Schriftsteller - Buchblogger

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Andreas Pflüger: Ritchie Girl

Ein intensiv erzählter Roman über die Nachwehen des Zweiten Weltkrieges. Cover Suhrkamp, Bild mit Canva erstellt.

Bei der Lektüre des Roman Ritchie Girl von Andreas Pflüger hat mich manchmal erstaunt, wie sehr dieser Roman von der Gegenwart zu erzählen scheint. Seit Russland seinen genozidalem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, gehen sie doch wieder um, die »Geister der Vergangenheit«, die gar nicht mehr so geisterhaft ihr blutiges Handwerk betreiben.

Im Gegensatz zum Vernichtungskrieg der Wehrmacht findet dieser vor aller Augen statt, für jeden unübersehbar. Umso bitterer, dass »Wegschauen, Schulterzucken« wieder in Mode sind, ebenso die larmoyante Kriegsmüdigkeit, das Folgen von Lügen und Propaganda – aus vielerlei Gründen. Wer sich fragt, die »das« damals geschehen konnte, bekommt Antworten präsentiert, die sehr unbequem und ernüchternd sind.

Das wirkt zurück auf die Betrachtung der Nazi-Zeit und auch zu dem, was Pflüger in seinem Roman vor dem Leser mit hoher Erzählintensität ausbreitet. Die Geschichte entfaltet sich aus der Sicht einer US-Amerikanerin namens Paula Bloom, die gegen Kriegsende nach ihrer Zeit im Camp Ritchie nach Europa zurückkehrt. Sehr intensiv erfährt der Leser das Grauen des Krieges auf den ersten Seiten, der gruseligen Überfahrt folgen grausame Eindrücke hinter der nach Norden vorrückenden Front in Italien.

Paula hat eine ungewöhnliche Biographie. Sie ist die Tochter eines Amerikaners, der in Berlin während 1930er Jahre lebte und arbeitete. Für US-Firmen, die mit deutschen Unternehmen gute Geschäfte machten, auch mit den später berüchtigten IG Farben. Moral stand hinten an, wie heute, wenn Sanktionen gegenüber Russland umgangen werden und Hochtechnologie aus dem Westen dem Aggressor ermöglicht, Krieg zu führen.

In Italien macht Paula als Übersetzerin Bekanntschaft mit einem SS-Offizier und begegnet Georg wieder, einem deutschen Offizier, an den sie ihr Herz verloren hat. Eine wildbewegte Geschichte entspannt sich, denn noch vor der Kapitulation der Deutschen wetterleuchtet der Kalte Krieg am Horizont, neue Bündnisse entstehen, Feinde, auch hochbelastete Täter aus dem Vernichtungskrieg werden wieder interessant.

Die Widersprüchlichkeit gleichzeitiger Entwicklungen, der Nürnberger Prozess und der Rückgriff auf deutsches Personal, die oft zynisch erscheint, durchzieht den gesamten Roman wie ein Bittermandelaroma. Paula wird auf einen aus Österreich stammenden Juden angesetzt, der als Top-Spion der Nazis galt. Sie soll ihm auf den Zahn fühlen, herausfinden, ob dieser Johann Kupfer lügt oder ein wertvoller Geheimdienstmann sein könnte.

Die Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht verwickelt, eine einfache Haltung einzunehmen ist für die handelnden Personen unmöglich, wie Paula zu spüren bekommt. Ihre eigene Vergangenheit, das erstickende Gefühl von Schuld wegen ihres Vaters und einer jüdischen Freundin, aber auch ihre noch immer glimmenden Gefühle gegenüber Georg holen sie ein. Ganz nebenbei erzählt Ritchie Girl auch von dem starken Gefälle zwischen Männern und Frauen in dieser Zeit, der latente und strukturelle Rassismus der US-Streitkräfte wird auch nicht verschwiegen.

Der Roman ist sehr unterhaltsam und spannend zu lesen, man fliegt durch die Seiten, vor allem, wenn die Zeitgeschichte und die handelnden Personen bekannt sind. Denn das Personentableau ist üppig geraten, der Erzählstil wirkt manchmal etwas flüchtig und ruppig, was allerdings der Handlungsdynamik sehr zugute kommt.

Beindruckend und erschütternd sind und bleiben die fürchterlichen Wechselfälle des Lebens unter der Knute von SS, Wehrmacht und Kollaborateuren während des Krieges; ebenso das, was Entnazifizierung genannt wurde, aber in vielerlei Hinsicht nicht war. Mit dem Ende konnte ich hingegen nur wenig anfangen, einige Dinge, wie das Schicksal Georgs und Kupfers, wirken inkonsequent. Das ist gemessen am gesamten Roman letztlich eine Petitesse.

Andreas Pflüger: Ritchie Girl
Suhrkamp 2022
Taschenbuch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-518-47267-5

Volker Kutscher: Transatlantik

Luftschiffe wie die Hindenburg waren selbst für Amerikaner ein Spektakel. Ihre Zeit endete jäh, als es 1937 zu einer fürchterlichen Katastrophe kam. Cover Piper Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Konnte das sein, dass es bei der ganzen Geschichte […] eigentlich um Gereon Rath ging?

Volker Kutscher: Transatlantik

Wenn im Roman Transatlantik von Volker Kutscher dieser Satz fällt, ist die Geschichte schon weit vorangeschritten. Gereon Rath, die Hauptfigur der Buchreihe, tritt im neunten Teil lange Zeit erstaunlich wenig in Erscheinung. Kein Wunder, gilt er doch als tot. So sind es nur kurze Episödchen, in denen der ehemalige Kommissar als handelnde Figur erscheint, die Last der Handlung tragen diesmal andere: Charlotte (Charly) Rath und Andreas Lange neben vielen anderen bekannten Figuren.

