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Schlagwort: Antisemitismus (Seite 1 von 7)

Dreimal Adolf Eichmann

Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht. Das Bild, das der ehemalige Angehörige der SS abgibt, unterscheidet sich sehr von der Person, die mir in Romanen bzw. Graphic Novels begegnet ist.

Dreimal ist mir Adolf Eichmann in Romanen bzw. Graphic Novel als handelnde Figur begegnet. Zuletzt bei Ritchie Girl von Andreas Pflüger, davor in der Graphic Novel Die drei Leben drei Leben der Hannah Arendt von Ken Krimstein und im Roman Das Verschwinden des Joseph Mengele von Olivier Guez bzw. in der Umsetzung als Graphic Novel.

Das Foto zeigt Eichmann in Jerusalem vor Gericht. Das ist jener Eichmann, von dem Hannah Arendt berichtet, jene Gestalt, die in der Regel mit der »Banalität des Bösen« in Verbindung gebracht wird. Tatsächlich wirkt Eichmann eher wie ein Staubsaugervertreter oder Handelsreisender in Sachen Versicherung.

Ganz anders bei Guez, der über Eichmann (aus der Sicht von Josef Mengele) im argentinischen Exil berichtet. Ein Star, der Autogramme gibt und großsprecherisch auftritt, seinen »Rang« im so genannten »Dritten Reich« wie eine Monstranz vor sich herträgt und von einem Comeback in einem »Vierten Reich« schwadroniert. Mit dem Bild, das die »Banalität des Bösen« assoziiert, passt das nicht mehr ganz zusammen.

Das gilt noch mehr für jenen Eichmann, der bei Pflüger in Richie Girl dem Leser entgegentritt. Der Autor hat in einem Nachwort zu seinem Roman die Gestaltung dieser Figur noch einmal aufgegriffen und explizit auf Ahrendt verwiesen: Von deren Vorstellung wollte er »seinen« Eichmann abheben. Das ist gelungen, Pflügers Eichmann ist eine dämonische, selbstsichere und eiskalte Figur.

Bei der Lektüre von Thomas Meyers biographischem Abriss über Hannah Arendt musste ich wieder daran denken, wie unterschiedlich die Sicht auf einen Menschen sein kann. Im Falle Arendt hat ihr spezifischer Zugang zu dramatisch zu nennender Kritik und Anfeindungen geführt. Die Aufregung von damals glüht bis in die Gegenwart nach.

Neue Lektüre: Raumfahrt und Höllenritt

Die Geschichte der georgischen Familie gleicht einem Höllenritt, der Aufbruch ins Weltall ist aus anderen Gründen kaum weniger dramatisch

Meine aktuelle Romanlektüre ist eine epische Familienerzählung, die in Georgien in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ihren Ausgang nimmt. Ein echter Wälzer mit mehr als eintausend Seiten, wie sich schnell zeigt schön erzählt und ohne die oft als Ausweg erzählerischer Armut gewählte Gewalt. Natürlich ist die Gewalt spürbar, schließlich geht es um russländisch-imperiale Geschichte. Abermillionen Menschen sind in Strömen von Blut inmitten von Kriegen, Revolutionen, Bürgerkriegen, Deportationen und Massenhinrichtungen ertrunken.

Autorin Nino Haratischwili lässt ihre Leser oft indirekt daran teilhaben, schildert die Folgen und Wirkungen der schrecklichen Ereignisse. Ihre Figuren begegnen den dramatischen Umstürzen nicht selten mit himmelschreiender Naivität und dem Drang, die Schrecken zu verdrängen, was gut ein Jahrzehnt nach Erscheinen von Das achte Leben (für Brilka) ja in mancher Hinsicht auch hier Realität geworden ist.

Der Roman ist das vierte Buch meines Lesevorhabens 12 für 2025.

Mit der Graphic Novel Der Aufbruch ins All von Arnaud Delalande (Autor), Éric Lambert (Illustrator), Anja Kootz (Übersetzerin) geht es scheinbar in eine wesentlich friedlichere Richtung: die Raumfahrt. Aber die hat durchaus schreckliche Wurzeln, etwa die V2, erdacht und entwickelt von Wernher von Braun während des Zweiten Weltkrieges. Tausende sind durch ihren Einsatz gestorben, mehr noch bei der Produktion.

