Vinland – Piratenbrüder Band 4 hat ein offenes Ende. Im Rahmen einer Buchserie ist das wenig verwunderlich, Joshua und Jeremiah werden in drei weiteren Büchern Abenteuer zu bestehen haben. Was ist aber mit den Wikingern um Stígandr, Rydr und Eillir, deren Geschichte parallel auf einer zweiten Zeitebene erzählt wird? Auch hier kommt die Erzählung zu einem Ende, das eine Fortsetzung offensichtlich nahelegt.
Die große Fahrt Stígandrs nach Westen ist beendet. Alles, was für die Handlung der Piratenbrüder wichtig ist, wurde erzählt. Der Leser weiß, woher diese ominöse Karte stammt, die Erik zu Beginn von Vinland als Wegweiser zu einem geheimnisvollen Schatz präsentiert hat. Der Leser weiß auch, ob es den Schatz wirklich gibt und – wenn ja – was er enthält. Wie es danach weitergeht mit der Geschichte, bleibt offen. Eine große Leerstelle tut sich auf, die gefüllt werden möchte.
Stígandr hegt große Pläne, Ryldr will ihm dabei zur Seite stehen und aus persönlichen Gründen Rache nehmen, während Eillir gar keine andere Wahl hat, als die beiden zu begleiten. Gern wüsste man auch, welches Schicksal den starken Frauen Werengis und Aldis beschieden ist; wie Agda sich in ihrem neuen Leben zurechtfindet. Und dann ist da noch Berengar von Werra, der Tyske aus dem Reich der Ostfranken. Schließlich umgibt Eillirs Herkunft noch ein dichter Nebel.
Die Leser möchten wissen, wie es weitergeht. Mehrfach bin ich ermuntert worden, die Geschichte um Eillir weiterzuerzählen. Zum Glück habe ich das schon beim Schreiben von Vinland erwogen. Kaum war die erste, grobe Version getippt, habe ich mir Gedanken über eine Fortschreibung der Geschichte um »meine« Wikinger gemacht. Ich habe recherchiert und eine Skizze mit wichtigen Figuren und Konfliktlinien eines Historischen Romans erstellt.
Vielleicht hat mancher Leser auch erwartet, ich würde im fünften Teil der Piratenbrüder-Serie wieder auf zwei Zeitebenen schreiben. Möglicherweise sind sogar einige enttäuscht darüber, dass es jetzt »nur« mit den Piratenbrüdern weitergeht. Alles andere wäre jedoch keine gute Idee gewesen. Vinland hat das erzählt, was beide Zeiten miteinander verbindet; danach gehen beide Geschichten eigene Wege. Die Berührungspunkte, die es zwischen Piraten und Wikingern historisch gegeben hat, sind auserzählt.
Was Stígandr, Eillir und Ryldr erwartet, würde auch den Erzählrahmen völlig sprengen. In Vinland habe ich schon einige Themen und Motive angedeutet, die eine Rolle spielen werden. Da wären etwa die Kriege in den nordischen Ländern um die Macht, aber auch der Kampf um die Krone in England. Sven Gabelbart (was für ein toller Name!) hat sich dem Ziel verschrieben, König zu werden. Wie das historisch endete und was danach folgte, kann man auf Wikipedia kurz nachlesen.
Meine Wikinger erwartet jedenfalls ein Hexenkessel, so viel sei an dieser Stelle verraten. Das soll und muss mit einem eigenen Roman gewürdigt werden.
Nach Beendigung des letzten Romans um die Piratenbrüder werde ich mich zunächst um diesen Wikinger-Roman kümmern und danach der epischen High-Fantasy-Serie widmen. Da in der Fantasy-Welt auch eine Art »Nordmänner« ihr Unwesen treibt, ist die Recherche für den Wikinger-Roman gleich ein wenig Vorgriff auf das Fantasy-Abenteuer.