Trotz seiner Abwesenheit ist Rath stets dabei. Die Gedanken der Zurückgebliebenen gelten oft ihm, unabhängig davon, ob sie zu den Eingeweihten seines Geheimnisses gehören oder nicht, ob sie der Mär um den Getöteten Glauben schenken oder Zweifel daran hegen und argwöhnen, dass der ehemalige Polizist noch am Leben sein könnte. Einige seiner absonderlichen Methoden, etwa heimlich und in Missachtung der Regeln zu agieren, scheinen auf Hinterbliebene abgefärbt zu sein.

Natürlich gibt es einen Fall zu lösen, natürlich ist dieser nur der Ankerpunkt für den Roten Faden, der sich durch die gesamte Geschichte zieht und immer mehr mit vielen anderen Erzählfäden verwickelt. Die Klärung des Mordfalles fördert eine ganze Menge Überraschendes zutage, denn der Tote, ein Angehöriger der SS, ist mit einer ganzen Reihe obskurer Zeitgenossen und ihren nicht minder düsteren Plänen verbandelt.

Ein SS-Mann. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Volker Kutscher: Transatlantik

Wenn es um die SS geht, ist für alle größte Vorsicht geboten. Der Leser der vorangegangenen Romane weiß, wie sehr sich Deutschland in den vier Jahren zwischen 1933 und 1937 gewandelt hat. Der brüchige und schließlich strauchelnde Rechtsstaat hat sich in eine menschenverachtende, völlig gewissenlos agierende Diktatur verwandelt, in der keineswegs nur die Gegner, sondern auch die Angehörigen der regimetreuen Verbände (Wehrmacht, SA, SS) gnadenlos getötet werden, wenn sie den Absichten der Machthaber in die Quere kommen.

Davon erzählen schon Marlow, Olympia und Lunapark, davon erzählt auch Transatlantik. Es muss nicht einmal Aufbegehren oder gar Widerstand sein, nicht einmal ein Verletzen der Regeln, es reicht völlig aus, am falschen Ort zur falschen Zeit zu sein, durch reinen Zufall etwas zu sehen, was niemand sehen darf, um unter brutalsten Misshandlungen sein Leben auszuhauchen. Schlimmer noch: Wenn ein SS-Mann in Ungnade fällt, ergeht es ihm im Konzentrationslager schlechter als den dort einsitzenden Regimegegnern.

Es mag nicht beabsichtigt sein, aber der Brückenschlag zwischen NS-Regime und organisiertem Verbrechen in der Wahl der Methoden ist unübersehbar. Wenn Johann Marlow in den USA seinen Machtbereich als Chef einer Verbrecher-Organisation durch Folter und Tötung verteidigt, dann sind Parallelen zu den verbrecherischen Mitteln der SS offenkundig. Hüben wie drüben braucht es weder Gesetz noch Richter, es reicht der Wille des Bosses.

Das Verbrecherregime Hitlers sollte allerdings alles Dagewesene in den Schatten stellen, 1937 wirft der Zivilisationsbruch erste Schatten voraus. Am Rande nur, doch als Drohung allgegenwärtig, wird in Transatlantik von der Errichtung des Konzentrationslagers Buchenwald erzählt, ein mustergültiges Lager, erbaut von den Strafgefangenen. Gemordet wird auch an diesem Ort.

Natürlich war überhaupt nichts in Ordnung.

Volker Kutscher: Transatlantik

In die Mühlen des Regimes ist auch der zeitweilige Ziehsohn von Gereon und Charlotte Rath geraten. Friedrich (Fritze) Thormann war im Roman Olympia zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort und hat anderen zu allem Überfluss die Wahrheit, also das Falsche erzählt: Ein Selbstmord, der keiner war, sondern ein Mord, den ein Uniformierter ausgeführt hat. Da diese Wirklichkeit die sorgsam gehütete Scheinwelt der Nazis gefährdet, muss Fritze aus dem Verkehr gezogen werden.

Den Hitlerjungen und Ehrendienstler erklärt das Regime kurzerhand für geisteskrank und lässt ihn in einer so genannten Nervenheilanstalt verwahren. Wie er dort gelandet ist, wo er doch am Ende des Vorgängerromans eigentlich zu seiner großen Liebe Hannah aufgebrochen ist, wird hier nicht verraten. In der »Heilanstalt« sind die Insassen jedenfalls massiver Gewalt und Demütigung unterworfen.

Nicht Fritzes selbst ernannter Pflegevater Rademann, sondern Charly versucht, ihn auf rechtlichem Weg aus der Anstalt zu befreien. Dazu geht sie den Rechtsweg und wählt einen sehr geschickten taktischen Kniff, den ihre Gegner jedoch mit ebenso geschickten Kniffen kontern. Einer der großen Vorzüge von Transatlantik ist die Qualität vieler Winkelzüge, zu denen die Antagonisten greifen.

Alles, aber wirklich alles, was die Regierung tat, lief auf einen neuen Krieg hinaus, auch wenn offiziell das Gegenteil behauptet wurde.

Volker Kutscher: Transatlantik

Aus dem Regen in die Traufe: Gleich mehrfach unternimmt das Schicksal diese Wendung und zwar nicht nur, was Fritze anbelangt. Im Grunde genommen befinden sich jene Zeitgenossen des Jahres 1937 in Deutschland, die nicht dem Regime mit blinder Gefolgschaft zugetan sind, in einer desaströsen Lage. Die NS-Herrschaft hat sich etabliert, alle Hoffnungen, es könnte sich selbst entzaubern, sind verflogen; Lügen sind schließlich immer stärker.

