne Applebaum in ihrem ganz vorzüglichen Buch Die Achse der Autokraten aufzeigt.

Das Buch Applebaums macht auch wenig Hoffnung für den Wahlkampf in Deutschland. Schmutzkampagnen sind sehr wirkungsvoll, in Autokratien wie auch in Demokratien (die vielleicht einmal Autokratie werden wollen). Wir erleben das tagtäglich, die Folgen zeigen sich bereits in den Umfragen. Die Kampagnen werden an Schärfe zunehmen. Leider sind die Gegenmittel schwach, Faktenchecks wirkungslos; wenn die Lüge in der Welt ist, bleibt sie dort.

Hinwegträumen lässt sich das alles nicht. 

Aktuell bin ich noch mit »Verräter« – Piratenbrüder Band 6 beschäftigt, das auf die Zielgerade eingebogen ist. Gedanklich beschäftige ich mich schon mit der Zeit danach. Es wird ein Sequel geben, wie ich es beim Schreiben von »Vinland « – Piratenbrüder Band 4 von Anfang an erwogen hatte. Mehr dazu habe ich in einem Blogbeitrag geschildert.

Kurzbesprechung der November-Bücher

Joe Leaphorn und Jim Chee ermitteln gemeinsam! Tony Hillerman setzt das Aufeinandertreffen der beiden Navajo-Polizisten großartig in Szene, indem er die erste Begegnung in sechsten Teil der Buchreihe um die Navajo-Police  einfach überspringt. Die Begegnung der bis dahin allein ermittelnden Polizisten wird auch überraschend eingeleitet. So viel darf verraten werden, denn gemessen am Rest, den Stunde der Skinwalker zu bieten hat, ist das letztlich eine Petitesse. Die »Skinwalker«, also »Hexer«, sind viel mehr als nur folkloristisches Beiwerk für einen Kriminalfall. Wie schon in den Vorgängerbänden führen die geisterhaften Schrecken direkt hinein in die Suche nach Motiven, erschweren zugleich die Aufklärung der Verbrechen und betreffen einen der beiden Ermittler auch persönlich.

Eduard von Keyserling gilt als vergessener Schriftsteller aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Klaus Modick habe ich es zu verdanken, dass ich gelegentlich eines seiner Werke lese: Der Roman Keyserlings Geheimnis hat mir die Person des Erzählers und sein interessantes künstlerisches Umfeld sowie die bemerkenswerte Herkunft aus einer von der Zeit verschluckten Community (Deutschbalten) nähergebracht. Seine Erzählung Am Südhang liest sich in jeder Hinsicht typisch, ein zum Leutnant beförderter Adeliger kehrt in seiner Heimat aufs Land zurück. Neben der Familie, Erinnerrungen  und dem Sommer erwarten ihn eine von ihm verehrte Frau und ein Duell. Ein kleiner literarischer Genusshappen für zwischendurch.

Mit dem von mir sehr geschätzten Historiker Christopher Clark habe ich mich auf eine lange Reise durch die Geschichte Preußens begeben. Sein umfangreiches Buch Preußen – Aufstieg und Niedergang 1600 bis 1945 bietet nicht nur in geballter Form zahlreiche Informationen über diesen höchst merkwürdigen Staat, sondern räumt auch mit einer ganzen Reihe von hartnäckigen Mythen auf. Wie schon in Die Schlafwandler und Frühling der Revolution erzählt Clark mit einer erfreulichen Klarheit, ohne gewundenes Gelehrten-Gedröhn. Bei einem derart ausgreifenden Unternehmen muss zwangsweise die nötige Tiefe fehlen, sonst wäre das Buch unlesbar. Doch ist es ein vorzüglicher Schmöker, weil es sich auf das Wesentliche beschränkt und – ganz wichtig – nicht nur auf die Zeit nach 1914 fokussiert bleibt, sondern die lange Entwicklung beschreibt. Clarks zentrale These lautet: Deutschland sei nicht die Vollendung Preußens, sondern sein Verhängnis gewesen.

Was für ein Schatz! Es ist das Jahr 1941, Spätfrühling, Ende Mai oder Anfang Juni. Ein Fluss in Polen trennt Wehrmacht und Rote Armee, rollende Kolonnen zeugen vom dräuenden Unheil des Vernichtungskrieges. Diese Grenze wird von einem Mann in beide Richtungen überschritten, er transportiert Flüchtlinge, Schmuggler und Partisanen. Wechselnde Perspektiven in der Vergangenheit sowie ein Erzähler mit seinem dementen Vater in der Gegenwart machen den Roman Grenzfluss von Andrzej Stasiuk ebenso spannend wie herausfordernd, sprachlich und atmosphärisch brillant. Es erzählt von jenen, die in den Bloodlands zwischen Hammer und Amboss gerieten, aber auch davon, was erinnert wurde und was verschwiegen aus der Zeit des Krieges. Eines meiner »Bücher des Jahres« 2024.

Das zweite Buch von Anne Applebaum in diesem Jahr. Nach Die Verlockung des Autoritären geht es nun um Die Achse der Autokraten. Wieder scheut die Autorin die klare, zugespitzte Sprache nicht, was die Lektüre angenehm eindeutig macht. Sie nennt Ross und Reiter, die Liste der Autokraten und ihrer Helfer in den demokratischen Ländern ist lang. Es ist das Gegenteil eingetreten, was man sich unter Demokraten Anfang der 1990er Jahre ausgemalt hatte. Statt einer globalen Demokratisierungswelle rollt eine autokratische Gegenreformation. Aufstände, Demokratiebewegungen und Modernisierung werden ebenso gnadenlos wie effizient unterdrückt. Warum das so ist und was man dagegen tun könnte und müsste, schildert Applebaum mit schonungsloser Offenheit. Es wird eine Dauerschlacht bergan, nicht erst seit dem 05. November 2024.

Der Dystopie-Roman Born von Kris Brynn enttäuscht. Ein Thriller, wie ihn die Gattungsbezeichnung verspricht, ist Born nicht, die Handlung ist recht dynamisch und wendungsreich, aber der Thrill will sich nicht einstellen. Immerhin ist die Welt, in der Taxifahrerin Nalani unterwegs ist, durchaus interessant angelegt und böte die nötigen inhaltlichen Schwungräder für die Erzählung; sie bleiben ungenutzt. Sehr schön ist das Hologramm auf dem Beifahrersitz gelungen, Fergus sorgt für Komik und groteske Dialoge. Einige andere Figuren wirken gegenüber dem Hologramm eher wie Skizzen, denen man ihre Handlungsweise und Persönlichkeit nicht recht abnehmen möchte. Verschenktes Potenzial.

Blog-Gestöber

Vor einigen Jahrzehnten habe ich ihn gelesen, den Roman Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin. Es wird allerhöchste Zeit, sich das Buch wieder einmal vorzunehmen, das hat mir nicht zuletzt der schöne Beitrag von Julian Zündorf auf seinem Blog lectorinfabula gezeigt. Sein Beitrag Biberkopf in Babylon ist ausgesprochen lesenswert. Zu meiner großen Freude habe ich dort auch einen Text über den Roman Wallenstein gelesen, denn die Abhandlung zu Berlin Alexanderplatz ist Teil eines Leseprojektes zu Döblin. Äußerst anregende Bloglektüre!

Von Virginia Woolfe habe ich noch nichts gelesen, eigentlich eine Schande. Auf einer meiner zahlreichen Lese-Listen steht ein Büchlein von ihr – über das Lesen. Nun hat mit der Blog-Beitrag Mrs. Dalloway auf den gleichnamigen Roman neugierig gemacht. Von den Referenz-Romanen sind mir Ulysses und Berlin Alexanderplatz bekannt, ich mochte beide sehr gern. Das wäre also eine weitere Möglichkeit, eine Lese-Lücke zu schließen. Ob ich mir den Roman im Original zutraue? Eher nicht.