Der Wikinger-Roman wird weniger Jugendbuch sein als die Piratenbrüder, allerdings werde ich weiterhin Zurückhaltung üben, wenn es um Schlachten, Kämpfe und Sex geht. Die brutale Grausamkeit der Zeit will ich selbstverständlich nicht verschweigen, aber das geht auch ohne explizite oder blutrünstige Schilderungen. Wer so etwas will, wird anderswo fündig.
Die intensivste Phase des Schreibens liegt hinter mir. Gemeint sind die letzten zwei, drei Wochen vor dem Einzug von Verräter – Piratenbrüder Band 6 ins Lektorat. Die Zielgerade auf dem Weg von der Rohfassung zum abgabefähigen Roman. Oft waren ganze Tage und Abende angefüllt mit Korrekturen, Überarbeitungen, Streichen und erneutem Schreiben von Absätzen, Seiten, manchmal auch ganzen Kapiteln. Notizen, digital oder Zettel oder in Notizbüchern, habe ich durchgesehen, verworfen oder eingepflegt. In den Nachtstunden, wenn der Schlaf unterbrochen war, drehte sich der Gedankenkreisel um ungeklärte Fragen, aufgeschobene Entscheidungen und ungelöste Rätsel.
In dieser Zeit gab es kaum Raum für andere Tätigkeiten. Selbst das Lesen fiel in den finalen Tagen schwer, die Gedanken kehrten so beharrlich zum Manuskript zurück, dass die Konzentration flüchtig war. Aus Erfahrung weiß ich, dass allzu fokussiertes Denken Blockaden auslosen kann. Die lassen sich durch etwas Abstand vermeiden oder schnell wieder lösen. Daher zwinge ich mich manchmal dazu, ein Buch zu lesen, obwohl mich doch alles danach drängt, weiter am Text zu arbeiten und ich immer wieder von der Lektüre abschweife. Ein Hörbuch ist auch hilfreich, um die irrlichternden Gedanken für einige Zeit beiseitezudrängen.
Dann war plötzlich das Ende da. Der Text war fertig für das Fegefeuer, auch bekannt unter dem Begriff Lektorat. Dahinter verbirgt sich ein radikaler Perspektivwechsel. Wochen- und monatelang war ich allein in meiner eigenen Schreibwelt unterwegs. Jetzt nimmt meine Lektorin den Text kritisch in Augenschein und – für mich eine durchaus überraschende Erfahrung – ich selbst ändere meinen Blick auf den Text. Es ist, als würde ich eine andere Brille aufsetzen, die nahe Schreib-Sicht durch eine fernere ersetzen.
Meine Lektorin ist nicht die erste Leserin. Die Rohfassung haben schon Testleser gelesen und ihre Anmerkungen gemacht, die mir viel Arbeit bescherten. Bei Verräter brauchte eine Testleserin mehrere Anläufe, um in die Geschichte hineinzukommen. Der Anfang war redundant, zu viel klang nach einer Wiederholung dessen, was ich am Ende von Totenschiff schon erzählt habe. Eine andere Rückmeldung war allzu überschwänglich, die Begründungen weckten meine Skepsis. Ein Lob als Kontraindikator – für mich ein Novum.
Beide Rückmeldungen waren sehr produktiv. Verräter hat einen neuen Beginn bekommen, schon auf der ersten Seite rutscht der Leser unmittelbar in die Geschichte mit ihren Rätseln und Wirrungen, er spürt drohendes Unheil. Bis das eintrifft, vergehen nur wenige Kapitel, in denen anders als in den Vorgängerbänden schon die Perspektive gewechselt wird. Erzählfäden aus dem AuftaktbandEine neue Welt greife ich wieder auf und bringe sie zu einem Ende. Verräter ist der vorletzte Teil der Buchserie, das tiefe (oft auch dramatische) Luftholen vor dem Finale Opfergang. Um den letzten Teil nicht zu überfrachten, enden schon jetzt einige Erzähllinien.