Es ist absehbar, dass der »Spuk« namens Hitler länger dauern wird, als viele es erhofft und für möglich gehalten haben. Die Nazis führen Deutschland in eine barbarische Finsternis. Neben dem Zivilisisationsbruch kündigt sich ein neuer Krieg an, das wird auch manchem idealistischen Anhänger des Regimes bewusst. Ein schmerzlicher Prozess, den eigenen Irrtum zu begreifen.

Nicht nur der ehemals glühende Hitler-Anhänger und Hitlerjunge Fritze ist desillusioniert, auch in den Reihen der SS gibt es jene, die klar und deutlich sehen, dass der politische Kurs des Reiches in einen neuen Waffengang führt. Autor Kutscher bindet eine umfassende Luftschutzübung geschickt in die Handlung seines Roman ein, die auf gespenstische Weise vorwegnimmt, was Berlin und anderen Großstädten blüht.

Fritze stellte sich nicht auf die Zehenspitzen, er stand stramm. Er funktionierte. Ein mechanischer Hitlerjunge.

Volker Kutscher: Transatlantik

Wie hält man das aus? Das Zitat macht es deutlich. Mitspielen, mechanisch der Masse folgen, sich in Routinen stürzen und dort den Halt suchen, den man angesichts des sich überall ausbreitenden Grauens und der eigenen Ratlosigkeit und Ohnmacht längst verloren hat. Auch die »Helden« der Romane um Gereon Rath haben im Grunde keinen Einfluss auf die Geschehnisse, geschweige denn die Kontrolle über sie. Es bleibt ihnen nur ein Leben »als ob«.

Volker Kutscher nutzt jedoch die Möglichkeiten des fiktionalen Mediums, um das auf die Spitze zu treiben. Er kreiert in Transatlantik eine Konstellation, in der es eigentlich ohnmächtigen Personen tatsächlich möglich wäre, jemanden aus der Führungsspitze des Reiches zu beseitigen. Sie müssten nicht einmal etwas tun, sie könnten einfach abwarten und das Schicksal seinen Lauf nehmen lassen.

Dieser Part gleicht ein wenig einer Räuberpistole, wenn auch sehr spannend und dramatisch erzählt. Und doch wirkt gerade diese leicht überzogen wirkende Ereignisfolge wie ein anachronistisches Echo auf den 20. Juli und andere Attentatsversuche, vor allem aber wirft sie ein Schlaglicht auf die selbstverschuldete, widersprüchliche Handlungsweise des Menschen, der manchmal das genaue Gegenteil von dem tut, was er eigentlich vertritt: Jene schützen, die man tot sehen will, weil sie Hunderte, Tausende und bald Millionen auf dem Gewissen haben.

Die Ankunft eines Zeppelins war auch für die Amerikaner ein Ereignis.

Volker Kutscher: Transatlantik

Und Gereon Rath? Das Titelbild von Transatlantik ist kein Symbolbild. Im Jahr 1937 explodierte das Luftschiff Hindenburg in den USA, ausgerechnet jenes Vehikel, mit dem der ehemalige Polizist aus Europa flieht. Für die wenigen Zurückgebliebenen, die von seinem Scheintod und der Ausreise auf diesem Wege wissen, ist die Nachricht ein Schock und der Sturz in die Ungewissheit: Lebt Rath nach dem Unglück oder nicht?

In den USA ist auch ein anderer alter Bekannter rührig: Johann Marlow hat dort seine Zelte aufgeschlagen und geht seiner gewohnten Tätigkeit als Gangsterboss nach. Sein Hass auf Rath ist – wie man sich denken kann – ungebrochen, er unterscheidet sich kaum von dem, der den SS-Offizier Tornow antreibt. So oder so wäre Gereon Rath also in Lebensgefahr, dies- und jenseits des Atlantiks, denn der Hass auf ihn ist wahrhaft transatlantisch.

Weitere Romane der Buchreihe:
Volker Kutscher: Die Akte Vaterland.
Volker Kutscher: Märzgefallene.
Volker Kutscher: Lunapark.
Volker Kutscher: Marlow.
Volker Kutscher: Olympia.

[Rezensionsexemplar]

Volker Kutscher: Transatlantik
Piper Verlag 2022
Hardcover 592 Seiten
ISBN: 978-3-492-07177-2

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Im Frühjahr 1918 unternahm das Deutsche Kaiserreich einen letzten, erfolglosen Großangriff im Westen, doch der Krieg war bereits zugunsten der Entente entschieden. Der Kriegseintritt der USA gab den Ausschlag. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Das Schlüsselwort in diesem vorzüglichen Buch Auf Messers Schneide lautet »Unentschieden«. Schon im Vorwort begegnet es dem Leser und erweitert das scheinbar konkurrenz- oder alternativlose Begriffspaar »Sieg« und »Niederlage« um eine dritte Option. Es handelt sich nach Einschätzung des Autors Holger Afflerbach sogar um das „vorgezeichnete und praktisch unausweichliche Ergebnis der strategischen Lage“, zumindest „während der längeren, der europäischen Phase des Krieges.“

Diese Einschätzung unterscheidet sich von dem, was während meines Studiums Anfang der 1990er Jahre diskutiert wurde. Seinerzeit kämpfte gerade die deutsche Historiographie noch immer mit Fritz Fischers allzu bequemen Phantasien von einem deutschen „Griff nach der Weltmacht“ und dem trübseligen Historikerstreit. Für den Zweiten Weltkrieg und Hitlers bzw. die nationalsozialistischen Kriegsziele kann man getrost von einem Eroberungskrieg sprechen, für das Deutsche Kaiserreich gilt das nicht.

