Eine kurzes, sehr eindrückliches Buch über ein wichtiges Thema: Mit Srebrenica begann aus meiner Sicht das blutig 21. Jahrhundert. Cover Wallstein, Bild mit Canva erstellt.
Ein kurzes Büchlein nur, doch ein wichtiges. Srebrenica ist eine Stadt in Bosnien-Herzegowina, die stellvertretend steht für den Genozid serbischer Milizen an der muslimischen Volksgruppe des Landes. Mit Srebrenica hat das blutige 21. Jahrhundert begonnen und das von Auschwitz befeuerte »Nie Wieder« sein jähes Ende genommen. Wir haben es nur nicht gemerkt.
Hasan Hasanović hat überlebt. Sein Bericht Srebrenica überleben hebt an mit einem kurzen Abriss von Kindheitserinnerungen, geprägt von eher ärmlichen, aber durchaus glücklichen Jahren. Der Krieg, der hierzulande eher als nebulöses Hauen und Stechen fern auf dem Balkan wahrgenommen wurde, kam auf leisen Sohlen. Steigender Nationalismus, anschwellender Hass, schockierende Drohungen – plötzlich war es wichtig, ob man Serbe oder Kroate oder Muslim war.
Wie immer unter düsteren Wolken stellte sich die Frage: gehen oder bleiben? Die Entscheidung, nicht zu fliehen, setzte die Familie den Schrecken des Krieges aus. Belagerung, Bomben, Artillerie, alltägliche Todesangst, Verelendung, Hunger, Krankheiten und Tod. Es ist wichtig, die Bedeutung der Hilfe zu verstehen. Flugverbot und Schutzzone boten den Menschen die Hoffnung auf Besserung, die Verweigerung militärisch abgesicherten Schutzes führte in das Genozid.
Den meisten Menschen in Mitteleuropa war das alles schlichtweg egal. Wenn Bismarcks Spruch, der Balkan wäre nicht die Knochen eines einzigen preußischen Landsturmmannes wert, exhumiert und auf die damalige Lage umgedeutet wurde, hieß das nichts anderes, als dass die dort lebenden Menschen nichts wert wären. Daran hat sich bis in die Gegenwart viel zu wenig geändert, wie die bisweilen befremdliche Balkanpolitik der EU zeigt.
Europa und seine Führungsmächte, darunter Deutschland, haben versagt, als es darum ging, die Gewalt zu verhindern. Im Grunde ist es das, was Srebrenica überleben wertvoll macht. Die diplomatisch-ideologischen Winkelzüge, mit denen versucht wird, zu begründen, warum man auf militärische Mittel verzichtet, um Völkermord zu verhindern, haben ganz konkrete Auswirkungen vor Ort.
Wie die aussehen, erfährt der Leser aus diesem schmalen, wertvollen Buch. Europa ist eine Verpflichtung eingegangen, sich als Friedensmacht zu etablieren. Das beinhaltet eben auch, Kreaturen á la Milosevic oder Mladic mit allem entgegenzutreten, was man hat, und selbiges vorher bereitzustellen. Andernfalls wird ein „Nie wieder“ zu einer hohlen Phrase vorgeschützten Lernens aus der Geschichte.
Hasan Hasanović: Srebrenica überleben Aus dem Englischen von Filip Radunović Wallstein-Verlag, 2022 Hardcover 104 Seiten ISBN: 978-3-8353-5260-5
Autofiktionales aus der Feder von Saša Stanišić, preisgekrönt und lesenswert, weil es an Selbstverständlichkeiten rüttelt. Cover Luchterhand, Bild mit Canva erstellt.
Ein Roman im eigentlichen Sinne ist Herkunft nicht. Autofiktionales Erinnern wäre vielleicht ein passender Begriff für dieses preisgekrönte Werk, das 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Angesichts des für die Gegenwart wichtigen Themas und der literarischen Befähigung des Autors eine gute Entscheidung, insbesondere aber weil Stanišić die Gelegenheit nutzte, um die Verleihung des Nobelpreises an Peter Handke zu kritisieren.