Vor allem aber stellt sich die Frage: Soll man so große Ressourcen in die Weltraumfahrt stecken? Meine Antwort ist: ja. Ich bin sehr gespannt, welche weiteren Fragen bei der Lektüre aufkommen und wie sie beantwortet werden.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Das Zitat ist Programm: Die Todessehnsucht war (neben Drogensucht) jahrelanger Begleiter des ruhelosen Schriftstellers Klaus Mann. Sein natürliches Habitat war die Großstadt, er lebte ohne festen Wohnsitz in Hotels, Pensionen und bei Freunden. Cover Rowohlt Berlin, Bild mit Canva erstellt.

Zwei überväterliche Großschriftsteller an einem Tag, das war wohl zu viel für den ewigen Sohn.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Todessehnsucht und Drogenmissbrauch gehörten zu den Wegbegleitern von Klaus Mann. Die Biographie von Thomas Medicus beginnt folgerichtig mit dem Ende, dem Suizid am 21. Mai 1949. Es war nicht der erste Anlauf, dem Leben mit einem Freitod ein Ende zu setzen, gar nicht zu reden von den zahllosen Gedanken an den Tod, der ewigen Sehnsucht nach dem Tod.

In seinen 42 Lebensjahren zwischen 1906 und 1949 erlebte Klaus Mann die dramatischen Brüche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1914, 1918 und insbesondere 1923 prägten ihn, der damit zur so genannten Kriegsjugendgeneration zählt. Die ihnen attestierten Attribute, Härte, Kühle, Verschlossenheit, Durchsetzungsfähigkeit waren Klaus Mann aber völlig fremd.

Gerade in den zwanziger Jahren lebte der Sohn des berühmten Thomas Mann und Neffe von Heinrich Mann auf schnellem, großem Fuß, sein natürlicher Lebensraum war die Großstadt, Theater, Amüsement, Clubs, Partys, Ausschweifungen, Sex, Alkohol, später immer mehr Drogen. Auftritte vor Publikum, auf der Bühne als Schauspieler oder Autor, der Hang zur Selbstinszenierung. Ein Dandy in perfekt sitzenden Anzügen, der sich bald als Dauerbewohner von Pensionen und Hotels durchs Leben schlug, immer in Geldnöten, oft alimentiert von seiner Mutter.

Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war eine Epoche auf Messers Schneide. Es gibt Menschen, die ein Zeitalter deshalb verkörpern, weil sie dessen Höhen und Tiefen, Irrrungen und Wirrungen, vor allem Gefährdungen bis in die letzte Faser durchleben wie durchleiden. Klaus Mann ist so eine Symbolfigur.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Klaus Mann war hochsensibel, sehr verletzlich, fiel als Homosexueller aus dem gesellschaftlich als Norm akzeptierten Rahmen, insbesondere, weil er – anders als sein Vater – aus seinen homoerotischen Neigungen keinen Hehl machte. Zudem stand er als ewiger Sohn unter immensem Druck, ein Wettlauf als Schriftsteller mit dem übermächtigen Vater, den er nicht gewinnen konnte.

Dabei schrieb Klaus Mann mit großer Leichtigkeit und immenser Geschwindigkeit seine Werke. Biograph Medicus verweist darauf, dass die Detailarbeit, das prüfende Feilen und Durchforsten der Bücher, nicht zu den Stärken des Autors gehörten. Ihnen haftet oft etwas Flüchtiges an. Stoffe wie Alexander oder Sinfonie Pathetique sind weder bis ins Detail durchrecherchiert noch loten sie musikalische Tiefen aus. Sie haben eine stark autobiographische Note. 

Neben den Romanen und autobiographischen Texten schrieb Klaus Mann Bühnenstücke, Kurzprosa, Lyrik, aber auch Beiträge für Zeitungen, Journale, Anthologien, gemeinsam mit seiner Schwester Erika auch Reise- und Kriegsberichte. Er versuchte sich auch als Herausgeber. Obendrein gibt es unveröffentlichte Texte, etwa eine Biographie zu Horst Wessel – ein erstaunliches Projekt von Klaus Mann.