Deutschlands Gegner, die Entente-Mächte, hatten zu keinem Zeitpunkt des Krieges ein gesteigertes Interesse daran, mit ihren Kontrahenten einen Kompromissfrieden zu schließen. Die wiederum haben eine Reihe von Chancen verpasst, die Alliierten entsprechend unter Druck zu setzen. Das wird in der Analyse Afflerbachs sehr deutlich. Er spart auch nicht mit Kritik, etwa an Reichskanzler Bethmann-Hollweg und seiner unentschlossenen, widersprüchlichen und lavierenden Form der Politikführung.

Unentschieden meint übrigens nicht, dass alles so hätte sein müssen, wie vor Kriegsausbruch, ein Remis hätte anders aussehen können und bald müssen als ein Status Quo Ante. Der war ab einem gewissen Punkt unmöglich, gleiches gilt aber für einen »Sieg«. Die Fokussierung auf den Siegfrieden hat den Krieg in einer Weise verlängert, dass auch die Sieger dramatisch beschädigt waren. Russland beispielsweise wurde über seine Möglichkeiten hinausgehend im Krieg gehalten und brach in einer Weise zusammen, die in der Folge mehr Menschen das Leben kosten sollte, als der Erste Weltkrieg.

Die Vorstellung, das Deutsche Reich habe nach der kontinentalen Vorherrschaft gestrebt, ist eine krasse Vereinfachung der Wirklichkeit und im Kern falsch.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Jahrzehntelang stand die so genannte »Schuldfrage« wie der berüchtigte Elefant im Raum und versperrte bzw. verzerrte die Sicht auf wesentliche Faktoren, die den Krieg bestimmten. Etwa die aggressiven, imperialistischen, expansionistischen und »provinziellen« Kriegsziele der Entente, namentlich Frankreichs und Italiens, aber auch Englands und Wilsons eher unrühmliche Absichten. Sie entgrenzten den Krieg ohne Rücksicht auf die absehbar selbstbeschädigenden Folgen.

Afflerbach sieht die Verlängerung des Krieges als Folge dieser Kriegszielpolitik und der unseligen Fokussierung auf einen Siegfrieden. Was harmlos klingt, führt zur Quintessenz seiner Analyse: Am Ende gab es keinen »Sieg« und keinen »Frieden«. Die Folgen des Krieges machten auch die militärischen Gewinner zu Verlierern. Faschismus, Stalinismus, Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, Holocaust – die nachfolgende Geschichte 20. Jahrhunderts gilt für den Autor als Kronzeugin dieser Einschätzung.

Die Entwicklung, darauf legt Afflerbach Wert, war auch nach 1918 weder zwingend noch zwangsläufig, im Gegenteil. Selbst der Friedensvertrag von Versailles hätte Möglichkeiten geboten, die von Zeitgenossen durchaus gesehen wurden; ein Zufall waren die verheerenden Entwicklungen nach 1918 aber nicht. Tatsächlich drängt sich der Eindruck auf, ein »negativer Verlauf des 20. Jahrhunderts« wäre durch den endlosen, blutigen Krieg vorgezeichnet und schwer vermeidbar gewesen. Entgegenkommen der Sieger  war angesichts der Verwüstungen und horrenden Verluste erst später möglich, zu spät für die junge, schwache Republik von Weimar.

Es ist jedoch eine historische Tragödie, dass viele der Nachbesserungen zu spät kamen und nicht der jungen deutschen Republik zufielen, sondern ihrem Totengräber Adolf Hitler.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Militärisch und politisch ist der Erste Weltkrieg von deutscher Seite, aber auch Österreich-Ungarns, durch katastrophale Fehlentscheidungen geprägt. Auch ohne die vermaledeite Kriegsschuldfrage ist der politisch orchestrierte Weg der Doppelmonarchie in den Krieg geprägt von geradezu grotesken Entschlüssen. Das setzte sich nach Kriegsausbruch fort, militärisch wie politisch. Przemysl etwa, das »Stalingrad des Ersten Weltkrieges«, oder der Kriegseintritt Italiens, der politisch durchaus hätte verhindert werden können.

Italiens Kriegseintritt 1915 hat laut Afflerbach einen bis dahin denkbaren Sieg der Mittelmächte nahezu unmöglich gemacht. Zwar haben die Italiener militärisch zu keinem Zeitpunkt etwas Bedeutsames erreicht, doch die Bindung hunderttausender Soldaten der Donaumonarchie, die weitere wirtschaftliche Abschnürung verbunden mit der Überlastung der Eisenbahnlogistik reichte bereits aus, um die Waage kippen zu lassen.

Es war der erste Schritt zu einer Entgrenzung des Krieges und seiner verheerenden Verlängerung. Ein Punkt, der auch immer wieder zu schwach gewichtet wird, ist die Veränderung der Koalitionen: Im Kriegsverlauf erweiterte sich die Zahl der Kriegsteilnehmer auf beiden Seiten. Entscheidend war dabei der Kriegseintritt der USA 1917: Hier schloss sich für die Mittelmächte das Fenster zu einem Remis mit der Entente, das laut Afflerbach um die Jahreswende 1916/17 durchaus offenstand.

Im Winter 1916/17 bot sich dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten eine vollwertige Chance, den Krieg mit einem Remis zu beenden, und zwar in der von den Zeitgenossen verkannten Verschränkung zwischen amerikanischer Friedensvermittlung und prärevolutionärer Situation in Russland. 

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Die USA waren unter Wilson parteiisch. Sie wollten laut Afflerbach unter keinen Umständen einen Sieg der Mittelmächte, aber auch nicht unbedingt einen Sieg der Entente, sondern den Aufstieg der USA zur globalen Vorherrschaft. In Deutschland wussten nur sehr wenige wirklich über das Land jenseits des Atlantiks Bescheid, wenige sahen die entscheidende Auswirkung eines Kriegseintritts der USA, ja viele hielten diesen für unwahrscheinlich.