Heilfroh bin ich, dass es so fleißige Bloggerinnen gibt, die über Buchmessen, Preisverleihungen und Lesungen schreiben. Wer etwas über die aktuell Literatur-Nobelpreisträgerin Han Kang und ihre Bücher erfahren möchte, wird bei literaturleuchtet fündig. Bei literaturreich gibt es einen schönen Bericht zur Frankfurter Buchmesse 2024. Ich war noch nie auf einer Buchmesse und bin immer wieder an Eindrücken interessiert.

Blogmonat Oktober 2024

Zwei ebenso interessante wie herausfordernde Erklärwerke unserer Gegenwart, ein brillanter Roman über Stan Laurel (und Oliver »Babe« Hardy), ein großartiger Villain, ein als Roman verkleideter Museumsrundgang sowie gruselige Zustände an europäischen Höfen. Lesemonat Oktober.

Ein unsterbliches Wesen könnte nicht frei sein.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Unsterblichkeit als Gefängniszelle. Was für ein Gedanke. Er steht im krassen Gegensatz zu den Bestrebungen, den Tod zu überwinden, wie sie auch in der Literatur immer mal wieder als Motiv auftauchen.

Das Thema Unsterblichkeit ist mir in Romanen mehrfach begegnet, in diversen Genres und auf unterschiedlichem Niveau. Da wäre zum Beispiel der Roman Alle Menschen sind sterblich von Simone de Beauvoir, den man durchaus in Snyders Sinne lesen kann. Der Unsterbliche ist unsterblich unglücklich, es wirkt tatsächlich wie eine Form der Unfreiheit, im Sinne des Zitats von Timothy Snyder. 

In der Weltraum Soap-Opera Perry Rhodan gibt es auch eine Gruppe Unsterblicher, die durch ein spezielles Gerät (Zellaktivator?!) diesen Status erreichen. In zwei (?) Heften wird das Schicksal eines Menschen geschildert, der zufällig an ein solches Gerät kommt und damit eine gnadenlose Hetzjagd auslöst. Unsterblich wird man erst nach einer gewissen Zeit, dann ist das Gerät nur noch von der jeweiligen Person benutzbar. Erst als er freiwillig den Zellaktivator abgibt, endet die Jagd und er ist »befreit«.

Dann wäre da noch die Urban-Fantasy-Reihe um den Magier Alex Verus. Im dritten Teil Der Magier von London versucht sich jemand daran, den Schlüssel zur Unsterblichkeit zu finden. Dabei geht die Person buchstäblich über Leichen und erntet letztlich nur Grauen. Das Schicksal erleiden auch die Protagonisten des historischen Roman Der eiserne Marquis von Thomas Willmann, in dem im 18. Jahrhundert ein Trio versucht, das Geheimnis des Lebens zu entschlüsseln, um den Tod zu überwinden.

Schließlich Tolkien mit seinem faszinierenden Buch Das Silmarillion. Die Elben beneiden die Menschen um ihre Sterblichkeit, das diese als Geschenk von Illuvatar erhalten hätten. Das finde ich bis heute einen spektakulären Gedanken, Snyder hat mit seiner Ansicht das Thema noch einmal bereichert und im Grunde genommen untermauert. Noch ein Grund, sein großartiges Sachbuch zu lesen.

Ein schöner Meilenstein im Oktober: 5.000 eBooks meiner Piratenbrüder wurden mittlerweile gekauft oder via Kindle Unlimited gelesen. Ein toller Moment, ich freue mich sehr, dass die Buchserie um Joshua und Jeremiah so viel Anklang findet.

Kurzbesprechung der Oktober-Bücher

Der fünfte Teil der Kriminal-Roman-Reihe um die Navajo-Police von Tony Hillerman so gut gelungen, dass ich heilfroh bin, gleich zum nächsten greifen zu können. In Gesang an die Geister* wird Officer Jim Chee mit einem merkwürdigen Verbrechen konfrontiert. Ein Mann wird vor einer Münzwäscherei niedergeschossen, der Schütze stirbt später selbst in einem Hogan; kurios, denn bei den Navajo gilt die Unterkunft fortan als Toten-Hogan, in dem ein chindi haust. Der Besitzer war vertraut mit den Gepflogenheiten der Navajo und hätte eigentlich dafür sorgen müssen, dass der Sterbende draußen verscheidet. Das Rätsel steht im Mittelpunkt der Ermittlungen, die Chee aus dem Navajo-Reservat nach Los Angeles führen und wieder zurück. Ein Umweg, aber nicht umsonst. Ganz besonders gefallen hat mir die Gestaltung des Antagonisten, eine authentische Verkörperung des Bösen, ein Vollstrecker, mit persönlicher Geschichte.

Da ist schon der nächste ganz heiße Kandidat für meine Bücher des Jahres 2024. Timothy Snyder hat mit seinem Über Freiheit* ein Werk verfasst, dass ausgehend von zum Teil sehr privaten Erlebnissen einen Bogen zu allgemeinen, menschlichen, politischen und philosophischen Fragen spannt. Das herausfordernde Buch geht der Frage nach, was Freiheit eigentlich ist. Der Begriff wird allzu oft gebraucht, er hat im Alltag mehr den Charakter einer hohlen Formel bekommen, die nach Belieben gebraucht wird. Dem stellt Snyder eine vielschichtige Annäherung entgegen, die dank ihre Gedankentiefe und Vernetzung mit politischen, historischen, aber auch gegenwärtigen Aspekten tatsächlich eine Orientierung in einer zunehmend als überfordernd empfundenen Welt bietet. Wer es liest, kommt gar nicht darum herum, über sich selbst nachzudenken. Daran ändern einzelne Aspekte, die Stirnrunzeln (ausgerechnet Kernfusion als Hoffnungsträger?) hervorrufen, nichts. Im Gegenteil.

Gut einhundert Seiten muss der Leser warten, bis Der Flakon in die Handlung eintritt. Bis dahin schildert der historische Roman von Hans Pleschinski die Irrungen und Wirrungen im von Preußen während des Siebenjährigen Krieges überfallenen Sachsen. Das ist alles sehr anschaulich erzählt, mutet aber ein wenig wie der Besuch eines Museums an, der von einem munteren Erzähler geleitet wird. Der Autor weiß, wovon er spricht, seine Sätze sind voller Esprit und trefflicher Formulierungen, doch würde dem Werk ein wenig mehr Fabulieren guttun. Dabei ist das Thema wirklich sehr interessant, auch überzeugt Pleschinski mit seiner Idee, dem einfältigen preußischen Militärabsolutismus die sächsische Lebensfreude und Vielfalt entgegenzustellen. An der Frage, was wäre im Falle einer Niederlage Preußens in diesem Krieg nicht alles verhindert worden, kommt man gar nicht vorüber. Es spricht auch nichts dagegen, solche Fragen in eine romanhaftere Handlung einzuweben.

Auch zweieinhalb Jahre nach dem Beginn des Vernichtungskrieges, den Russland unter brutaler Missachtung des Völker- und Kriegsrechts führt, und gut zehn Jahr nach der erstmaligen militärischen Intervention Russlands in der Ukraine (Krym, Donbas) herrscht in Deutschland noch immer geopolitische Traumtänzerei in weiten Teilen der Bevölkerung vor. Von politisch interessierten Kreisen wird das begierig aufgegriffen und instrumentalisiert, ohne die geringste Rücksichtnahme auf historische und gegenwärtige Realitäten. Als wäre das Wünschbare auch machbar, wird unbeirrt durch krachendes Scheitern an längst überkommenen Strategien festgehalten. Diese ideologischen Rettungsringe zur Wählergewinnung erweisen sich als dramatische Fehlschlüsse, Augenwischerei, wenn man Herfried Münklers Buch Welt in Aufruhr liest. Das dort zu Lesende ist viel zu komplex, um es hier in wenigen Sätzen auch nur anzureißen, daher belasse ich es dabei, auf die vorzügliche Zweckmäßigkeit des Werks beim Versuch einer außen- und geopolitischen Orientierung.