Seine anwachsende Liebe zu Frankreich bildete den Kern seiner Entwicklung zum kosmopolitischen Intellektuellen. Dass Klaus Mann 1933 nicht eine Sekunde zögerte, dem nationalsozialistischen Deutschland den Rücken zu kehren, hatte auch damit zu tun.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Der schwerwiegendste Bruch folgte 1933 mit dem Machtantritt Adolf Hitlers. Aus dem freiwilligen Vagabunden wurde ein Exilant. Es war ein dramatischer Unterschied, auch wenn sich äußerlich das Umherziehen kaum änderte und Klaus Mann in Frankreich einen Ort hatte, an dem er sich – soweit möglich – wohlfühlte. Doch die Entwurzelung traf ihn schwer, er konnte nicht nach Deutschland zurück, das Gefühl des Ausgestoßenseins traf ihn wie alle anderen Exilanten.

Zu den Gefährdungen und Wirrungen der 1930er Jahre gehört das Drama, dass mit der stalinistischen Sowjetunion eine zweite, auf einer Vernichtungsideologie basierende Diktatur in Europa ihr blutiges Haupt erhob. Die Todfeindschaft zum Nationalsozialismus war das einzige Pfund, mit dem Stalins Reich wuchern konnte – bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1939, der unter den ohnehin zerstrittenen Emigranten die bestehenden Gräben zu offner Feindschaft und Hass vertiefte.

Klaus Mann war kein Kommunist, eher ein idealistischer Schwärmer. Als Homosexueller gehörte er zu einer von den Linken wie den Rechten angefeindeten Gruppe; Bertholt Brecht hat sich in dieser Hinsicht mit bemerkenswert schäbigen Äußerungen hervorgetan.

Eine Reise in die Sowjetunion brachte Ernüchterung, die Klaus Mann im Tagebuch klar äußerte; öffentlich blieb er indifferent, obwohl Andre Gide, sein großer Leuchtstern unter den Denkern, mit bemerkenswerter Klarheit die Abgründe von Stalins Reich beschrieb. Familie ging vor Politik. Wegen Heinrich Manns (zutiefst naiver, von Stalins Schergen ausgenutzter) kritikloser Haltung gegenüber der stalinistischen Sowjetunion unterließ Klaus Mann ein klares Statement.

Was erste Jahrzehnte später zu den Grundelementen der Kritik am real existierenden Sozialismus gehörte, formulierte Gide bereits 1936/37 mit großer Klarheit.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Einige Jahre später ergab sich für Klaus Mann daraus eine erhebliche Gefährdung. Als die USA nach langer Neutralität durch die Kriegserklärung Deutschlands und Italiens endlich gegen Hitlerdeutschland militärisch vorgingen, wollte er seinen Beitrag leisten. Aus körperlichen und vor allem politischen Gründen wurde er zweimal ausgemustert, vom FBI mehrfach durchleuchtet, verhört und nachtragenden Antikommunisten denunziert.

Klaus Mann befand sich in einer dramatischen Krise, hinter ihm lag ein demütigendes Scheitern mit seiner Zeitschrift Decision, hinzu kamen persönliche Rückschläge, Erkrankunge, die übermächtige Drogensucht und die immer stärker werdenden Todessehnsucht. Seine Schwester Erika ging zunehmend eigene Wege, die gefühlte Isolation wurde stärker, der Hemmschuh zum Suizid fiel weg. Die Teilnahme am Kampf gegen Deutschland sollte für einige Zeit zum Rettungsanker werden.

Klaus Mann erhielt in Uniform Aufschub. Er wurde amerikanischer Staatsbürger und Teil der US-Streitkräfte. Seine Kriegszeit verbrachte er in Nordafrika und Italien, direkt nach der Kapitulation der Wehrmacht fuhr er nach München, in die zertrümmerte Heimat, zu dem ebenfalls halb zerstörten Wohnhaus der Eltern. Es gebe keine Rückkehr, konstatierte Klaus Mann – man kann sich ausmalen, was diese Erkenntnis beim Strauchelnden auslöste.