Für die Entente war die Kriegserklärung der USA Anfang April 1917 der Schritt über die Schwelle, den Krieg notfalls noch jahrelang weiterführen zu können, bis die Mittelmächte zusammenbrachen. Anders als Russland, das längst militärisch, wirtschaftlich und politisch überfordert war und nach der Februar-Revolution 1917 den Krieg hätte beenden müssen, um den eigenen Untergang zu vermeiden, waren die USA faktisch unbezwingbar.

Für die Entente bestand demnach nach dem Zusammenbruch Russlands kein Grund, vom Konzept des militärischen Siegfriedens abzurücken, wenn das auch kurzsichtig gedacht war. Allein die bodenlose Verschuldung wirkte wie ein Gift auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung nach 1918. Gleichzeitig waren die Kriegsziele der Entente, die durch die Bolschewiki veröffentlich wurden, Wasser auf die Mühlen der Kriegspartei in Deutschland und bei seinen Verbündeten.

Die verbissene und ungeheuer schädliche alliierte Siegfriedensstrategie, die letztlich diese „wahnsinnige Selbstzerfleischung“ Europas zu verantworten hatte, hätte ihre Berechtigung gehabt, wenn das kaiserliche Deutschland durch den Krieg einen kohärenten Eroberungsplan hätte durchsetzen wollen. (…)

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Es gehört zu den ironischen Aspekten dieses Krieges, dass Zeitgenossen wie Ludendorff, die auf einen militärischen Sieg fixiert waren, ein Entgegenkommen der Gegner fürchteten. Afflerbach meint zurecht, dass die Entente auf diese Weise den Kräften im Reich, die auf eine Beendigung des Krieges drängten, das schärfste Schwert aus der Hand schlug, nämlich die Aussicht auf einen Kompromiss.

Wichtig ist aber auch, dass es in Deutschland eine Friedenspartei gab! Im Zweiten Weltkrieg war das nicht mehr der Fall. Wer also aus Auf Messers Schneide etwas für die Gegenwart ableiten möchte, sollte diesen Aspekt unbedingt im Auge behalten. Entgegenkommen ohne Kompromisswilligkeit auf der Seite des Eroberungskriegers ist Appeasement im schlimmsten Sinne.

Es bleibt jedoch dahingestellt, ob es 1916/17 wirklich die Aussicht auf einen Kompromissfrieden gegeben hat. Denn die deutsche Gesellschaft war im Krieg von der Welt abgeschnitten. Aus dieser »klaustrophobischen« Lage wurde sie auch dank der »lebensbedrohlichen Verknappungen« (Hunger, Kälte) von der »paranoiden und bösartigen« Vorstellung getrieben, England wolle das Reich »erwürgen« und die Zivilbevölkerung verhungern lassen.

Das führte zu einer breiten, öffentlichen Unterstützung des verhängnisvollen U-Boot-Krieges. Den zu verhindern fehlten Persönlichkeiten, die neben Einsicht auch die nötige Macht und Entschlossenheit gehabt hätten, sich durchzusetzen. Das gilt auch für einen Kompromissfrieden, der eben auch deutscherseits Entgegenkommen trotz der großen Opfer  beinhalten musste. Angesichts der öffentlichen Stimmung und des dysfunktionalen politischen Systems eine Herkulesaufgabe, die niemand schultern konnte.

Der Erste Weltkrieg war, in der deutschen Innensicht, kein Eroberungsfeldzug, sondern eine chaotische Interaktion konkurrierender Entscheidungszentren, in die Akteure von einer oft selbstverschuldeten Notlage zur nächsten hetzten.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Der »Waffenstillstand« von 1918 war nach Einschätzung Afflerbachs keiner, sondern eine Kapitulation unter bestimmten Bedingungen. Die Verhandlungen von Versailles haben diese Bedingungen jedoch übergangen, was wie ein Brandbeschleuniger auf die Empörung in Deutschland wirkte, die es den Gegnern einer Republik wesentlich erleichterte, den Friedensschluss und ihre Unterzeichner innenpolitisch zu diskreditieren und diffamieren – im Kampf um die Macht. Das bittere Ende für die »Sieger« von 1918 ist bekannt.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide
Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor
C.H.Beck 2022
Paperback 664 Seiten
ISBN: 978-340677743-1

Jasmin Lörchner / Frank Patalong (Hrsg.): Die Sklaverei und die Deutschen

Der Band skizziert die vielfältigen Verstrickungen Deutscher in die Versklavung von Menschen aus Afrika. Das stiefmütterlich behandelte Thema wird facettenreich angerissen und erlaubt ein besseres Verständnis des komplexen Sujets. Cover DVA, Bild mit Canva erstellt.

Die Zeit des Nationalsozialismus und der einhergehende Zivilisationsbruch einschließlich der historisch völlig einmaligen industriellen Vernichtung von Millionen Menschen steht zwischen der Gegenwart und der deutschen Geschichte vor 1933 wie eine dicke, schwarze Rauchwand. Dahinter bleiben viele wichtige Aspekte und Entwicklungen, positiv wie negativ, oftmals verborgen. Kolonialismus und Sklaverei gehören dazu.

Das Buch Die Sklaverei und die Deutschen, herausgegeben von Jasmin Lörchner und Frank Patalong, bietet einen Zugang zu einer ganzen Reihe von Facetten der Sklaverei und der direkten und indirekten Beteiligung Deutscher an dem finsteren Kapitel. Die Sammlung von knappen, journalistischen Beiträgen hat selbstverständlich ihre Grenzen, wer eine historiographische Monographie erwartet, kann nur enttäuscht werden.