Verräter ist länger geworden. Allein vier Kapitel füllen eine Lücke in der Handlung und lassen meine Piratenbrüder an einem Seegefecht teilnehmen, einem Enterkampf in klassischer Piraten-Manier. In den ersten fünf Teilen gab es das nicht, was nicht zuletzt daran liegt, das Henry de Roche alias Elijah O’Stone alias Einauge das Piratendasein aufgegeben hat. Enterkämpfe verbieten sich daher – eigentlich. Aber Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sondern auch Kaperer. Hier bot sich mir die Möglichkeit, weitere lose Erzählfäden abschließend in die Geschichte einzuweben.
Das Lektorat wird den Text verkürzen. Einige Absätze und Kapitel sind ganz heiße Streichkandidaten. Leider bedeutet das Herausstreichen auch immer den Abschied von liebgewonnenen Ideen. Gegen den Abschiedsschmerz helfen Tricks. Ich versuche, die mir wichtigen Aspekte irgendwo anders unterzubringen und streiche die dann erst in einem späteren Durchgang. Teile und streiche.
Kürzen ist immens wichtig und schadet dem Text selten. Bei der Überarbeitung von Chatou musste ich die Erfahrung machen, dass allzu sorgloses Streichen tatsächlich schädlich sein kann. Die korrigierte zweite Auflage hat das Problem beseitigt.
Manchmal ist ein Abschnitt nicht etwa zu lang, sondern nicht ausreichend ausgearbeitet. Er ist also zu kurz, obwohl er wie eine »Länge« wirkt. Nach der verbesserten Ausarbeitung ist der Abschnitt länger, wirkt aber beim Lesen kürzer. In Verräter gibt es wenigstens zwei solcher Stellen, ganze Kapitel, die potenzielle Streichkandidaten sind.
Ich weiß das. Meine Lektorin weiß das auch. Trotzdem werden wir diskutieren, denn ein Lektorat ist auch eine Art Fußballspiel, das immer nur einen Sieger (Spoiler: es ist nicht der Herr Schriftsteller) kennt. Wolfgang Herrndorf hat das so wunderbar formuliert:
Passig und Gärtner in meiner Küche zum Lektorat. Die beiden verbünden sich sofort gegen mich, schon nach kurzer Zeit führen sie mit 8:1 bei den Änderungen […]
Eine düstere Begegnung auf hoher See birgt ein fürchterliches Geheimnis. Totenschiff – Piratenbrüder Band 5 gibt es als eBook exklusiv bei Amazon (auch Kindle Unlimited) sowie als Taschenbuch (376 Seiten, 16,99 Euro) Autorenwelt, Amazon & anderen Online-Buchhändlern sowie im lokalen Buchhandel .
Untote? Nein. Gibt es nicht im Roman Totenschiff, obwohl der Titel durchaus darauf hinzudeuten scheint. Wer also eine Variante der lebenden Toten aus Fluch der Karibik, wird möglicherweise enttäuscht sein. Als ich den Film erstmals sah, fand ich die Idee der Verfluchten richtig gut, immerhin gehört Gerede über Klabautermann, Meeresungeheuer und Geisterschiffe zur Seefahrt dazu, wie Wind und Wetter. Untote hätten aber den von mir selbst gesteckten Erzählrahmen gesprengt.
Unheimlich wird es aber dennoch. »Schatten im Nebel« ist das erste Kapitel überschrieben. Die Sturmvogel hängt in einer nebelreichen Flaute fest, das allein reicht, um die unbeschäftigten Seeleute auf weite Gedankenreisen in die Welt des Seemannsgarns zu schicken. Flauten sind schließlich ein untrügliches Zeichen für Unheil, da sind sich alle einig. Differenzen gibt es allerdings, wenn es darum geht, welches Unheil das wohl sein möge.