Wer Herkunft liest oder hört, wird mit dem konfrontiert, was Handke mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit verschweigt, während dieser seine aus altlinkem Antiamerikanismus motivierte Serbienapologetik verbreitet. Das darf man ruhig bedenken, wenn man liest, wie Stanišić seine Herkunft ausbreitet und in manchmal bewegenden, manchmal lustigen, oft ironischen und bisweilen auch bitteren Worten von seinem Lebensweg und denen seiner Vorfahren berichtet.
Jugoslawien ist ein historisch-politisches Gespenst, wie das Römische Reich, Burgund, Indochina oder die Sowjetunion. Die jüngeren Geister haben die eigentümliche Eigenheit, für Zeitgenossen etwas sehr Reales zu sein, das ihnen etwas bedeutet, dem sie mit Stolz und Zuneigung begegnen, auch in der Erinnerung. Das Motiv kennt man, etwa aus den Romanen vonNina Haratischwili: Leicht verklärend, was für den in Deutschland sozialisierten Leser manchmal seltsam anmutet.
Doch darin liegt die Stärke von Büchern wie Herkunft. Sie lassen den tiefen, nachhaltigen und durch nichts zu kittenden Lebensbruch nachempfinden, ein hierzulande über Jahrzehnte hinweg mehr oder weniger ausgeschlossenes Szenario. Corona und der wirtschaftliche Fallout von Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine haben an der behaglichen Ignoranz ein wenig gerüttelt, doch im Kern bleibt das Leben in Deutschland für die meisten das einer Gated Community, abgeschottet von den Zudringlichkeiten des Lebens.
Ein Teil davon ist der Begriff Heimat, mit dem Lumpenpatrioten so gern hausieren gehen. Diese wird bisweilen an abstruse Aspekte geknüpft, wie Blut oder zusammenphantasierte Traditionen. Stanišić sieht das anders, wenn er auf den Zufall verweist, der per Geburt oder Vertreibung für ein Zuhause sorge; und dass jener Glück habe, der “den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will.“
Nach der Lektüre von Herkunft, weiß der Leser sehr genau, wovon die Rede ist.
Ein leicht lesbarer, niemals langweiliger, ungeheuer farbiger und unterhaltsamer Roman. Cover: Kein & Aber Verlag, Bild mit Canva erstellt.
Ja, der Titel: Wie konnte ich daran vorbeigehen? Gar nicht, zum Glück, denn der Roman Café Berlin von Harold Nebenzahl ist ein wunderbar leicht zu lesender, äußerst unterhaltsamer, dabei keineswegs flacher Ausflug in eine Zeit, die so modern gewesen ist und es nicht blieb, sondern in die Finsternis einer unfassbaren Barbarei mündete.
Von der ersten Seite an wird die Erzählung an diesen beiden Enden aufgespannt, denn der Erzähler sitzt Ende 1943 in Berlin im Versteck in einer Dachkammer und wird durch eine treue Seele namens Lohmann am Leben gehalten. Aus dieser Lage berichtet er von seiner Vergangenheit – die es in sich hat. Denn Nebenzahl spannt seine Erzählung noch weiter auf.
Ich bin es leid, bin alles Leid. Mir tun die Knochen und auch die Seele weh.
Harold Nebenzahl: Café Berlin
Die Hauptfigur stammt aus Syrien. Ein Jude aus Syrien? Heute undenkbar. Wie wir aber im Roman erfahren, hatten jüdische Bewohner der Region unter den Briten und Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg dank ihrer höheren Bildung wichtige Posten in der Verwaltung inne, was zum Hass durch die Araber beitrug. Sie galten als Handlanger der Ausländer.
Eine bemerkenswerte Parallele zu der Judenfeindlichkeit in Osteuropa, denen dort im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges Kooperation mit den Unterdrückern aus der Sowjetunion vorgeworfen wurde. Im Nahen Osten endetet das Dasein als Minderheit jüdischen Glaubens in diesen Regionen, jene, die gern vom Apartheidsstaat Israel schwadronieren, sollte sich das vor Augen führen.