Umgekehrt eröffnet die Herangehensweise einige Vorteile. Ein breites Publikum kann durch das Buch angesprochen und erreicht werden, was angesichts der Bedeutung des Themas für die Gegenwart nur wünschenswert ist. Immer wieder gibt es Debatten um Straßennamen oder Denkmäler, die bisweilen auf Unverständnis treffen und von interessierten Kreisen für schamlose Agitation ausgenutzt werden.

Zeuske: Sklaverei ist die gewaltsame Kontrolle und die Kapitalisierung von Körpern. Da spielen Aspekte wie Geschlecht und Status, extrem viel Arbeit, Ausbeutung, Unterdrückung und körperliche Dienstleistungen mit rein.
Mallinckrodt: Ich fasse Sklaverei enger. […] [Ich] stütze mich auf eine rechtliche Definition, angelehnt an das römische Recht: Ein versklavter Mensch gilt nicht als Person. Er oder sie wurde als bewegliche Habe angesehen, konnte verkauft, vererbt oder verschenkt werden, war selbst nicht rechtsfähig, konnte also nicht als Zeuge aussagen oder klagen.

Jasmin Lörchner / Frank Patalong (Hrsg.): Die Sklaverei und die Deutschen

Nach der Lektüre wird deutlich, wie sehr das Geschäft mit dem Menschenhandel auch in Deutschland gewirkt hat. Völlig in Vergessenheit geraten ist hierzulande, dass ein deutscher Staat einen Anlauf unternommen hat, Macht und Größe durch das Geschäft mit versklavten Afrikanern zu mehren: Brandenburg-Preußen gründete zu diesem Zweck eine kleine Kolonie (Groß-Friedrichsburg) an der so genannten Goldküste und pachtete in Karibik eine Insel, um dort die in Afrika erworbenen Sklaven zu verkaufen. Das blieb Episode, Piraten, andere Kolonialmächte und hauseigenes Desinteresse beendeten das Unternehmen rasch.

Dennoch haben hunderttausende Deutsche beim lukrativen Menschenhandel mitgewirkt. Da waren Kaufleute wie Friedrich Romberg, der als Reeder auf Sklavenschiffe setzte und große Reichtümer anhäufte, ehe ihn Napoleons Kriege ruinierten. Da waren die deutschen Fürsten und Bürger, die ihr Haus mit einem »Hofmohren« schmückten oder einen Afrikaner als Diener »hielten«, die offiziell keine Sklaven waren, aber von Freiheit weit entfernt.

Überraschend ist, wie viele Deutsche etwa in Diensten der Vereinigten Ostindischen Compagnie (VOC) der Niederlande tätig waren und sich auf diesem Weg direkt an Kolonisation und dem Menschenhandel beteiligten. Das waren nicht ein paar hundert oder tausend, sondern hunderttausende Menschen aus deutschen Landen. Städte wie Hamburg und Bremen haben auch direkt von dem Geschäft mit dem Menschenhandel profitiert.

»Deutsche stellten Kapital, Schiffe, Plantagenausrüstung und Kleidung bereit, produzierten Waren für den Tauschhandel und verarbeiteten durch Sklavenarbeit gewonnene Güter wie zum Beispiel Zucker weiter.«

Jasmin Lörchner / Frank Patalong (Hrsg.): Die Sklaverei und die Deutschen

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gab es kein einiges Deutschland und eigene Kolonien kamen deutlich später, was es erleichterte, die Position zu vertreten, man habe mit dem Sklavenhandel nichts zu tun gehabt. Nach der Lektüre von Die Sklaverei und die Deutschen ist diese bequeme Haltung im Grunde passé. Damit wird die Tür aufgestoßen für ein angemessenes Verständnis aktueller Themen, etwa die Frage von Entschädigungen und Reparationen.

Wirklich gut ist die Vielfalt der Themen, die in dem Buch angerissen werden: sexueller Missbrauch und Ausbeutung weiblicher Sklaven, die Aufstände auf Hispaniola (hier sei auf den älteren Roman von Alejo Carpentier, Explosion in der Kathedrale verwiesen, der sehr schön die Grenzen von Aufklärung und Befreiung zeigt). Aber auch der Vergleich zu der Leibeigenschaft wird ebenso geführt, wie zu der Unfreiheit in den deutschen Kolonien. Nicht zuletzt wird die Versklavung mit Vernichtungsabsicht durch die Nationalsozialisten angerissen.

Besonders beeindruckt haben mich zwei Dinge. Natürlich gab es auch Widerstand, in Form autonomer Territorien entlaufener Sklaven etwa, aber auch durch den Suizid: Versklavte versuchten, über Bord zu springen oder sich zu Tode zu hungern. Nichts verdeutlicht die Verzweiflung, aber auch die Klarsicht der Versklavten über ihr Schicksal deutlicher. Bemerkenswert ist auch, dass Forscher für den Menschenhandel in Afrika, etwa ins Osmanische Reich, wesentlich mehr Betroffene errechnet haben als für den Atlantik-Handel.

Das Thema wird nicht aus der Gegenwart verschwinden, wie nicht zuletzt das Kapitel Mitten unter uns zeigt. Da Zeit das kostbarste Gut ist und viele Leser zwischen einer Unzahl an Publikationen geradezu zerrieben werden, sind Kompendien wie Die Sklaverei und die Deutschen geradezu prädestiniert dazu, einen schnellen, vielfältigen und zur vertiefenden Lektüre und Beschäftigung mit dem Thema anregenden Zugang.