Unvermittelt taucht aus dem gräulichen Weiß ein Schatten auf. Dann ist es plötzlich vorbei mit dem unseligen Nichtstun, denn die Begegnung mit diesem Schatten ist nicht nur ein unvergessliches Ereignis, denn nicht oft kommt es vor, auf hoher See einem derartigen Schiff zu begegnen. Es birgt ein grausames Geheimnis, das alle auf der Sturmvogel lange gedanklich beschäftigt.
Was würden sie an Bord finden? Leichenhaufen?
Totenschiff – Piratenbrüder Band 5
Jede Flaute geht vorüber und mit dem Wind endet auch die Zeit des Wartens. Es gibt einiges zu tun. Ein Schatz will vor Floridas Küste gehoben werden, das allein ist ein hochgefährliches Unterfangen. Dann überstürzen sich die Ereignisse, gerade bestandene Gefahren werden angesichts neuer Herausforderungen zu Nichtigkeiten. Pläne werden über den Haufen geworfen, neue geschmiedet, ein höchst gefährliches Unternehmen beginnt und bis zum Ende gibt es keine Ruhe mehr.
Vinlandist und bleibt mein Herzensbuch der Abenteuerreihe um die Piratenbrüder, Totenschiff ist allerdings nach Einschätzung aller bisherigen Leser das beste geworden. Nach der doppelten Zeitebene in Vinland geht es diesmal wieder allein mit der Erzählung um 1735 weiter, Spannung und Dramatik sind hoch. Auch für Joshua, der sich mit ganz eigenen Sorgen plagt.
Totenschiffist als Taschenbuch (376 Seiten / 16,99 Euro) bei Autorenwelt, Amazon & anderen Online-Buchhändlern sowie im lokalen Buchhandel erhältlich. DaseBookgibt es exklusiv bei Amazon zu kaufen bzw. im Rahmen von Kindle Unlimited zu lesen.
Ein intensiv erzählter Roman über die Nachwehen des Zweiten Weltkrieges. Cover Suhrkamp, Bild mit Canva erstellt.
Bei der Lektüre des Roman Ritchie Girl von Andreas Pflüger hat mich manchmal erstaunt, wie sehr dieser Roman von der Gegenwart zu erzählen scheint. Seit Russland seinen genozidalem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, gehen sie doch wieder um, die »Geister der Vergangenheit«, die gar nicht mehr so geisterhaft ihr blutiges Handwerk betreiben.
Im Gegensatz zum Vernichtungskrieg der Wehrmacht findet dieser vor aller Augen statt, für jeden unübersehbar. Umso bitterer, dass »Wegschauen, Schulterzucken« wieder in Mode sind, ebenso die larmoyante Kriegsmüdigkeit, das Folgen von Lügen und Propaganda – aus vielerlei Gründen. Wer sich fragt, die »das« damals geschehen konnte, bekommt Antworten präsentiert, die sehr unbequem und ernüchternd sind.
Das wirkt zurück auf die Betrachtung der Nazi-Zeit und auch zu dem, was Pflüger in seinem Roman vor dem Leser mit hoher Erzählintensität ausbreitet. Die Geschichte entfaltet sich aus der Sicht einer US-Amerikanerin namens Paula Bloom, die gegen Kriegsende nach ihrer Zeit im Camp Ritchie nach Europa zurückkehrt. Sehr intensiv erfährt der Leser das Grauen des Krieges auf den ersten Seiten, der gruseligen Überfahrt folgen grausame Eindrücke hinter der nach Norden vorrückenden Front in Italien.
Paula hat eine ungewöhnliche Biographie. Sie ist die Tochter eines Amerikaners, der in Berlin während 1930er Jahre lebte und arbeitete. Für US-Firmen, die mit deutschen Unternehmen gute Geschäfte machten, auch mit den später berüchtigten IG Farben. Moral stand hinten an, wie heute, wenn Sanktionen gegenüber Russland umgangen werden und Hochtechnologie aus dem Westen dem Aggressor ermöglicht, Krieg zu führen.