Schon auf der ersten Seite des Romans Stan von John Connolly gibt es eine Überraschung. Der Stil, den der Autor wählt, um sich dem großen Schauspieler Stan Laurel anzunähern, ist ungewöhnlich. Schlaglichter, oft gebrochen in Syntax und Satzbau, assoziativ, keinesfalls chronologisch angeordnet und doch schön zu lesen. Die Form unterstreicht, dass ein solches Unterfangen immer lückenhaft bleibt. Schon früh wird deutlich, dass ein Buch über Laurel zwangsläufig auch eines über Oliver Hardy ist, der Werdegang des kongenialen Kollegen wird immer wieder angerissen. Charlie Chaplin, Buster Keaton und Harold Lloyd spielen ebenfalls ihre Rolle. Beeindruckend ist Stan durch die schonungslose Darstellung der brutalen Lebenswelt der Bühnendarsteller und des frühen Filmgeschäfts. Da Connolly seinen Roman aus der Rückschau erzählt, lagert auf dem Erzählten von der ersten Seite an die Melancholie des Scheiterns. Großartig.

Man sollte sich von dem Klappentext („Tragische Schicksale hinter prunkvollen Fassaden“) nicht schrecken oder verlocken lassen: Ungeliebte Königin von Helga Thoma ist keine Gedöns-Literatur. Schwungvoll und zielstrebig lässt die Autorin den Leser an verschiedenen Werdegängen königlicher Ehefrauen teilhaben, beginnend bei den Gattinnen Heinrichs VIII. von England, den Gemahlinnen Karls II. Spaniens bis hin zu zu der Ehefrau von Alfons XII. von Spanien. Die Kapitel geben Aufschluss über das Treiben am Hof und wie in den Gespinsten des Zusammenlebens gefochten, gehasst und hintertrieben wurde. Das ist schon sehr interessant, wenn es etwa um Dinge wie vorgetäuschte Schwangerschaften und angebliche Fehlgeburten als Waffen im hofinternen Machtkampf geht. Stammtafeln, Literaturhinweise und ein Register der erwähnten Personen runden das informative Buch ab.

Bloggestöber

Vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine ist mir die Literatur aus dem größten europäischen Land bestenfalls in homöopathischen Dosen bekannt gewesen. Mehr als zwei Romane dürften es nicht gewesen sein, die ich von ukrainischen Schriftstellern (Zhadan und Andruchowytsch) bis zum Februar 2022 gelesen habe. Da Teile der Ukraine einige Zeit zu Österreich-Ungarn gehörten und während der Zeit der Sowjetunion keine Unterschiede gemacht wurden, ist es möglich, dass eigentlich noch jemand  hinzugerechnet werden müsste.

So oder so war es zu wenig, denn die politische Bedeutung der Ukraine war mir bereits vor mehr als zwanzig Jahren bewusst. Wie sehr Deutschland historisch in der Verantwortung gegenüber der Ukraine (sowie Polen, den baltischen Staaten, Belarus), nicht Russlands steht, hat mir Timothy Snyders Bloodlands vor Augen geführt. Bis heute wird das in weiten Teilen der Politik, insbesondere der SPD und CDU schlichtweg ignoriert, genauer gesagt: hinweggelogen. Von den Autoritären in diesem Land gar nicht zu reden.

Seit dem Angriffskrieg von Putins Russland hat sich mein Lesen geändert. Unter dem Schlagwort Ukraine Lesen habe ich schon eine ganze Reihe von Büchern von Ukrainern und über die Ukraine vorgestellt, neben fiktionalen Werken auch Erzählungen, Essays, Tagebücher, Kompendien und Monographien. Aber auch in diesem Segment schlägt der Zeitteufel zu, daher ist 2024 wenig dazugekommen: Märchen aus meinem Luftschutzkeller von OleksijTschupa,  Aus dem Nebel des Krieges von Mishenko / Rabe und Tagebuch einer Invasion  sowie Graue Bienen von Kurkow. Vom bekanntesten Schriftsteller der Ukraine folgt Im täglichen Krieg, der zweite Teil der Tagebücher über den Alltag im Krieg.

Wie gut, dass es auch andere Blogs gibt, die sich mit ukrainischer und osteuropäischer Literatur beschäftigen. Da wäre zum Beispiel Literatur über Osteuropa von Thomas Leurs, der regelmäßig Bücher vorstellt. Auf Zombie-Twitter ist Leurs aktiv und gibt regelmäßig Auskunft über interessante Neuerscheinungen. Auch wenn man davon nur einen Bruchteil selbst lesen kann, sind solche Informationen sinnvoll. Sie zeigen, wie vielgestaltig, kenntnisreich und differenziert über Osteuropa respektive die Ukraine geschrieben wird, fern von allem Geschwurbel der hiesigen Putin-Sprachrohre.

Blogmonat September 2024

Diesmal gab es keine Enttäuschung, dafür zwei ganz heiße Kandidaten für meine Bücher des Jahres 2024. Cover beim jeweiligen Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Der gerade ausklingende Monat September war ein schönes Echo des Sommers. Die Zeit ausgedehnter Hitze-Wanderungen in der Umgebung ist vorüber, die einmalige Erfahrung, die damit verbunden ist, existiert nur noch als Erinnerung und Vorfreude auf das nächste Jahr. Ich kenne tatsächlich keine andere Form des Draußen-Seins mit so viel Raum für ausschweifende Gedanken.

Während der langen Wanderungen habe ich mir vorgenommen, mich auch in meiner alltäglichen Arbeit stärker von einigen Gewohnheiten abzukoppeln, insbesondere vom Konsum der so genannten »Sozialen Medien«. Die Beschäftigung mit den Beiträgen kostet viel Zeit, Aufmerksamkeit und Energie, ohne auch nur entfernt etwas dem Aufwand Angemessenes zurückzugeben.

Ein weiterer Grund für meine wachsende Distanz zu Social Media ist der Tod von Twitter. Die in einen Hass-Zombie verwandelte Plattform war mir in ihrer alten Form die angenehmste, Ersatz gibt es bislang nicht. Threads ist unerträglich, Instagram wegen des Algorithmus nervig, Mastodon seltsam und BlueSky noch nicht so weit, dass es ein Ersatz sein könnte.

Kurz habe ich erwogen, meine Aktivitäten ganz einzustellen, das aber verworfen. So fahre ich zunächst fort, dort über neue Beiträge auf meinem Blog zu informieren. Ab und zu schreibe ich auch einmal etwas oder gebe einen Kommentar ab. Ich nutze Zombie-Twitter noch als Informationsquelle, insbesondere zu Russlands Angriffs- und Vernichtungskrieg, die anderen Plattformen vor allem für Infos zum Thema Literatur.

Anregungen gibt es immer mal wieder, jüngstes Beispiel ist der historische Krimi Schwarzer Oktober von Robert Brack, auf den ich sonst gar nicht aufmerksam geworden wäre. Und da wäre mir schon etwas entgangen. Die Jagd nach Herzchen und Followern mache ich aber nicht mit. Wozu das alles?

Gleich zweimal habe ich im September eskapistische Literatur gelesen, einen Urban– und einen SteampunkFantasy-Roman. Beides war wirklich unterhaltsam, wenn auch nicht gerade hohe Literatur. Das kann man dagegen von Boston Teran und seinem historischen Thriller Gärten der Trauer durchaus behaupten. Eine Entdeckung und ein Top-Kandidat für meine »Bücher des Jahres 2024«. Ebenfalls gefiel mir Der Wintersoldat von David Mason.