In Berlin ist er im Showgeschäft tätig. Er betreibt einen Club namens Kaukasus, der seinen Gästen exotisch-erotische Shows bietet, bis weit in den Krieg hinein. Zu diesem Zeitpunkt hat sich aber das Programm geändert, wie auch das Publikum, es ist ein Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung, in der Vielfalt zunächst begrüßt und dann abgelehnt wurde.
Nebenbei bekommt der Erzähler Kontakt zur SS, die nicht weiß, dass er Jude ist. Seine Tarnung als Spanier hält vergleichsweise lange, sie ermöglicht – oder sagen wir besser: zwingt ihn, sich nolens volens in Widerstandsaktionen verwicken zu lassen.
Ich vertiefte mich in das Gewirr feindseliger Frakturschriftzeichen.
Harold Nebenzahl: Café Berlin
Nebenzahl lässt seinen Helden in einer Episode eine geheime Unternehmung nach Bosnien ausführen, die nicht nur geographisch aus dem Rahmen fällt. Hier kommt tatsächlich einmal actionnahe Spannung auf, denn es geht um ein Widerstandsunternehmen in Bosnien gegen die Nazi-Pläne, eine muslimische SS-Division namens Handschar (die gab es wirklich) aufzustellen.
Es ist nur ein Nebenschauplatz in diesem weltumspannenden Gemetzel, der Protagonist ist alles mögliche, nur kein Untergrundkämpfer im eigentlichen Sinne; seine Sichtweise macht die Episode aber sehr wertvoll, denn sie unterstreicht noch einmal den blutdurchtränkten Boden, auf dem der Hass im zerfallenden Jugoslawien Anfang der 1990er Jahre blühen konnte.
Café Berlin ist vom ersten Augenblick an spannend, auch wenn die meisten Passagen des Buches fern von augenscheinlicher Action sind. Die fortlaufende Todesdrohung, der sich die Hauptperson in seinem Versteck ausgesetzt sieht, reicht völlig aus.
Lohmann hatte der Weltschmerz gepackt, eine Sonderform von teutonischer Schwermut.
Harold Nebenzahl: Café Berlin
Zwei Dinge haben mich besonders berührt. Zum einen eine Textstelle, bei der es heißt, man habe ich auf »neutralem Boden« getroffen, nämlich: »bei den Sechstagerennen, den Boxkämpfen und Fußballspielen.« Klingt gewöhnlich, ist es aber nicht – wenn man das wunderbare Buch Höhenrauschvon Harald Jähner gelesen hat.
Dort erfährt man nämlich über die zarten Anfänge des Fußballs, der gesellschaftlichen Bedeutung der Sechstagerennen (und was eigentlich dahintersteckt) und vor allem die in mehrfacher Hinsicht für die gesamte Weimarer Republik bedeutsamen Boxkämpfe. Berthold Brecht hatte nicht umsonst einen Punching-Ball neben dem Schreibtisch, und er war nicht der Einzige.
Das zweite betrifft das Ende des Buches. Der Protagonist erlebt die letzte Aprilwoche 1945 in Berlin – die Rote Armee malmt durch die Stadt Richtung Reichskanzlei. Ich kenne Erzählungen über diese Tage aus einer anderen Perspektive, meinem Großvater, der in Berlin im Mai in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet ist. Es war sehr eindrücklich, das Gehörte abermals zu erfahren, gespiegelt in einer ganz anderen Sichtweise.
Wie bei allen Romanen dieser Art steht der Verlust im Zentrum. Als Leser habe ich ihn empfunden, den Verlust, den die Nazizeit für Deutschland und seine Einwohner, Europa und die Zukunft, die meine Vergangenheit und Gegenwart gewesen ist.
Harold Nebenzahl: Café Berlin Aus dem Amerikanischen von Gertraude Krueger Kein&Aber 2019 Taschenbuch 415 Seiten
Was wir ein idyllischer Ferienort an der Adria wirkt, bildet die Kulisse zerbrechender Träume, politischer Intrigen und einem Mord. Split in den 1930er Jahren. Cover Jung und Jung, Bild mit Canva erstellt.