In Italien macht Paula als Übersetzerin Bekanntschaft mit einem SS-Offizier und begegnet Georg wieder, einem deutschen Offizier, an den sie ihr Herz verloren hat. Eine wildbewegte Geschichte entspannt sich, denn noch vor der Kapitulation der Deutschen wetterleuchtet der Kalte Krieg am Horizont, neue Bündnisse entstehen, Feinde, auch hochbelastete Täter aus dem Vernichtungskrieg werden wieder interessant.
Die Widersprüchlichkeit gleichzeitiger Entwicklungen, der Nürnberger Prozess und der Rückgriff auf deutsches Personal, die oft zynisch erscheint, durchzieht den gesamten Roman wie ein Bittermandelaroma. Paula wird auf einen aus Österreich stammenden Juden angesetzt, der als Top-Spion der Nazis galt. Sie soll ihm auf den Zahn fühlen, herausfinden, ob dieser Johann Kupfer lügt oder ein wertvoller Geheimdienstmann sein könnte.
Die Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht verwickelt, eine einfache Haltung einzunehmen ist für die handelnden Personen unmöglich, wie Paula zu spüren bekommt. Ihre eigene Vergangenheit, das erstickende Gefühl von Schuld wegen ihres Vaters und einer jüdischen Freundin, aber auch ihre noch immer glimmenden Gefühle gegenüber Georg holen sie ein. Ganz nebenbei erzählt Ritchie Girl auch von dem starken Gefälle zwischen Männern und Frauen in dieser Zeit, der latente und strukturelle Rassismus der US-Streitkräfte wird auch nicht verschwiegen.
Der Roman ist sehr unterhaltsam und spannend zu lesen, man fliegt durch die Seiten, vor allem, wenn die Zeitgeschichte und die handelnden Personen bekannt sind. Denn das Personentableau ist üppig geraten, der Erzählstil wirkt manchmal etwas flüchtig und ruppig, was allerdings der Handlungsdynamik sehr zugute kommt.
Beindruckend und erschütternd sind und bleiben die fürchterlichen Wechselfälle des Lebens unter der Knute von SS, Wehrmacht und Kollaborateuren während des Krieges; ebenso das, was Entnazifizierung genannt wurde, aber in vielerlei Hinsicht nicht war. Mit dem Ende konnte ich hingegen nur wenig anfangen, einige Dinge, wie das Schicksal Georgs und Kupfers, wirken inkonsequent. Das ist gemessen am gesamten Roman letztlich eine Petitesse.
Kuba im Ausnahmezustand: 2016 besucht US-Präsident Barack Obama die Insel, auch die Rolling Stones haben sich angekündigt. Die Polizei ist überlastet, Mario Conde soll aushelfen, einen Mord aufzuklären. Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.
Mario Conde nimmt im Erzähluniversum von Leonardo Padura eine ganz besondere Stellung ein. Im Havanna-Quartett ist Conde als Ermittler der kubanischen Polizei tätig, gibt diese Tätigkeit im letzten Band jedoch auf. Er begegnet dem Leser in zahlreichen späteren Romanen wieder, als Buchhändler etwa, vor allem jedoch als ein Bewohner der Insel Kuba, der versucht, am Leben zu bleiben und irgendwann einen Zugang zum Schreiben zu finden. Selbst in jenen Erzählwerken, die nichts mit Conde zu tun haben, wird er wenigstens erwähnt, sogar im Opus Magnum Paduras, Der Mann, der Hunde liebte.
Der Leser von Paduras Romanen erlebt einen wesentlichen Teil der jüngeren Geschichte Kubas an der Seite Mario Condes mit, unternimmt jedoch immer wieder weite Ausflüge in die Vergangenheit. Die Insel in der Karibik ist auf überraschend vielfältige Weise direkt oder indirekt mit der Geschichte anderer Welt-Regionen verbunden. So lebt und stirbt der Mörder Leo Trotzkis dort; Hemingway war dort, natürlich, aber auch zeitlich und räumlich weit auseinanderliegende Dinge im Erzählwerk Paduras werden motivisch miteinander verknüpft: Rembrandts Schüler in Amsterdam 1648, das Drama um jüdische Flüchtlinge auf der St. Louis 1939 und ein verschwundenes Mädchen im Jahr 2007 im Roman Ketzer.