Schwere und lohnende Kost sind die Tagebücher von Wilm Hosenfeld, der von 1939 bis Anfang 1945 in Warschau als Besatzungsoffizier der Wehrmacht tätig war. Die Widersprüchlichkeit und Ohnmacht des Menschen in einem totalen Umfeld werden überdeutlich. Polen ist auch Gegenstand eines weiteren Buches, das sich mit den acht Jahren der PiS-Herrschaft beschäftigt und auf ein generelles Dilemma verweist. Die Geisterfahrer von Klaus Bachmann stellt die Frage, ob man einen Staat mit undemokratischen Mittel demokratisieren kann.

Neues gibt es auch aus meiner Schreibstube. Der fünfte Band meiner Piratenbrüder-Buchserie ist am 20. September erschienen. Totenschiff ist ein hochspannender, turbulenter, wendungsreicher Teil geworden, geht es nach meinen Testlesern, auch das beste, was ich bis dahin geschrieben habe. Aktuell sitze ich am sechsten Band mit dem Titel Verräter, den ich für das Lektorat vorbereite. Das letzte große Luftholen vor dem Finale erscheint am 20. September 2025, das eBook kann bereits vorbestellt werden.

Die bisher erschienenen Teile meiner Buchserie um die Piratenbrüder Joshua und Jeremiah. Der sechste Teil erscheint am 20. September 2025.

Kurzbesprechung der September-Bücher

Der historische Agenten-Thriller Gärten der Trauer* von Boston Teran hat viele Facetten. Das Geschehen entwickelt sich schnörkellos mit stark ansteigender Spannung, hoher Dynamik und einer sich immer weiter zuspitzenden Dramatik. Aus den USA wird Special Agent John Lourdes ins Osmanische Reich entsandt, das sich 1915 im Krieg befindet. Lourdes ist auf geheimer Mission, es geht um Öl; auf seinem Weg wird er mit der barbarischen Auslöschung der Armenier konfrontiert und muss eine Entscheidung treffen. Sein Gegenspieler ist der deutsche Rittmeister Bodo Franke, der eine irreguläre Truppe aus Verbrechern führt. Eine dramatische Jagd durch ein Land, in dem ein Genozid verübt wird, mündet in einen apokalyptischen Showdown. Dank der Sprache und der vielfältigen Erzählweise ein wirklich ungewöhnlicher wie großartiger Roman, der erstmals auf Deutsch vorliegt. Eine Entdeckung!

Mit dem Roman Der Wintersoldat zieht der Leser in die blutigen Wirren des Ersten Weltkrieges. Ein junger Österreicher namens Lucius Krzelewski wird aus seinem Medizinstudium herausgerissen und geht als Sanitätsoffizier an die Front. Allein der Weg zu seinem Posten im Feldlazarett ist großartig erzählt, nicht zuletzt durch den bürokratischen Irrsinn, der zum Krieg gehört wie der grollende Donner der Geschütze. Der theoretisch außerordentlich begabte Mediziner in Spe macht eine dramatisch zu nennende Bekanntschaft mit der Realität in den Lazaretten – ohne die helfende Hand der Nonne Magarete wäre er (nebst unzähligen Verwundeten) verloren. Autor Daniel Mason schildert die erbarmungslose Ohnmacht ebenso intensiv wie jene Kampfhandlungen, in die Lucius zufällig gerät. Das Ende des Krieges ist kein Ende, wie Der Wintersoldat eindrücklich zeigt. Ein außergewöhnlicher Roman, der durchaus unterschiedlich wahrgenommen wird. Recht negativ fällt die Einschätzung bei Buch-Haltung aus, positiv dagegen bei Kaffeehaussitzer.

Endlich habe ich das ziemlich voluminöse Werk »Ich versuche jeden zu retten.« Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern gelesen. Wilm Hosenfeld ist eine hochspannende Person. Durchaus affin zur nationalsozialistischen Ideologie, empfänglich für deren Propaganda bis weit hinein in den Krieg, den er zunächst als durchaus gerechtfertigt erachtetet. Gleichzeitig ist er ablehnend gegenüber Antisemitismus und vor allem der grausamen und unmenschlichen Behandlung der polnischen Zivilbevölkerung eingestellt, obendrein schockiert über die Kenntnis vom Holocaust. Hosenfeld ist bekannt durch seine Rettung des polnischen Pianisten Szpilman, doch hat er während seiner Zeit in Warschau mehr Menschen geholfen und wagemutige Handlungen begangen. In den Briefen tritt ein zutiefst widersprüchlicher Mensch dem Leser entgegen, der jedoch seine Empathie gegenüber anderen Menschen bis zuletzt bewahrt hat.

Selten begebe ich mich auf das Feld der Fantasy, eigentlich nie in Gefilde abseits von High Fantasy. Dank eines Buchgeschenks habe ich erstmals einen Fantasy-Roman gelesen, der Drachen und Feuerwaffen, Magie und Technologie in einer Welt vereint. The Waking Fire von Anthony Ryan ist mein zweites Buch des Autors, dessen Lied des Blutes zu den wenigen Fantasy-Schmökern gehört, die mich nicht enttäuscht haben. Also habe ich mich frohgemut auf The Waking Fire eingelassen. Die Lektüre hat Spaß gemacht, trotz der gernretypischen Schwächen und des Settings, mit dem ich nicht allzu viel anzufangen weiß. Die Erzählung ist spannend, abwechslungs- und handlungsreich, viele Torheiten, die man bei anderen Vertretern des Fantasy-Genres findet, vermeidet Ryan. Unterhaltender Eskapismus, zudem eine gute Gelegenheit, einen Schmöker im Original zu lesen.

Ab und zu begebe ich mich ein Stück aus dieser Welt und betreibe literarischen Eskapismus. Ein Weg führt mich in das Genre der Urban Fantasy, deren Handlung merkwürdig oft in London angesiedelt ist. In Benedict Jackas Buchreihe um den Magier Alex Verus geht es auch um Politik, allerdings auf einem eher gestutzten Niveau, um die Handlung langfristig zu motivieren. Das gelingt in den ersten Bänden prächtig, so ist auch Der Meister von London sehr unterhaltsam. Die größte Stärke der Bücher liegt neben der Spannung allerdings in den Antagonismen und Widersprüchlichkeiten der Hauptfigur und seiner Mitstreiter, die auch schon mal zu Gegnern werden. Alles ohne allzu großes Drama, dafür flockig, spannend und wendungsreich erzählt.

Hierzulande geht die Geisterfahrt erst los, in Polen hat man diese – hoffentlich – schon hinter sich: Acht Jahre herrschte die PiS von Jarosław Kaczyński über das große Nachbarland, das in Deutschland bedauerlicherweise oft vernachlässigt wird. Autor Klaus Bachmann widmet sich in dem Buch Die Geisterfahrer der Herrschaft der PiS. Schon auf den ersten zwei, drei Dutzend Seiten wird dem Leser bewusst, wie dünn der demokratische Firnis sein kann. Denn die PiS hat die Macht auch durch gravierende Fehler ihrer Gegner errungen und im Eiltempo die Rechtsstaatlichkeit hinweggefegt. Zugleich wird klar, dass Widerstand oft aus Ecken kommt, die in der Öffentlichkeit und vielen Medien (möglicherweise mangels Kenntnis) gar keine Rolle spielen. Ohne die EU und etwa die Strafzahlungen sowie die hartnäckig fechtenden polnischen Richter wäre die PiS möglicherweise noch immer in Amt und Unwürden. Doch nach ihrem Abgang beginnen die Probleme erst, wie Bachmann zeigt: Demokratisierung mit undemokratischen Mitteln? Ein Dilemma. Sehr lesenswert.