Vor Jahren, beim Fußball der Kinder, erzählte ein aus Rumänien Zugezogener, wie schockiert er gewesen sei, als er die ersten Tage in Düsseldorf verbracht habe. Dort habe man in den Straßen ausschließlich Deutsch gehört. In dem Ort, in dem er die ersten Jahre seines Lebens verbrachte, sei alles zu hören gewesen: Rumänisch, Ungarisch, Ukrainisch, Deutsch, Bulgarisch, Slowakisch und so weiter.
Die Worte waren wie das Echoeiner vergangenen Welt . In Europa war es vor dem Zweiten und besonders vor dem Ersten Weltkrieg gar nicht so ungewöhnlich, dass mehrere Sprachen das Hörbild der Straßen großer und kleiner Städte, ja auch Dörfer prägten. Wer die Erinnerungen von Soma Morgenstern (In einer anderen Zeit) oder auch Stefan Zweigs (Die Welt von Gestern) gelesen hat, kennt andere Echos dieser Zeit.
Das jugoslawische Königreich wirkte bisweilen wie ein Umschlagplatz, auf dem keine Handelswaren, sondern politische Ideen, nationale Spinnereien, Abenteurer, Agenten und Flüchtlinge verladen wurden.
Alida Bremer: Träume und Kulissen
Split, in dem Alida Bremers Roman »Träume und Kulissen« spielt, ist auch so ein Echo, ein besonderes. Ich gestehe, dass ich erst einmal eine Karte konsultieren musste, um herauszufinden, wo dieser Ort überhaupt liegt. Dalmatien, eine historische Region, die bereits seit zweieinhalbtausend Jahren immer wieder im Fokus politischer Umwälzungen gelegen hat. Hier hat Bremer die Handlung ihres Romans angesiedelt.
Dessen erster Satz ist eine Irreführung, zugleich der eiserne Faden der Handlung, der genug kriminalistische Motive aufgreift und ausführt, dass man ihn auch als Krimi lesen könnte. Allerdings gehört „Träume und Kulissen“ zu jenen kriminalistisch angehauchten Geschichten, die ganz etwas anderes erzählen möchten. Split ist 1936 ein Tummelplatz unterschiedlicher Kräfte aus vielen Nationen und politischer Ideologien, mit widersprüchlichen Zielen, die Konflikte entfachen.
Irgendwann um die Mitte des Buches findet sich eine sehr stimmungsvolle Szene, die auf den ersten Blick idyllisch wirkt. Wer je eine Reise in die mediterrane Welt unternommen hat, kann das Geschilderte nachempfinden. Die Atmosphäre täuscht.
Zu dieser Stunde kehrten die Bauern von den Feldern zurück, ihre Frauen tischten Makkaroni oder Polenta mit heißem brudet auf, man schnitt dicke Scheiben von den Brotlaiben und füllte Wein in Glaskaraffen, während die Kinder noch durch die Gassen liefen, die Fischer sich vor ihren Barken versammelten, um den Himmel zu begutachten und sich über den Fischfang der bevorstehenden Nacht auszutauschen. Die Fensterläden, die tagsüber vor der Sonne schützten, wurden aufgerissen. Mit der Dunkelheit stieg vom Meer ein zarter Luftstrom auf.
Alida Bremer: Träume und Kulissen
Im gleichen Kapitel wird ein Gespräch geführt, das die antimoderne Strömung Mitte der 1930er Jahre schmerzhaft offenlegt: Rassismus, antimodernes Frauenbild, gerade der italienischen Faschisten, ideologisch Hand in Hand mit der katholischen Kirche, Kriegsträumerei, Imperialismus, um nur einige zu nennen.
Dieses Neben- und Gegeneinander vor politischen Ansichten, die so gar nichts mit dem »zarten Luftstrom« gemeinsam haben, sondern menschenverachtend und in einem atemberaubenden Maße rückwärtsgewandt sind, und Idylle gehört zu den großen Vorzügen des Romans.
Die Abgründe werden beim Namen genannt, wenn ausgerechnet jener Mann, der sich mit den neuen Ideologien nicht anfreunden will und auch die herabwürdigende Verachtung gegenüber den Frauen ablehnt, die Opfer des Abessinienkrieges als minderwertige Untermenschen ansieht. Sie verstünden ohnehin niemals Dante Alighieri – was also wollte Italien mit den »Negern«?