Kuba ist seit Jahrzehnten ein wenigstens autoritär geführtes Land, das den Sozialismus als ideologisches Aushängeschild führt. Leonardo Paduras Romane beschreiben viel der Lebenswirklichkeit auf Kuba, ohne politisch in dem Sinne sein zu wollen, dass sie dieser oder jener politischen Richtung, Ideologie, Partei das Wort reden. Selbstverständlich bleibt alles dennoch stets politisch. Der jeweilige Fingerzeig ist auch ohne pathetisches J´accuse …! offenkundig. Wozu auch, denn Padura hat einen ganz eigenen Weg gefunden, sich zu den Dingen zu äußern.
Italien ist von hier aus mindestens so weit weg wie der Mond.
Leonardo Padura: Anständige Leute
Zu Beginn des Romans Anständige Leute ist Mario Condes Leben wieder einmal in Aufruhr. Seine Freundin Tamara steht davor, das Land zu verlassen, sie will nach Italien, wo Verwandte leben. Ihre Rückkehr ist ungewiss. Die Flucht aus den bedrückenden Umständen Kubas gehört auch zu den wiederkehrenden Motiven von Paduras Romanen, etwa Wie Staub im Wind. Diesmal kehren einige im Ausland lebende Kubaner zurück, darunter Freunde Condes, aber auch zwielichtige Gestalten mit unredlichen Absichten.
Obendrein stehen große Ereignisse an, denn Barack Obama und die Rolling Stones wollen die Insel besuchen. Ich erspare mir zeitgeschichtliche Erklärungen, warum Obamas Visite eine andere Qualität hatte, als der Besuch eines deutschen Regierungschefs in Frankreich. Conde hat einen für ihn überlebenswichtigen Nebenjob angenommen, als Aufpasser in einer hippen Lokalität hat er ein Auge auf Drogenkonsum. Er wird dort Zeuge, dass Ausländer, Touristen und manche Einheimische abendlich so viel Geld auf den Kopf hauen, wie gewöhnliche Inselbewohner über Wochen zum Leben ausgeben. Kuba wandelt sich, zumindest teilweise weht eine frische Brise, und die Frage stellt sich, wie weitgehend oder dauerhaft der Wandel sein werde.
Eine kleine Pause zwischen einer dunklen und einer düsteren Zeit.
Leonardo Padura: Anständige Leute
Die Antwort, die Conde auf die Frage gibt, ist pessimistisch, in seiner Eigensicht aber realistisch. Der Grund für diese Haltung liegt in der Vergangenheit, der eigenen wie auch der weiter zurückliegenden Kubas. Folgerichtig springt die Handlung des Roman zurück in die Zeit des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, den Jahren des Befreiungskampfes und der Selbstbehauptung gegen die Spanier und die USA. Erzählt wird von einer »verrückten und schmerzhaften Zeit, die in gewisser Hinsicht immer noch anzudauern schien.«
Padura spannt den erzählerischen Bogen weit und nutzt die unerfüllten schriftstellerischen Neigungen seiner Hauptfigur, um eine Verbindung herzustellen. Conde beschäftigt sich nämlich mit den Herren Arturo Saborit und Alberto Yarini, einem Polizisten, »der sich für anständig hielt«, und einem Zuhälterkönig, der zum Mythos geworden ist. Auf Yarinis Grab liegen noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts frische Blumen, wie Conde erzählt.
Das ist nur eine Verbindung von der Gegenwart in die Vergangenheit. Yarini, der Zuhälter, will hoch hinaus in der Politik, die bereits von jenen Übeln befallen ist, die auch über einhundert Jahre später auf Kuba vorherrschen. Allgegenwärtige Korruption und Misswirtschaft, begangen auch von den Helden des Befreiungskrieges, die zu Blutsaugern an jenem Staat wurden, für den sie gekämpft hatten. Polizist Saborit ist gegen die Verlockungen keineswegs gefeit, trotz seiner Eigensicht, »anständig« zu sein.