Die Biographie ist das erste Buch aus meinem Lesevorhaben 12für2025

Thomas Medicus: Klaus Mann
Ein Leben
Rowohlt Berlin 2024
Gebunden 544 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0154-7

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Der Fluss spielt im brillanten Roman Grenzfahrt eine wichtige Rolle. Er trennte bis zum 22. Juni 1941 Wehrmacht und Rote Armee, ehe das apokalyptische Unternehmen »Barbarossa« seinen Anfang nahm. Cover Suhrkamp-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Keine eigene Geschichte, nur die der anderen. Der Russen, der Deutschen. Sie waren gekommen, hatten Schutt und Asche hinterlassen und waren wieder gegangen.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Große Teile des Romans werden aus einer mittleren Perspektive erzählt. Zwar ist der Ort in Polen gelegen, doch könnte man das alles auch auf ganz Mittelosteuropa beziehen. Dazwischen. Hier die Deutschen, dort die Sowjets, Hammer und Amboss, alle anderen dazwischen. An einem Fluss, der die beiden Gebiete trennt. Die Gegend am Fluss präsentiert als geschichtsloser Raum, den die anderen, die Russen und Deutschen, gefüllt haben.

Die Geschehnisse spielen im Spätfrühling 1941, es ist Ende Mai, Anfang Juni, der nahende Vernichtungskrieg, die große Blutmühle des 20. Jahrhunderts liegt bereits schwer in der warmen und heißen Luft. Geschütze stehen von Tarnnetzen verborgen im Garten, Panzer, Opel Blitz, Motorräder und marschierende Infanterie wirbeln Staub auf, der große Aufmarsch ist im Gange. Auf der anderen Flussseite Bunker, Wachen, Patrouillen. Nachts erhellen Leuchtraketen den dunklen Himmel.

In diesem seltsamen Zwischenraum zu dieser Zwischenzeit vor dem hereinbrechenden Verhängnis tummeln sich die unterschiedlichsten Menschen, die sich unter gewöhnlichen Umständen nie getroffen hätten. Dörfler, Bauern, Hirten; Partisanen mit großen Reden und brutalem Verhalten; Schmuggler; Fliehende, oft Juden, die nach Osten wollen; Rückkehrer aus dem Osten, weil dort auch kein Ort zum Überleben ist.

Eine der Hauptpersonen ist der Fährmann, der in dunklen Nächten sein bereits vor dem Krieg betriebenes Geschäft fortführt. Er lässt sich für das große Risiko bezahlen, ist aber ein ehrlicher Mensch, betrügt seine menschliche Fracht nicht. Er arbeitet auf dem Fluss, dem Dazwischen, pendelt und gerät auch in anderer Hinsicht zwischen die Fronten. Eine lebensbedrohliche Lage für ihn, in einer Zeit, in der das einzelne Leben seinen Wert eingebüßt hat.

Er betrachtete die Spuren der Raupe und begriff nicht, warum die Deutschen gekommen waren und warum sie weiterziehen wollten.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Erzählt wird in wechselnden Perspektiven. Die Sichtweisen sind zum Teil außergewöhnlich, wenn etwa jener hinterwäldlerische Dörfler staunend die Wehrmachts-Kolonnen betrachtet, völlig ahnungslos, woher die Deutschen kommen, was um alles in der Welt sie in seiner Heimat wollen und – ein noch größeres Rätsel – warum sich die Deutschen mit den Sowjets anlegen werden. Und ja, das fragt sich der Leser dann auch.

Stasiuk hat seinen Roman Grenzfahrt mit einer weiteren Zeitebene versehen, in der der Ich-Erzähler mit seinem Vater in ebenjener Gegend sich aufhält, Jahrzehnte später, wenn das große Vergessen alles in den Abgrund zieht, was damals dort geschehen ist. Die Spuren sind rar, das Bedürfnis des Ich-Erzählers, etwas über die Zeit zu erfahren, viel größer als die Neigung des Zeugen, davon zu berichten.

Eine magische Passage erzählt von einem Foto, das der Erzähler betrachtet. Ein „Bild aus jener Zeit“. Er beschreibt die Personen, die zu sehen sind, wohin sie schauen. Sie sehen Dinge, die man auf dem Foto nicht sieht, die aber trotzdem da sind. Der Ich-Erzähler weiß, dass vor dem Foto-Betrachter ein Fenster ist,  eine Tür, er kennt das Haus, hat früher aus dem Fenster geschaut. Trotzdem wusste der Ich-Erzähler lange nicht, was von der Landschaft, die er gesehen hat, noch verborgen ist.