Spätestens an dieser Stelle verweht auch der letzte Hauch Idyll. Der Leser weiß, was die handelnden Figuren nicht wissen, einige von ihnen argwöhnen oder unken: Blutige Jahre, mit brutalsten Gewalttaten, hunderttausenden Toten liegen vor dem zerrissenen Land namens Jugoslawien. Und wie bei einem nur mühsam abgedichteten, nicht erloschenen Vulkan sollten fünfzig Jahre später die Gewalttaten noch einmal aufflammen.
»Es würde mich nicht wundern, wenn wieder ein Krieg ausbrechen würde. Und ich könnte mir vorstellen, dass der neue Krieg noch schlimmer sein wird als der letzte.«
Alida Bremer: Träume und Kulissen
Das Split dieser Erzählung ist nicht umsonst »Kulisse« mehrerer Filme, die von einem deutschen Filmteam gedreht werden sollen. Die Schatten von Hitlers Deutschland und Stalins UdSSR liegen auch auf diesem Landstrich, aus der Ferne treibt die ideologische Frontstellung die innere Spaltung voran, denn es gibt Anhänger des Ante Pavelić, des späteren faschistischen Führers Kroatiens, und solche des Josip Broz Tito, einem Revolutionär mit kommunistischen Neigungen. Das kommende Drama in zwei historischen Figuren konzentriert.
Doch die Deutschen kommen keineswegs nur als obskure Mitglieder von Filmteams, denen Spionage und subversive Tätigkeiten unterstellt werden. Es gibt auch jene, die fliehen; jene, die Schlepper brauchen, um eine Passage in die USA zu ergattern.
Hier schlägt der Roman eine Brücke in die Gegenwart, in der Flüchtlinge in vielen Teilen der Welt, gar nicht so weit weg vom ruhigen Zentraleuropa um eine Zukunft und ihr Überleben kämpfen. Wie wahrscheinlich zu jeder Zeit reagieren auch die Menschen im Roman zwiegespalten und widersprüchlich auf die »Reisenden«, wie das Zitat schön zeigt.
Es gibt Menschen, die davon träumten auszuwandern, und zugleich argwöhnisch die Reisenden beäugten, die in letzter Zeit durch die Gassen der Stadt schlichen.
Alida Bremer: Träume und Kulissen
Im Laufe der Handlung werden auch Antworten auf die kriminalistischen Fragen gefunden, die den Leser durch die überhitzten Tage begleiten. Eine Vielzahl von Personen ist mehr oder weniger in den Fall verwickelt, einige werden von den mit verschiedenen politischen Zielen verfolgenden Behörden hineingezogen. Im Laufe der Romanhandlung nehmen Lärm, Willkür und Gewalt in kleinem Rahmen das voraus, was noch folgen wird.
Insgesamt bleibt »Träume und Kulissen« seltsam unscharf, als läge die geschilderte Hitze auch über den Worten. Der Leser wird nicht an die Hand genommen und im Sinne des um sich greifenden betreuten Lesens durch das Buch geleitet, Perspektiv- und Ortswechsel, Sprünge, Handlungen ohne explizite Erläuterung oder Motivation machen das Lesen spannend; man kann das Buch auch als Krimi zum Schmökern lesen, sich des Essens und der Wärme erfreuen und warten, bis der Mörder enthüllt wird. Doch das Ende holt jeden Leser irgendwann ein.
Eine sehr schöne, anders akzentuierte Buchbesprechung zu Träume und Kulissen finden Sie auf dem Blog Horatio-Buecher.
Alida Bremer: Träume und Kulissen Jung und Jung 2021 gebunden 306 Seiten ISBN: 978-3-99027-258-9
Ein vielschichtiger Roman, der das MeToo-Thema mit anderen sozialen und politischen Themen gekonnt verknüpft, vor allem dem der Migration. Cover S.Fischer, Bild mit Canva erstellt.
Der Autorin Antje Rávik Strubel ist mit ihrem Roman Blaue Frau das Kunststück geglückt, ein individuelles Schicksal mit dem komplexen Netz zu verweben, das die Lebenswege in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts bestimmt. Das macht den preisgekrönten Text zu einem Glücksfall, denn Strubel hätte auch den viel leichteren Weg gehen und sich auf eine einzelne Erzähl-Linie beschränken können. Das hätte Blaue Frau allerdings um einen erheblichen Teil ihres Wertes beraubt.