Die Parallelen zu den sozialistischen Revolutionären Kubas des 20. Jahrhunderts liegen auf der Hand, die Vergangenheit ist ein Schwarzer Spiegel für die Gegenwart. Man kann das sehen, etwa am Nebeneinander von bitterster Armut und Reichtum in Gestalt von Häusern und Wohnungen. Für das Kuba Mario Condes gilt, was Arturo Saborit in einen Erinnerungen über die eigene Zeit zu berichten wusste.
Sein Heimatland bestand in Wirklichkeit aus mehreren Ländern, deren Lebensqualität sich stark voneinander unterschied.
Leonardo Padura: Anständige Leute
Das wiederum ist mit den Idealen der kommunistischen oder sozialistischen Ideologie unvereinbar, die Gleichheit, Progressivität und Überlegenheit postuliert. Und doch ist genau das Realität, was angeblich überwunden sein sollte. Paduras Anständige Leute wirf also die ganz große Frage auf, ob es überhaupt so etwas wie einen Fortschritt gibt oder ob (auf Kuba) alles im Kern nicht so geblieben ist, wie es lange vor der Revolution schon war. Die schamlose Selbstbereicherung der Herrschenden auf Kosten des Gemeinwesens ist nur eine Facette, die Abgründe reichen tiefer.
Ein Toter namens Reynardo Quevedo bringt die Handlung in Gang, denn die Suche nach dem Mörder ist selbstverständlich mit dessen Vergangenheit und der Kubas eng verschlungen. Mario Conde wird von seinem alten Kollegen Manolo um Mithilfe bei der Aufklärung gebeten, weil die Sicherheitsorgane wegen des Besuchs von Obama bis an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit beansprucht sind. Conde springt in die Bresche und dringt auf der Suche nach dem Täter immer weiter vor, mitten hinein in die – pardon – »Scheiße«.
Das also war der Bluthund, den die, die im Land das Sagen hatten, zur Aufrechterhaltung der ideologischen Reinheit auf die Bewohner der kubanischen Republik der Künste angesetzt hatten.
Leonardo Padura: Anständige Leute
Der ermordete und verstümmelte Quevedo war als »Zensor« oder »Großinquisitor« des Castro-Regimes tätig. Er verfolgte von der Leitlinie abweichende Künstler, stellte sie kalt, demütigte sie und trieb sie sogar in den Tod. Dabei presste er den von ihm Gegängelten ihre Werke ab und häufte ein kleines Vermögen an, denn die Kunst der Verfolgten war – außerhalb Kubas – harte Devisen wert. Gleichzeitig wurde er vom Regime mit Privilegien und Ehren bedacht, äußerliche Loyalität ist nämlich die wichtigste Währung des Totalitarismus.
Quevedo besitzt eine teure Wohnung mitten im Elend des Sozialismus, er hat die »Sonderperiode« (ein verharmlosender Begriff für Knappheit und Hunger) überstanden und lebt gut, trotz der Unfähigkeit des Staates, die Bevölkerung auch nur mit dem Nötigsten zu versorgen und den Verfall der Infrastruktur zu stoppen. Im eigenen Haushalt wird die Bedienstete zwar »Genossin« geheißen, obschon sie nichts anderes als eine Dienerin ist.
Bigotterie und Doppelzüngigkeit gehen noch ein Stück weiter. Totalitäre Regime, auch wenn sie sich progressiv oder sozialistisch oder kommunistisch nennen, sind oft homophob. Schon in seinem Roman Labyrinth der Masken hat Padura das Motiv aufgegriffen. In Anständige Leute nimmt er mehrfach darauf Bezug, eines der Opfer Quevedos, ein Theaterautor namens Marqués, spielte in Labyrinth der Masken eine wichtige Rolle.