Viel Milieu, wenig Krimi, hochpolitisch und sehr gelungen: So lässt sich der sehr schöne Roman Schwarzer Oktober  von Robert Brack auf den Punkt bringen. Die Handlung führt ins Jahr 1923, in dem Deutschland am Abgrund steht. Klara Schindlers Leben ist geprägt von großer Not, Menschen bringen sich aus Verzweiflung um, hungern und hegen namenlose Wut. Es  bahnt sich etwas an, Klara gerät in den Dunstkreis von Kommunisten, ist in deren orthodoxer Parteihierarchie und -ideologie aber ein Querschläger. Autor Brack lässt seine Hauptfigur Tagebuch führen, dehnt den Rahmen dankenswerterweise und sprengt ihn ganz, als der Aufstand in Barmbek losbricht. Und dann ist da immer noch der Schnitter, der sein tödliches Unwesen treibt.

*Rezensionsexemplar

Blog-Gestöber

Mein Wort des Monats: »Zeugen des Sofas«. Gefunden auf dem Blog von Christoph Brumme, dem deutschen Schriftsteller, der in der Ukraine lebt, und im Gegensatz zu vielen Daheimgebliebenen tatsächlich weiß, wovon er spricht: vom Krieg Russlands gegen das ukrainische Volk. Über den Kriegsbeginn hat er Tagebuch geführt, zum Teil mit beißender Ironie und Sarkasmus. Den hat er sich erhalten, wie das aktuelle Zitat zeigt:

»Ich genieße das Privileg, den Krieg mit eigenen Augen sehen zu können und meine Erkenntnisse und Erfahrungen mit den Erzählungen der Zeugen des Sofas und denen der ausländischen Tagesgäste vergleichen zu können.«

Christoph Brumme

Auf meiner Liste interessanter Bücher stand im Frühjahr auch Daniel Kehlmanns Essay über Leo Perutz. Leo wer? Perutz gilt als vergessener Autor. Als ich vor einigen Jahren seinen Roman Der schwedische Reiter in meiner Stammbuchhandlung erwarb, erfuhr ich, dass Perutz sehr selten gelesen werde. Bis dahin hatte ich den Namen zugegebenermaßen auch noch nie gehört, die Besprechung in einer Tageszeitung hatte mein Interesse geweckt. Und ja, es wäre mir einiges entgangen, denn Perutz ist ein großartiger Erzähler. Der Meister des jüngsten Tages ist so gut, dass sich selbst den Nähe zu Mystery inkauf genommen habe, was ich sonst konsequent meide. Perutz gehört zur Literatur von Weimar, entsprechend findet man auf dem Blog Literaturweimar etwas über ihn. Ob Kehlmanns Essay dem vergessenen Autor ein zweites Leben beschert? Zu wünschen wäre es.

Bei Buch-Haltung bin ich auf einen Beitrag zu einem Buch über Rom aufmerksam geworden. Rom – Stadt fürs Leben lautet der Titel des Werkes von Golo Maurer, der sich aus subjektiver Perspektive über das Leben in der Stadt auslässt. Mich hat das in zweierlei Hinsicht angesprochen. Einmal, weil ein eigener Besuch dort längst überfällig ist, zweitens wegen des Buches Die linke Hand des Papstes von Friedrich Christian Delius. Das habe ich zweimal gelesen, einmal vor Ort, denn um Rom geht es in dem schmalen Bändchen, in dem Delius scharfzüngig den Leser auf Entdeckungstour führt, die natürlich in die Politik ausgreift. Es wird wohl Zeit für eine dritte Lektüre, wieder vor Ort und diesmal mit einem Blog-Beitrag.

Mit Ulla Lenze verbindet ich den tollen Roman Der Empfänger, der mir außerordentlich gut gefallen hat. Ihr Roman Das Wohlbefinden ist thematisch nicht für mich interessant, was mir nicht zuletzt durch die schöne Besprechung bei literaturleuchtet deutlich geworden ist.

Blogmonat August 2024

Ein guter Lesemonat, trotz zweier Enttäuschungen. Zwei sehr gute Krimis, ein herausragender Roman und orignielle Erzählungen reichen, um zufrieden zu sein. Bild mit Canva erstellt.

Gleich zwei enttäuschende Bücher sind mir im August in die Finger geraten. Der geopolitische Atlas Die Welt der Gegenwart* sorgte bei mir im Kapitel über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zu erheblichen Irritationen. Außredem war der Thriller Die Toten vom Gare D´Austerlitz eine Enttäuschung gewesen, sicher auch, weil ich mich auf dieses Buch wegen der ungewöhnlichen Handlungszeit sehr gefreut habe. Mein Exemplar ist in eine Büchertelefonzelle gewandert, wie ich aus verschiedenen Blog-Beiträgen ersehen konnte, gibt es Leser, die den Roman mögen.

Ebenfalls ungewöhnlich, aber ganz herausragend erzählt ist Der Empfänger von Ulla Lenze. Hier habe ich mich gefragt, ob viele der negativen Bewertungen auf den einschlägigen Sternchen-Portalen vielleicht auf eine falsche Erwartungshaltung zurückgehen. Ja, Agenten spielen eine Rolle, aber es ist kein Thriller, den die Autorin geschrieben hat.

Sehr unterhaltsam, spannend und anregend sind die beiden Krimis um die Navajo-Police von Tony Hillerman, die ich gelesen habe. Zwei weitere warten noch in meinem Regal – in den Herbstferien werde ich spätestens dazu kommen. Großen Spaß haben die Erzählungen von Oleksij Tschupa gemacht, mit Märchen aus meinem Luftschutzkeller habe ich erstmals auf meinem Blog einen Beitrag zu der von mir gewöhnlich stiefmütterlich behandelten Erzählform geschrieben. Es wird nicht der letzte sein.

Die vergleichsweise geringe Zahl der gelesenen Bücher und von auf meinem Blog veröffentlichten Besprechungen hängt mit meiner Arbeit an den beiden noch ausstehenden Piratenbrüder-Bänden zusammen, aber vor allem mit ausgedehnten Wanderungen an hochsommerlichen August-Tagen. Im Kopf bin ich längst mit meinem nächsten Projekt, einer Fantasy-Buchserie, befasst. Eine schöne Beschäftigung beim Gehen.

Ein Grund zum Feiern: Anfang August überschritt die Zahl der bei Kindle Unlimited gelesenen Seiten meiner Abenteuerreihe die magische Grenze von einer Million. Auf zur zweiten Million.

Im August wurden vor allem ältere Beiträge nachgefragt, etwa die Besprechungen zum Auftaktband um die Navajo-Police von Tony Hillerman Tanzplatz der Toten. Die geheimste Erinnerung des Menschen (Mohamed Mbougar Sarr), Vom Ende der Einsamkeit (Benedict Wells) und Die Tagesordnung (Éric Vuillard) sind und bleiben die Dauerbrenner auf meinem Blog, was das Interesse der Besucher anbelangt.  Ganz oben ist dabei allerdings noch immer der großartige Roman Wie später ihre Kinder von Nicolas Mathieu.