Wie an den vielen kritischen, ja wütenden Reaktionen auf den Roman zu sehen, wurden die Erwartungen von Teilen des Lesepublikums verfehlt. Ich spreche hier nicht von den Troll-Horden, die pöbelnd über Blaue Frau herfallen und aus unterschiedlichen Gründen darauf einprügeln. Es geht um jene, die das Buch auf der Suche nach eng begrenzten Motiven gelesen haben: starke Frau, MeToo-Anklage oder (justiziale) Rache.
1968 trugen Demonstranten in Frankfurt und Paris stolz jene Köpfe auf Transparenten durch die Straßen, die dafür verantwortlich waren, dass in Prag auf Demonstranten geschossen wurde.
Antje Rávik Strubel: Blaue Frau
Diese Dinge finden sich in dem Roman, allerdings eingebettet und verstrickt mit politischen, historischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen Aspekten. Nicht wenigen erscheint das offensichtlich als abschweifend, ihre herbeigewünschte Hauptsache von Nebensächlichkeiten erstickt. Dabei gibt es in diesem Buch keine Nebensächlichkeiten, alles hängt miteinander zusammen und beeinflusst sich gegenseitig.
Die Alternative wäre ein eindimensionaler Hollywood-Helden-Schwank gewesen, der die Hauptfigur Adina oder vielleicht Kristiina, die tapfere Aktivistin und Parlamentsabgeordnete, eine Art Rachefeldzug zu einem erfolgreichen Ende führen lässt. Zum Glück ist Strubel dieser Versuchung nicht erlegen, sondern den schwereren Weg gegangen, ihre Personen mit Schwächen, Widersprüchen und Schattenseiten auszustatten. Ihre Hauptfigur ist in vielerlei Hinsicht sperrig. Und das ist auch gut so.
Wir haben zwei Realitäten innerhalb der EU, die auf gegensätzlichen Erinnerungsregimen beruhen.
Antje Rávik Strubel: Blaue Frau
Adina kämpft nach dem traumatischen Erlebnis eines sexuellen Übergriffs und der abermaligen Begegnung mit ihrem Peiniger mit den Gespenstern ihrer Vergangenheit. Und doch will sie nicht aussagen vor Gericht, sich nicht auf das Spiel einlassen, das mit der Öffentlichkeit gespielt werden könnte, um dem Übeltäter zu schaden.
Auf den ersten Blick könnte man annehmen, sie wolle sich nicht helfen lassen, auf den zweiten stellt sich die Frage, ob sie sich nicht einspannen lassen will in die Denk- und Handlungsweise ihrer Helfer, der dritte richtet das Augenmerk auf strukturelle Faktoren, die einen Gang vor Gericht problematisch, wenn nicht sinnlos machen.
Die Autorin geht dabei äußerst geschickt vor. Die Frage, wem das Helfen hilft, wird in anderem Zusammenhang früh im Buch aufgeworfen. Leonides, Vorkämpfer für Menschenrechte, meint, dass eine Gabe immer auch für den Gebenden hilfreich sei. Später wird dieser Zusammenhang immer wieder angedeutet, diejenigen, die sich für Adina einsetzen, tun dies immer auch in eigenem Interesse.
Das wiederum ist ihrem Weltbild, ihren Erfahrungen, ihren Zielen und den Mitteln geschuldet, die sie anwenden, um sie zu erreichen. Und es heißt nicht, dass es schlecht oder unlauter wäre. Derart differenziert und vielschichtig ist „Blaue Frau“.
Die Frage ist, welche Hände Leonides gewaschen hat, ob er zur Verteidigung der Menschenrechte die Hände derjenigen waschen muss, die diese Rechte verletzen. Auch wenn es sich um eines der elementarsten Rechte handelt, das Recht, über den eigenen Körper selbst zu bestimmen.