Bring den Rum, verdammt, das muss gefeiert werden. Sie haben das Arschloch umgelegt!
Leonardo Padura: Anständige Leute
Angesichts der Schandtaten Quevedos ist diese Reaktion nicht weiter überraschend, eher die Offenheit, mit der die Freude über den Tod des ehemals Mächtigen geäußert wird, denn das Herausposaunen der Zufriedenheit über das gewaltsame Ableben des verhassten Apparatschiks macht verdächtig. Es ist naheliegend, dass die Tat aus dem Motiv der Rache ausgeführt wurde, in dieser Richtung ermittelt Conde selbstverständlich.
Spätestens an diesem Punkt stellt sich ihm und dem Leser die Frage nach der moralischen Bewertung der Mordtat. Ein zutiefst unanständiger Zeitgenosse, der durch seine Tätigkeit das Leben von Künstlern ausgelöscht hat, indem er ihnen die Möglichkeit nahm, ihre Kunst auszuüben und dem Leben den Sinn, die Grundlage raubte, wurde das Opfer einer Gewalttat. Möchte man eigentlich, dass der Mörder gefunden wird?
Anständige Leute ist weniger die Auseinandersetzung mit der Frage, ob man in einem unanständigen, autoritären, menschenverachtenden Unrechtsstaat anständig sein kann oder – etwas weiter gefasst: ob das in einem schwierigen politischen und gesellschaftlichen Umfeld überhaupt möglich ist. Padura zielt eher auf eine Konfrontation des Lesers mit dem Wort »anständig« und seinem Gebrauch ab.
Im lexikalischen Sinne meint »Anstand« ein gutes, vielleicht schickliches Benehmen, mit dem man keinen Anstoß bei anderen erregt. Anstand ist also relativ, abhängig davon, wer das Verhalten eines Menschen wertet. Das gilt für alle Menschen, Gesellschaften und Institutionen, insbesondere jene, die auf einer totalitären Ideologie fußen.
Anstand ist in diesem Fall häufig eine Form des Konformismus, der völlig unmenschliche, ungesetzliche und sogar gegen die eigenen Regeln verstoßende Handlungen aber durchaus duldet, so lange der äußere Schein gewahrt werden kann. Quevedo ist in dieser Hinsicht ein Idealtyp dieses »Anstands«, innerhalb »des finsteren Innenlebens einer inquisitorischen Welt.«
Für viele Künstler war diese Zeit wie ein Aufenthalt in der Hölle, aus der oftmals jede Erlösung zu spät kam.
Leonardo Padura: Anständige Leute
So folgt der Leser also der Handlung in diesem wunderbaren Roman, der auf beiden Zeitebenen unterhaltend, spannend und wendungsreich ist, auch was die Auflösung des Falles oder der Fälle anbelangt. Denn auch in der Vergangenheit, also der Gegenwart von Saborit und Yarini, beschäftigt ein gruseliger Mord mit einer verstümmelten Leiche die Zeitgenossen und die professionellen Ermittler. Auch das ist eines der vielen verbindenden Motive über die Jahrzehnte hinweg.
Rezensionsexemplar.
Leonardo Padura: Anständige Leute Aus dem Spanischen von Peter Kultzen Unionsverlag 2024 Gebunden 400 Seiten ISBN: 978-3-293-00621-8
Totenschiffist als Taschenbuch (376 Seiten / 16,99 Euro) bei Autorenwelt, Amazon & anderen Online-Buchhändlern sowie im lokalen Buchhandel erhältlich. Das eBookgibt es exklusiv bei Amazon zu kaufen bzw. im Rahmen von Kindle Unlimited zu lesen.
Bücher begleiten mich schon mein ganzes Leben, auf dem Leseweg habe ich sehr viele großartige Romane und Sachbücher lesen dürfen, von denen ich gern erzählen möchte. Das ist ein Grund, warum ich blogge.