Es kann sein, dass gut fünfzig Kilometer weiter schon die Feuer von Treblinka brennen.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Darüber wurde nicht gesprochen, nicht mit den Kindern. Der Erzähler hat seiner Großmutter zugesehen, wie sie ohne Licht in der Nacht die Kühe gemolken hat. Weiße Milch, ein ganzer Eimer voll aus dieser „tiefsten Finsternis“, die „tiefer als die Nacht selbst“ war. Wer denkt hier nicht an Celans berühmte Gedichtzeile aus der Todesfuge? Schwarze Milch der Frühe. Stasiuk hat seine Grenzfahrt auch zu einer Reise in poetische Bilder gemacht, die – passend zu dem, was in der Vergangenheit geschah – grundlegende Fragen der menschlichen Existenz berühren.

Heroisch ist nichts in diesem Roman. Das gilt auch für die Gruppe an Partisanen, die in der Gegend herumstreift und im Grunde genommen die Bevölkerung drangsaliert. Für den Kriegsverlauf hat das wirre Hin und Her keinerlei Bedeutung, manchmal wirkt die Gruppe wie Schuljungen, die Partisanen spielen. Sie zählen Wehrmachtsfahrzeuge und streiten sich, ob bestimmte Fahrzeuge Panzer sind oder nicht. Nie werden diese Informationen irgendwohin weitergeleitet.

Stasiuk lässt ihre Handlungen brutal, von großen, hohlen Worten umhallt und mit fürchterlichen Folgen erscheinen. Es gibt Tote, man hängt jemanden mit erschütternder scharfrichterlicher Inkompetenz. Ein ähnliches Fiasko ist auch der Versuch, ein Schwein zu töten. Im Grunde genommen sind alle Aktionen der Partisanen sinnlos, gefährlich nur für die Zivilbevölkerung. Eine Bande, Räuber, Marodeure statt heroischer Widerständler.

Der latente Antisemitismus schlägt immer wieder durch, was zwei jüdischen Flüchtlingen fast zum Verhängnis wird. Sie kommen aus der Stadt an den Fluss, in der Hoffnung, dem sicheren Tod im Herrschaftsraum der Deutschen zu entgehen, wenn sie auf die andere Seite, zu den Sowjets gelangen. Eine Illusion, wie so vieles in Grenzfahrt. Stattdessen kumuliert die Handlung in einer schrecklichen Missetat, während die letzten Minuten vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion verrinnen.

Große europäische Literatur.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Suhrkamp 2023
Gebunden, 368 Seiten
ISBN: 978-3-518-43126-9

Göttinger Literaturherbst 2024

Diesmal war ich beim Göttinger Literaturherbst per Digital-Ticket und nicht live dabei. Ich habe daher recht viele Veranstaltungen angeschaut und einige interessante Bücher kennengelernt. Bild mit Canva erstellt.

In diesem Jahr habe ich nicht wie 2023 im Vorfeld Karten für die Lesungen des Göttinger Literaturherbstes 2024 gekauft. Ich dachte, ich würde für jene, die mich interessieren, kurz vorher noch welche bekommen können. Das wäre in den meisten Fällen wohl auch so gewesen, doch leider war ich verhindert und konnte keine einzige Veranstaltung vor Ort besuchen.

Es gibt zum Glück das Digital-Ticket. Mit dem kann man bequem vom Sofa die Lesungen auf dem TV anschauen. Das ist kein Ersatz, die Atmosphäre vor Ort, insbesondere in der Aula am Wilhelmsplatz, dem Alten Rathaus oder dem Deutschen Theater, ist nicht zu ersetzen. Der große Vorteil des Online-Tickets ist jedoch, dass man tatsächlich alle Lesungen hören kann, die man hören will.

Nur zwei der vorgestellten Bücher kannte ich bereits, Die Welt in Aufruhr von Herfried Münkler sowie Herrndorf von Tobias Rüther.