Kurzbesprechung der August-Bücher

Der größte Vorzug von Die Welt der Gegenwart* von Émilie Aubry und Frank Tétart ist, dass der Leser einen schnellen Überblick über eine ganze Reihe wichtiger globaler Konflikte erhält. Die Beiträge sind mit sehr vielen, informativen und leicht zugänglichen Karten versehen, die erklärenden Texten versuchen, die komplexen Konfliktlinien darzustellen. Dass es zu Verkürzungen und Verzerrungen kommt, ist unvermeidlich, bedauerlich ist allerdings, dass ausgerechnet der Teil, der sich mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine befasst, eine sehr problematische Darstellung bietet. Kreml-Narrative, lupenreine Propaganda und das Aufkochen längst überkommener Ansichten (russischsprachig = pro-russisch) prägen diesen Teil, es wirkt, als würden die Autoren auf Teufel komm raus versuchen, eine gewisse »Ausgewogenheit« herzustellen. Im Vernichtungskrieg gibt es derlei nicht. Leider werden auch in anderen Bereichen zweifelhafte Formulierungen gebraucht, ausgerechnet auch in jenem über Israel.

Einen wirklich wunderbaren Roman hat Ulla Lenze mit Der Empfänger geschrieben. Das Thema war für mich ganz neu: Ein in die USA ausgewanderter Deutscher namens Josef (Joe) Klein wird in den späten Dreißigerjahren nolens volens zum Spion für Hitlerdeutschland. Als Amateurfunker sendet er geheime Nachrichten nach Europa. Er wird von den Amerikanern verhaften, früh genug, um nicht hingerichtet zu werden; nach dem Krieg wird er nach Deutschland, abgeschoben. Die Autorin hat Kleins Weg in die Bredouille und die unfreiwillige Rückkehr in ein ihm völlig fremdes Land in einer sehr schönen, bildkräftigen Sprache beschrieben, die sehr viel Wert auf die Zwischentöne, Grauzonen und Widersprüchlichkeiten legt. Spannende, atmosphärische und tragische Literatur, an der mir ganz besonders die immer wieder aufschimmernde Freude Joes über das vielfältige Leben in New York gefallen hat. Empfehlenswert besprochen wird Der Empfänger bei literaturleuchtet und Buch-Haltung.

Erzählungen gehören nicht zur bevorzugten literarischen Form, wie man bei einem Blick auf mein Buchregal oder meinen Blog unschwer erkennen kann. Ab und zu unternehme ich aber gern einen Ausflug in diesen Bereich, so bei Märchen aus meinem Luftschutzkeller von Oleksij Tschupa. Der Leser folgt den Geschehnissen von Personen, die in einem Haus im Osten der Ukraine wohnen, genauer gesagt im Donbass. Von Wohnung zu Wohnung arbeitet sich das Buch vor, manchmal sind die Geschichten direkt miteinander verbunden, wenn ein Geschehnis aus einer vorangegangenen Erzählung aus einer anderen Perspektive zumindest erwähnt wird. Nicht nur so bekommen die Erzählungen einen inneren Zusammenhang, das über das gemeinsame Wohnen in einem Haus hinausgeht. Manchmal sind die Erzählungen wild und schäumend, manchmal auf eine melancholische Weise trist.

Im dritten Teil seiner Krimi-Reihe um die Navajo-Police übernimmt Jim Chee die Ermittlungen. Das geht weniger dramaturgische als rechtliche Gründe. Wer ein wenig in den Teasern für die nächsten Bücher stöbert, findet schnell heraus, dass Joe Leaphorn bald wieder zurückkehrt und gemeinsam mit Chee auf Verbrecherjagd geht. In Zeugen der Nacht muss sich Chee mit einem merkwürdig belanglos erscheinenden Diebstahl beschäftigen, der jedoch im Zentrum einer Serie an Todesfällen zu stehen scheint. Wie die ersten beiden Romane ist Tony Hillermans Krimi angereichert mit mythischen Motiven der indianischen Gemeinschaft, sanftem Spott und sehr spannenden Passagen. Wie in den Vorgängerbänden macht der Tanz auf der Grenze zweier völlig verschiedener Kulturen besonderen Spaß. Die Buchreihe ist eine Entdeckung.

Glücklicherweise hatte ich vier Romane von Tony Hillerman vorrätig und konnte mit Dunkle Winde gleich noch einen lesen. Eine verwickelte Geschichte beschäftigt den Officer der Navajo-Police, Jim Chee: Ein Windrad wird immer wieder beschädigt. Während er auf der Lauer liegt, um den Täter zu fassen, geht ein Flugzeug in unmittelbarer Nähe nieder. Im Wrack ein Sterbender, unweit davon ein Toter. Nicht der einzige, denn eine unidentifizierbare Leiche wird in einiger Entfernung auch noch aufgefunden. Schließlich ist da noch der seltsame Diebstahl – alles zusammen eine harte Nuss für Chee, der selbst auch noch in Verdacht gerät. Der Schlüssel liegt im Verständnis der Motive, für einen Navajo schwierig, wenn es sich bei den Tatverdächtigen um Weiße oder Hopi handelt. Kulturelle Gräben gibt es auch zwischen den indianischen Gemeinschaften. Großartig erzählt.

Eine Enttäuschung ist der Thriller Die Toten vom Gare d´Austerlitz gewesen, auf den ich mich vor allem wegen des zeitlichen Rahmens sehr gefreut habe. Leider hat Autor Chris Lloyd seine Hauptfigur, den Inspecteur Éduard (Eddie) Giral, als irrlichternden Polizisten gestaltet, der allzu oft die Fäuste fliegen lässt, nicht kommunizieren kann, den selbstmitleidigen einsamen Wolf mimt und unglaubwürdig agiert. Das gilt auch für seine Mitstreiter, Widersacher und neutrale Personen, gleichgültig ob es sich um Flüchtlinge, Franzosen oder Deutsche handelt. Der Sohn der Hauptfigur gleicht eher einer grotesk verzerrten Karikatur. Ab der Mitte des Romans ging auch die Spannung verloren, die vielen abrupten Wendungen ermüden. Schade, denn aus der Idee hätte etwas Großartiges entstehen können.

*Rezensionsexemplar

Bloggestöber – »White Trash«

Genau weiß ich nicht mehr, wann ich zum ersten Mal mit dem Begriff »White Trash« in Berührung gekommen bin. Wahrscheinlich bei der Lektüre meiner damaligen Tageszeitung, sicher aber durch den Film 8 Mile von 2002 um den  Rapper Eminem und seine »Trash-Mom«, die in einem Wohnwagen ihre Existenz fristet. Die musikalische Umsetzung der Wohnsituation „Mom´s living in a trailor“ zur Musik von „Sweet Home Alabama“ werde ich wohl nie vergessen.

Wohnwagensiedlungen gehören zu den klassischen Stereotypen im Zusammenhang mit »White Trash«. Seit 8 Mile bin ich immer wieder auf die Umstände der verarmten, hoffnungs- und aussichtslosen Lebensumstände gestoßen, die sich mit dem Begriff »White Trash« verbinden. Ebenso klassisch wie großartig etwa in der Fernsehserie »The Wire«, aber auch in diversen Romanen, vor allem Thrillern und Krimis bis hin zu dem großartigen Sachbuch Das Imperium der Schmerzen über die verheerende Opioid-Katastrophe in den USA.

Nach der für mich völlig überraschenden Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA habe ich 2017 eine ganze Reihe von Büchern über die Vereinigten Staaten gelesen, darunter Hillbilly Elegy eines gewissen J.D. Vance. Ja, genau der. Tatsächlich haben mich einige der Schilderungen (zwischen langatmigen, eher langweiligen und sehr merkwürdigen Passagen) beeindruckt.

Zurückgeblieben ist ein Eindruck, wie groß der soziale und gesellschaftliche Graben zwischen der Unterschicht und der Mittel- bzw. Oberschicht ist, gar nicht zu reden von den wirklich reichen Zeitgenossen. Schul- und Universitätsbildung reichen nicht, ein Verhaltenskodex muss erlernt werden, ebenso eine Sprache und das Verständnis dessen, was überhaupt gemeint ist. Das hat Vance in dem Buch nachvollziehbar dargelegt.