Rezensionsexemplar

Jasmin Lörchner / Frank Patalong (Hrsg.): Die Sklaverei und die Deutschen
Eine Geschichte von Ausbeutung, Profit und Verdrängung
Deutsche Verlags-Anstalt 2024
Hardcover 240 Seiten
ISBN: 978-3-421-07024-1

Kateryna Mishenko, Katharina Rabe (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges

Das Buch umfasst eine beeindruckende Sammlung von Beiträgen rund um den russischen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine. Cover Suhrkamp, Bild mit Canva erstellt.

Seit zehn Jahren greift Russland die Ukraine mit dem Ziel an, den souveränen Staat zu vernichten, eine Tatsache, die aus Bequemlichkeit, Ignoranz und falschem Hoffen im Westen ignoriert wurde und wird. Seit Februar 2022 hat Putins Reich die Attacken zu einer vollumfänglichen Invasion ausgeweitet, was den größten offenen Eroberungs- und Vernichtungskrieg in Europa seit 1945 ausgelöst hat. 

Es ist und wird die Schuld vieler westlicher Politiker, insbesondere des Schröder-Merkel-Deutschlands bleiben, die Katastrophe nicht verhindert, Putin trotz aller Warnungen nicht gestoppt zu haben. Mittlerweile gibt es genug Bücher, die das Generalversagen der hochgelobten deutschen Ostpolitik des »Exportweltmeisters in Vergangenheitsbewältigung« klar herausstellen; und trotzdem wird auch zwei Jahre nach der Invasion hierzulande immer noch gelogen, geheuchelt und politisch taktiert, noch immer wird der hybride Krieg Russlands gegen den Westen verharmlost und die Angst instrumentalisiert.

Was das für die Ukraine und ihre Bewohner bedeutet, wird klar, wenn man sie zu Wort kommen lässt. Das geschieht in Büchern wie Aus dem Nebel des Krieges, die dem geneigten, offenen Leser mit vielen Eindrücken, Fakten und Berichten dienlich sind, die ein wirkliches Verstehen ermöglichen. Das ist unbequem, weil die wohlgefälligen Unwahrheiten, die insbesondere in Wahlkampfzeiten gern verbreitet werden, es einfacher machen.

Dem Opfer zu glauben, fällt schwer, es ist bequemer und sicherer, sich mit dem Aggressor zu assoziieren.

Kateryna Mishenko, Katharina Rabe (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges

Manche Menschen in der Ukraine haben die Fluchterfahrung gleich doppelt gemacht. Der Schriftsteller Volodymyr Rafeyenko hat das in ein Bild gefasst: »Ich kaufe keine Bücher mehr, weil ich schon zwei Bibliotheken zurücklassen musste«. Der russische Krieg um den Donbas hat Rafeyenko 2014 aus Donezk zur Flucht gezwungen, die vollumfängliche Invasion Russlands im Februar 2022 aus der Nähe von Kyjiw.

Dort verbringt der Autor Tage und Wochen in einem Kessel. Eingeschlossen von der russischen Armee, abgeschnitten von allen Nachrichten, Strom, Lebensmitteln, aber auch von Brennstoff. Die eiskalten Nächte verwandeln das Haus in eine »dunkler und unglaublich kalte Wüste«, die Erlebte entzieht sich jedem Versuch, es in Worte zu fassen. Am Ende der erfolgreichen Flucht, denn Rafeyenko hat im Gegensatz zu vielen anderen überlebt, steht »Entwurzelung«, wie sich auch im Verlust der eigenen Bibliothek zeigt. Überall »fühle ich mich fremd und überflüssig«, ein Zuhause wird Rafeyenko in seiner verbleibenden Lebenszeit nicht mehr haben.

Donezk ist seit 2014 unter russischer Kontrolle, wie sich dort lange vorher der Einfluss der Russen breitmachte, schildert Rafeyenko in nüchternen Sätzen. Diese sind umso wirkmächtiger, weil sie die allumfassende Blindheit im Westen gegenüber dem expansiven Streben Putins entlarven. Selbst mit »bloßem Auge« seien die Aktivitäten der russischen Geheimdienste zu sehen gewesen. »Über ein Jahrzehnt wurde eine prorussische militärische und kulturelle fünfte Kolonne etabliert«. Wohlgemerkt: Hier ist von den Jahren vor 2014 die Rede.

Zwei Bibliotheken von Volodymyr Rafeyenko ist nur einer der vielen bewegenden Texte in dem vorzüglichen Sammelband Aus dem Nebel des Krieges. Ich habe ihn hier etwas ausführlicher dargestellt, weil er auf eine ebenso knappe wie eindrückliche Weise die über viele Jahre reichende Entwicklung bündelt. Die von vielen als »überraschend« und »unvorhersehbar« verbrämte Katastrophe vom Februar 2022 hat sich lange abgezeichnet, man wollte den heraufziehenden Angriffs- und Vernichtungskrieg nicht sehen. Dazu steht es nicht im Widerspruch, was ich bereits in vielen Tagebüchern und Äußerungen von Ukrainern (aber auch Journalisten aus dem Westen) gelesen habe:

Trotzdem haben wir es nicht geglaubt. Bis zum Schluss nicht geglaubt. (Artem Chapeye)

Kateryna Mishenko, Katharina Rabe (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges

Was Artem Chapeye in seinem Beitrag Wenn der Pazifismus endet mit diesem Satz beschreibt, ist jener Funken Resthoffnung, der im Augenblick des Angriffs am 24. 02. 2022 zerbarst. Das wichtigste Wort in diesem Satz lautet: »trotzdem«. Denn der Notfall-Rucksack stand längst bereit, Dokumente und Geld waren darin verpackt. Der Autor hatte sich vorbereitet auf den Fall, von dem er inständig hoffte, er würde nicht kommen; das hing nur noch an einem seidenen Faden einer trügerischen Hoffnung.