Antje Rávik Strubel: Blaue Frau
Adina könnte auf diese Weise selbst zu einem Mittel werden, mit dem ein Zweck erreicht werden soll, verweigert sich aber. Sie ist keineswegs passiv, sondern tritt trotz ihrer prekären Lage mit Gesten der Stärke auf. Am Ende greift zu einem eigenen, sehr persönlichen Mittel, das im Verlauf des Romans motivisch wunderbar vorbereitet und auf das Finale hingeleitet worden ist.
Auch für Helfer ist das Helfen nicht einfach, weil diejenigen, denen sie helfen wollen, sehr eigene, widersprüchliche Vorstellungen haben. Das kann für den Leser unangenehm sein, wenn er aus seinen bequemen Selbstverständlichkeiten gescheucht wird. Vor allem aber wird klar, wie wenig sich für Opfer sexualisierter Gewalt innerhalb des bestehenden Justizsystems die eigenen Rechte durchsetzen lassen. Ein Sieg vor Gericht würde den Roman zu einer romantisierenden Farce degradieren.
Dabei habe ich mehr und mehr verstanden, wie wenig Fälle überhaupt angezeigt werden, und das liegt daran, dass so wenig verurteilt werden. Aber auch, was es für eine Hürde für eine Frau ist, der so etwas passiert ist, vor Gericht auszusagen.
Antje Ravik Strubel im Interview
Zu den Stärken des Romans gehört seine Struktur. Adinas Weg wird in vielen Erzählschleifen und Rückblenden erzählt, er ist verschlungen und gewunden, die zahlreichen zeitlichen Sprünge machen die Lektüre für meinen Geschmack richtig interessant und lohnenswert, denn so können Aspekte einander gegenübergestellt oder miteinander verknüpft werden, die zeitlich oder geographisch bei einer rein linearen Erzählweise getrennt bleiben müssten.
Aus den Lesermeinungen ist deutlich abzulesen, dass das von vielen als zu komplex empfunden wird. Wie sonst ist es zu erklären, dass wesentliche inhaltliche Teile, politische-historische Aspekte wie die bleierne Besetzung Osteuropas durch die Sowjetunion oder die Ignoranz des Westens gegenüber den Verbrechen gegen die Bevölkerung als Nebensächlichkeiten wahrgenommen werden?
Es geht ums Gehörtwerden, Sichtbarmachen von Schicksalen, die allzu schnell abgetan werden mit Worten wie Wirtschaftsmigranten. Zu diesem Bedürfnis gesellt sich jenes, zur Gesellschaft dazuzugehören und respektiert zu werden. Denn Blaue Frau ist auch eine Migrationsgeschichte, mit weit in die Vergangenheit reichenden Wurzeln.
Und wenn ihr die jungen Frauen mit Schirmkappen auf Deutsch antworteten und nicht auf Englisch, nahm ihr das Glück fast die Luft. Sie merkten nicht, dass Adina keine Einheimische war. Für sie gehörte Adina dazu.
Antje Rávik Strubel: Blaue Frau
Wer den Klappentext des Romans selektiv gelesen, sich nur von Schlüsselworten wie „unsichtbar gemacht“ oder „aufwühlend“ angesprochen gefühlt oder Blaue Frau als lautes MeToo – Pamphlet gekauft hat, dürfte enttäuscht und vielleicht auch überfordert gewesen sein. Es ist auch nicht angenehm zu lesen, dass Gerichte nicht für Gerechtigkeit existieren, außer in amerikanischen Filmen, mit ihren heroischen Schlachten unter dem Schwert der Justizia. Aber nicht zuletzt das macht den Wert von Blaue Frau aus.
Für mich der besten Frontkriegsroman, den ich gelesen habe. Ohne das Pathos von Jüngers Stahlgewittern und die Moral von Remarque ist Die Stalinorgel ein Spiegelbild der zynischen Grausamkeit des Krieges. Das Buch ist Teil meines Lesevorhabens Wiedergelesen – 4 für 2025.
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Bücher begleiten mich schon mein ganzes Leben, auf dem Leseweg habe ich sehr viele großartige Romane und Sachbücher lesen dürfen, von denen ich gern erzählen möchte. Das ist ein Grund, warum ich blogge.