Wie groß solche Probleme sind, kann man auch bei der fiktionalen Figur Phillip („Lip“) Gallagher in der großartigen Serie Shameless beobachten, der während seiner Zeit an einer Hochschule keineswegs an seinen intellektuellen, sondern vor allem an den Gepflogenheiten, geschriebenen wie ungeschriebenen Gesetzen scheitert.

Das alles schimmert auch bei Hillbilly Elegy durch, an dessen Existenz ich durch einen sehr lesenswerten Beitrag von Kaffeehaussitzer erinnert wurde. Lesen würde ich es heute nicht mehr, seit der Autor seinen Kotau vor Donald Trump gemacht hat. Es gibt jede Menge Alternativen.

Blogmonat Juli 2024

Es war ein großartiger Lesemonat. Jedes Buch, das auf dem Bild zu sehen ist, war ein Gewinn. Fünf Romane, zwei Sachbücher, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten und eine atemberaubende Graphic Novel.

Im Juli habe ich einen literarischen Ausflug in eine dystopische Welt unternommen und zwar gleich zweifach. Den brillanten Endzeit-Roman von Cormac McCarthy Die Straße habe ich nach vielen Jahren zum zweiten Mal mit großem Lesegenuss und fürchterlichem Unbehagen gelesen, um anschließend in die Umsetzung als Graphic Novel einzutauchen: Die Strasse von Manu Larcenet ist hervorragend gelungen.

Die Besprechung zu Die Strasse wurde im Juli von den Besuchern meines Blogs am häufigsten angesteuert, der monumentale Roman Shōgun von James Clavell zog die zweitmeiste Aufmerksamkeit auf sich, gefolgt von einem ganz wunderbaren Roman aus Kuba: Anständige Leute von Leonardo Padura.

Ein ausführliche Sachbuchbesprechung gab es von mir im Juli nicht, zum nächsten Blog-Monat wird wenigstens eine neue erschienen sein. Die letzten Besprechungen zu den Büchern von Holger Afflerbach, Auf Messers Schneide, und Charlotte Schubert, Tod der Tribune, wurden aber auch im zurückliegenden Monat sehr häufig gelesen.

Anfang des Monats gab es einen großen Moment, als der Probedruck von Totenschiff Piratenbrüder Band 5 hier eintraf. Traditionell lese ich diesen laut vor, suche nach letzten Fehlerchen und Schwächen, nach deren Korrektur der Veröffentlichung nichts mehr im Wege steht. Totenschiff ist mein bislang bestes Buch, da sind Testleser, Lektorin, Korrektorin und ich ausnahmsweise einer Meinung.

Die Hauptfigur der Romanreihe um die Piratenbrüder, Joshua Walther Thomas Heat, hat nicht nur eine recht stattliche Zahl an Namen, eine bemerkenswerte Ahnenreihe (wie wir aus Vinland – Piratenbrüder Band 4 wissen), sondern trägt auch viele »Ehrentitel«. Wer die Aufzählung ansieht, begreift schnell, dass Joshua sich auf diesem Weg ein wenig über sich selbst lustig macht.

Joshua begegnet sich selbst mit einigem Spott, indem er sich »Ehrentitel« zuspricht. Das setzt sich während der gesamten Buchreihe um die Piratenbrüder fort.

Kurz-Besprechungen der Juli-Bücher

Leonardo Padura schickt Mario Conde wieder los, um einen Mordfall aufzuklären. Der Ex-Polizist, der am Ende des »Havanna-Quartetts« den Polizeidienst quittierte, wird von einem alten Kollegen um Unterstützung gebeten. Die Sicherheitskräfte Kubas sind durch den anstehenden Besuch Obamas und der Rolling Stones überlastet. Nolens volens hilft Conde aus, obwohl er eigentlich einen lukrativen Nebenjob und ein Thema zum Schreiben hat: Letzteres dreht sich um einen berühmten Zuhälter Kubas, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts nach politischem Einfluss strebte. Diese Geschichte wird in einer zweiten Zeitebene erzählt, während Conde mit seiner eigenen, weniger weit zurückliegenden Vergangenheit und den politischen Abgründen des Systems konfrontiert wird. Anständige Leute* wirf im Kern weniger die Frage auf, wie man »anständig« bleibt, sondern was »Anstand« eigentlich bedeutet. Wer Zeit findet, sollte Labyrinth der Masken lesen, auf dessen Inhalt immer wieder Bezug genommen wird. Aber auch ohne ist die Lektüre einfach ein Genuss.

Was für ein wunderbarer Schmöker! Angeregt durch die Serie habe ich endlich meinen seit Jahrzehnten gehegten Wunsch verwirklicht, Shōgun von James Clavell zu hören / lesen. Mir war episch zumute und das wurde von diesem Roman auf ganz großartige Weise bedient. Ein Epos in jeder Hinsicht, ungemein spannend erzählt, vielschichtig, die  taktischen, geopolitischen, persönlichen, gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen Antagonismen, Missverständnisse und Motive sind ganz toll dargestellt. Mich haben sie in ihren Bann geschlagen. Das Buch hat mir dabei bedeutend besser gefallen als die Verfilmung, es gibt so viele Glanzpunkte. Latein als Sprache der Liebenden, dabei ist es doch auch die Geheimsprache der Priester. Das gegenseitige »Missverstehen«, nicht nur, wenn es um das Kopfkissen-Teilen geht. Wer sich daran stört, dass Clavell konsequent auktorial erzählt, soll ruhig in der Erzählhaltungsschmollecke hocken bleiben.

Die Welt des 18. Jahrhunderts ist so unendlich fremd. Wer Nie war es herrlicher zu leben: Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ 1718 – 1784 herausgegeben von Hans Pleschinski liest, wird rasch damit konfrontiert, dass »verstehen« relativ ist, wenn es um die Vergangenheit geht. Der Leser staunt und wundert sich. Allein die Sprache im Superlativ – alles ist allerliebst, herzlichst, vorzüglichst, fröhlichst, hinter dem gezierten Ton schimmert das nicht minder gezierte Gebaren durch. Ein Leben im Kampf um Beziehungen, unterworfen vom Ehrgeiz nach Titeln, Ämtern, einer geordneten und passenden Nachfolge. Interessant auch, was keine Rolle spielt: das einfache Volk. Es ist bestenfalls Kulisse, meist könnte man meinen, Frankreich wäre bis auf die Adeligen, Geistlichen und Offiziere verwaist. Gern hätte ich mehr über die Feldzüge erfahren, an denen der Tagebuchschreiber teilnahm, doch auch so ist es sehr wertvoll – wenn man z.B. die Serie Franklin sieht, versteht man, worauf das fußt und wie sehr – notwendigerweise – im Sinne des Verstehens dort aktualisiert werden musste.

Im Jahr 2008 habe ich Die Straße von Cormac McCarthy erstmals gelesen. Seitdem geistern eine ganze Reihe von Bildern, Formulierungen und Szenen aus diesem dystopischen Roman in meinem Gedächtnis herum, wie es scheint, werde ich diese erst dann vergessen, wenn ich alles vergessen werde. Erzählt wird eine Art Road-Novel nach einer Katastrophe. Vater und Sohn bewegen sich auf der Straße nach Süden, dem Meer entgegen. Kälte, Dunkelheit, Hunger (nicht Hungrig-Sein) und eine stete Bedrohung an Leib und Leben sind ihre Weggefährten. Dramatische Szenen spielen sich ab, Grauen und Anspannung weichen nicht; immer wieder müssen sie Risiken eingehen, um Vorräte zu finden, immer wieder den herumstreifenden Horden und Marodeuren ausweichen, immer wieder Hilfe verweigern, weil ihnen das andernfalls selbst den Tod brächte. Eine totale Situation, in der die Wahl auf Sterben oder Leben reduziert ist. Die Sprache ist karg, die Dialoge knapp und doch ist alles voller Emotion, auch wenn diese unausgesprochen bleibt. Das Ende dieses gewaltigen dystopischen Romans ist ausgesprochen gelungen und passend zu dessen Handlung.