Die Lesung der Biographie des viel zu früh gestorbenen und von mir sehr geschätzten Schriftstellers Wolfgang Herrndorf war mein persönliches Highlight: Gemeinsam mit Anneke Kim Sarnau las Autor Tobias Rüther aus der Biographie und den Werken Herrndorfs vor. Ein Wechselgesang durch Leben und Werk, der auf eine eindringliche Weise nahegeht. Sand und In Plüschgewittern habe ich ja schon vorgestellt, nun wird bald einmal Zeit für Tschick.

Sehr gelehrt ist das Buch Die Welt in Aufruhr von Herfried Münkler, es hält für den Leser Zumutungen bereit, wenn ausführliche Ausflüge in Geschichte und Ideenwelten unternommen werden. Nicht immer gelingt der Weg zurück in die Gegenwart, wie beispielsweise bei den Vorstellungen Machiavellis, die eine Blaupause für die EU sein könnten (laut Münkler). Aber: Nach der Lektüre ist klar, dass jene, die beispielsweise gern das Wort „komplex“ im Munde führen, um sich gegen Waffenlieferungen auszusprechen, oft genau das Gegenteil meinen, eine völlig unstatthafte Verschlichtung.

Besonders interessant war die Veranstaltung zu Muslimisch-jüdisches Abendbrot mit Meron Mendel und Saab-Nur Cheema. Mendel, von dem ich das sehr erhellende Über Israel reden vorgestellt habe, und Cheema sind ein interreligiöses Paar, wie man so schön sagt. Ihr Buch enthält jene Kolumnen, die sie für die FAZ verfassen. Wer das liest, spürt der zeitgeschichtlichen Entwicklung nach, den Bruch mit dem 07. Oktober eingeschlossen. Gemessen an der überwältigenden Monstrosität werden Dinge wie „Mikroaggressionen“ zu Petitessen. Die Einschätzung hat der Moderatorin sichtlich nicht geschmeckt – ein Augenblick, der ein großes Drama unserer Zeit offenbart.

Ein wenig holprig habe ich die Lesung von Anne Weber zu ihrem Roman Bannmeilen empfunden. Das Buch hingegen, das ich bereits in der Vorschau wahrgenommen habe, ist sogleich auf der Leseliste gelandet, denn die Passagen sind vielversprechend. Wanderungen durch die großen, oft übel beleumundeten und klischeebehaftet wahrgenommenen Vorstädte von Paris fördern viel Unvermutetes zutage, das in die Tiefen und Abgründe der französischen Geschichte führt. Schön zum Beispiel das Thema Kriegsdenkmäler: Der Große Krieg, Zweiter Weltkrieg, Indochina, Algerien – allen wird unkommentiert gleichermaßen gedacht? Warum das keine gute Idee ist, kann man auch bei Alexis Jenni, Die französische Kunst des Krieges nachlesen.

Das Foto illustriert, was Anne Weber meint. Ich habe die beeindruckende Skulptur mit ihrer fragwürdigen Inschrift in Straßburg aufgenommen.

Mit Literatur aus Italien kann ich nicht allzu viel anfangen. Der Name der Rose von Umberto Eco, Das periodische System von Primo Levi, Dantes Göttliche Komödie, Commandante von Veronesi/de Angelis und das war es auch schon, was ich an italienischer Literatur gelesen habe. Das könnte sich ändern. In Kalte Füße von Francesca Melandri werde ich sicher einmal bei Gelegenheit hineinlesen, möglicherweise auch in Malnata von Beatrice Salvioni.

Thomas Müntzer, der bekannte Anführer aus der Zeit der Bauernkriege, war nach Ansicht von Thomas Kaufmann gar nicht so bedeutend, wie  er überliefert wird. Er sieht in ihm eine Art Scheinriesen, wie Herrn Tur-Tur aus den Büchern von  Michael Ende, der immer kleiner wird, je näher man ihm kommt. Das war nicht die einzige bedenkenswerte Aussage Kaufmanns bei der Lesung, sein Buch Der Bauernkrieg eröffnet eine neue, durch unsere Gegenwart vertraute Sicht auf das Ereignis: Ein Fokus wird auf die Medien gelegt und ihre Bedeutung für den Aufstand allgemein, aber auch für die Schaffung „des“ Bauern. Selbstverständlich ist das Thema eng mit der Reformation verzahnt, entsprechend anregend war die Veranstaltung.

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