Atemberaubend gezeichnet ist die Graphic Novel Die Strasse* von Manu Larcenet nach dem gleichnamigen Roman von Cormac McCarthy. Die Bilder fangen die schreckliche Atmosphäre ein, die in der Endzeit-Dystopie herrscht. Kälte, Stille, Asche, Regen, Gewalt. Grau ist die beherrschende Farbe, wenn der Winter hereinbricht, wird es Weiß. Immer scheinen die beiden Hauptfiguren verloren zwischen den zertrümmerten Städten, den Wracks und endlosen Landschaften im krisseligen Aschetreiben. Manchmal färbt sich der Ton rot, dann wüten fern gewaltige Brände oder es droht Gefahr. Marodeure, Banden, kleine Armeen ziehen über die Straße, mehrfach sind Vater und Sohn an Leib und Leben bedroht. Vor allem aber müssen sie Häuser untersuchen, um Vorräte zu finden, sonst würden sie verhungern. Dort lauert der Wahnsinn verstümmelter Leichen und oft auch der Tod, rötlich unterlegt, schauerlich und hochspannend. Das Leben in dieser Welt ist total, die Graphic Novel hat das meisterhaft eingefangen. Dazu tragen auch die Dialoge bei, die teilweise wörtlich aus dem Roman stammen; dennoch hat sich Larcenet Freiheiten gestattet, ohne mit dem Buch zu brechen. Eine großartige Umsetzung der Romanvorlage.

Für die Amerikanerin Paula Bloom ist die Rückkehr nach Europa und Deutschland im Jahr 1945 eine Fahrt in eine Welt voller Widersprüche. Im Zuge der Entnazifizierung werden Angehörige des Nationalsozialistischen Deutschland angeklagt und verurteilt, gleichzeitig greifen die Alliierten auf für sie wertvolle Deutsche zurück, auch wenn diese belastet sind. Paula wird mit den Kriegsgräueln, den Zerstörungen, der Schuld und der allgemeinen Verweigerung der Verantwortung konfrontiert, während sie versuchen soll, die Wahrheit über einen angeblichen jüdischen Top-Spion der Nazis herauszufinden. Dabei holt sie auf überraschende Weise ihre eigene Vergangenheit ein, als Tochter eines US-Geschäftsmannes in Berlin glaubt sie, Schuld auf sich geladen zu haben, Land und Leute nur hassen und den Zynismus in ihrer Umgebung nicht ertragen zu können. Für das Ritchie Girl eine schreckliche Herausforderung. Der Roman ist sehr spannend, intensiv erzählt und von kleinen Abstrichen eine tolle Lektüre.

Gelegentlich musste ich mich bei der Lektüre von Graue Bienen vergewissern, dass es Andrej Kurkow einen zeitgenössischen Roman geschrieben hat und nicht einen aus dem 19. Jahrhundert. In dem Dorf, in dem der Bienenzüchter Sergej lebt, scheint die Zeit partiell stehengeblieben zu sein. Nur in Spurenelementen ist die Moderne zu erkennen, etwa dem Handy. Und natürlich dem Krieg, der seit 2014 im Osten der Ukraine tobt. Ein grauer Mensch in der Grauen Zone zwischen den Kriegsparteien, gemeinsam mit seinem Freundfeind Paschka hält er als Einziger im Dorf die Stellung. Sergejs Sorge gilt seinen Bienen, so unternimmt er eine Fahrt, um ihnen die Möglichkeit zu geben, frei zu fliegen. Dabei wird er mit den Abgründen von Russlands Krieg gegen die Ukraine konfrontiert, ebenso mit den brutalen, menschenverachtenden Maßnahmen des Putin-Regimes. Der Kontrast zwischen dem ruhigen, nach Frieden strebenden Bienenfreund und den Verhältnissen verstärkt den Schrecken.

Wenn man sich als Schwarzer versteht und die eigenen, unzweifelhaft leiblichen Kinder blaue Augen, blondes Haar und helle Haut haben, geraten einige Gewissheiten ins Rutschen. So geschehen bei Thomas Chatterton Williams, der in seinem Selbstporträt in Schwarz und Weiss von dem Konzept race Abschied nimmt. Im Vorwort wird die Verwendung der Begrifflichkeiten wie race oder asian etc. erläutert. Die Lektüre dieses sehr interessanten Buches hält sehr viele überraschende Erkenntnisse bereit, man wird mit einer Vielzahl an unbekannten Fakten und Zusammenhängen, Ansichten und Strömungen konfrontiert. Der Autor nimmt dabei auch jene kritisch in den Blick, die zwar Gutes bewirken wollen, aber auf die alten Denkstrukturen bauen, diese zementieren. Stattdessen setzt er auf ein schwieriges Konzept, nämlich race zu verlernen. Tschüß, Hautfarbe! Tolles Buch, günstig bei der Bundeszentrale für politische Bildung zu erwerben.

*Rezensionsexemplar

Blog-Gestöber

Gleich zu Monatsbeginn bin ich über zwei sehr interessante Blog-Beiträge gestolpert, auf die ich gern verweisen möchte. Da wäre zum einen ein sehr ausführlicher, detailliert analysierender Text zu Jenny Erpenbeck, Kairos auf dem Blog AISTHESIS. Zum Inhalt will ich mich nicht äußern, auch weil ich den Roman weder kenne noch lesen werde und die Debatte nur am Rand mitbekommen habe. Gefallen hat mir allerdings die Form der Besprechung und insbesondere die Betonung, dass es sich bei Kairos um einen Roman, also ein fiktionales Werk handelt.

Der zweite Beitrag dreht sich um die Buchbranche und die Diskussion über Bücher. Kernthese von Marius Müller auf seinem Blog Buch-Haltung: Die Debatte ist tot. Die genaue Diagnose möchte ich hier nicht nachbeten, die Schlussfolgerungen ebenfalls nicht, stattdessen nur auf zwei Dinge hinweisen, die eine Debatte im geforderten Sinn erschweren. Da wäre die Neigung, alles, was nicht in die eigene »Denk-Nische« passt, niederzukartätschen, zweitens der Druck zum Hamsterrad durch die Algorithmen: Wer Reichweite will, der muss Masse liefern. Wo bleibt da Zeit zum Nachdenken & Zuhören? Sehr anregende Lektüre.

Aus der Ukraine kommt ein Kriegssplitter von Christoph Brumme: Auf Position lautet der kurze Bericht, der einen nachdrücklichen Eindruck von der grotesken Grausamkeit des Krieges hinterlässt. Sechzig Meter liegen zwischen Ukrainern und Russen, man kann den Gegner husten hören. Ein Motiv, das auch aus den früheren, in Romanen beschriebenen Kriegen vertraut ist; und – weil gegenwärtig, nicht allzu weit von hier geschehend – so unwirklich.

Jüngst habe ich den Roman  Shōgun von James Clavell beendet. Der Verlag verweist im Nachwort darauf, dass man Passagen, in denen die Sprecher rassistische Bemerkungen machen (1620!) nicht geändert habe und verweist auf das Urheberrecht von Autor und Übersetzer, die beide verstorben sind. Ich finde das aus ganz verschiedenen Gründen gut, grundsätzlich habe ich massive Vorbehalte gegen derartige Änderungen. Einige davon habe ich aus einem ausführlichen Beitrag zur problematische Selbstzensur von Verlagen auf dem Blog lesestunden.

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