Wie danach, während der Flucht und der Reflexionen über den Krieg, der die vollständige Auslöschung der Ukraine und alles Ukrainischen zum Ziel hat, Stück für Stück der Pazifismus schwindet, ist ein Lehrstück über die Anpassung an die Realitäten. Chapeye ist Pazifist, hat eine ganze Reihe pazifistischer Kriegsliteratur gelesen und vom leuchtenden Vorbild dieser Denkweise, Gandhi, das Buch Satyagraha ins Ukrainische übersetzt.

Doch gegen die Macht des Faktischen ist der Pazifismus nicht mehr als eine ohnmächtige Geste. Denn der Aggressor schert sich nicht um derlei, wenn sein Ziel die Vernichtung ist. Das gilt für Hitler ebenso wie Putin. Weniger ohnmächtig und mehr als eine Geste ist es, dass sich Artem Chapeye trotz seiner Bedenken, seiner sich selbst (und den Lesern) eingestandenen Furcht freiwillig zu den Streitkräften der Ukraine gemeldet hat.

Gegen Putins Raketen wird Satyagraha nicht funktionieren. Gandhi konnte Hitler nicht mit seinen Briefen überzeugen. (Artem Chapeye)

Kateryna Mishenko, Katharina Rabe (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges

Der Sammelband Im Nebel des Krieges enthält auch Stimmen aus Russland. Alissa Ganijewa stellt Die Frage nach unserer Verantwortung. »Uns« meint dabei Russland und seine Bevölkerung. Die Diagnose und Prognose fallen betrüblich aus, was diesen Text umso wertvoller macht, weil er den Leser von einer Reihe Täuschungen befreit, was die Lage in Putins Reich anbelangt.

Wer von Verhandlungen schwadroniert, sollte sich erst einmal darüber im Klaren werden, mit wem er da spricht – da sind Eindrücke, wie sie Ganijewa darlegt, sehr hilfreich. Denn auch jene Kreise, die gegen den Krieg sind, befassen sich vor allem mit der »Suche nach einer privaten Absolution, mit Selbstrechtfertigung und Selbstleid«. Das ist kein Einzelfall, etwa das Tagebuch vom Ende der Welt ist voll von derartigen Motiven.

Ganijewa schildert sachlich, wie es um das Innenleben der kritischen Bewohner Russlands bestellt ist. Von den Z-Begeisterten ist hier nicht die Rede und das macht den Beitrag so schwer erträglich: Es sind »deprimierende Beobachtungen«, die sehr deutlich machen, dass es nicht nur Putins Krieg ist und selbst der kleine Teil der Bevölkerung des Landes keine große Hoffnung macht; der Weg zu »einem wirklich neuen Russland« ist weit, »selbst wenn Putin morgen sterben würde«.

Aber der Wunsch, die Last der Verantwortung von Hand zu Hand zu werfen wie eine heiße Kartoffel, ist doch stärker. (Alissa Ganijewa)

Kateryna Mishenko, Katharina Rabe (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges

Man braucht auf Verhandlungen mit Putin nicht zu hoffen, ehe nicht die Voraussetzungen dafür geschaffen sind: eine schwere, vielleicht vernichtende militärische Niederlage der russländischen Streitkräfte flankiert von weitgehender politischer Isolation und wirtschaftlichem Niedergang Russlands.

Das ist eine schmerzliche, für viele schwer oder gar nicht auszuhaltende Erkenntnis gerade auch in Deutschland, was von zahlreichen politischen Akteuren auf eine geradezu groteske Weise ausgenutzt wird. Diesen schäbigen Bestrebungen kommt – ausgerechnet – die hochgelobte deutsche Erinnerungskultur entgegen, die sich als Flucht aus der Gegenwart oder Ersatz für die Bewältigung der Gegenwart entpuppt hat.

Gerade die sich universalistische gerierende Intellektuellen-Klasse hat eine geradezu peinliche, weil von ihr selbst so oft ostentativ verachtete Charaktereigenschaft gezeigt: ein „germanozentrischer Provinzialismus, der Ohne-mich-deutsche-Michel, der sich heraushält, wenn es hart zugeht.“ Karl Schlögel, von dem diese Worte stammen, hält dem Land und seinen Briefeschreibern einen klaren Spiegel entgegen.

Das tut auch Stanislaw Assejew, der in einem russischen Konzentrationslager saß und aus diesem Gang durch die Hölle seinen eigenen Weg der Traumabewältigung gefunden hat. Ein Zitat von ihm steht am Ende dieser Buchbesprechung – anstelle eines Resümees:

Jeder Vorschlag, einen Teil des ukrainischen Staatsgebiets Russland zu überlassen, um den Krieg schneller zu beenden, läuft nicht auf einen politischen Deal hinaus, sondern auf ein Versagen unserer gesamten Zivilisation. Denn auf jedem Quadratmeter Boden, den man an Russland abträte, würde ein totalitäres Regime errichtet. Solche Konzentrationslager gäbe es dann überall. (Stanislaw Assejew)

Kateryna Mishenko, Katharina Rabe (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges

Zugeständnisse an Putin auf Kosten der Ukraine heißt nichts anderes, als noch mehr Menschen hilflos der Blutmühle Putins zu überlassen. Alles andere sind wohlfeile Unwahrheiten, wie sich zeigt, wenn der Nebel des Krieges ein wenig durchdrungen wird, wie in diesem sehr informativen Buch.

Kateryna Mishenko, Katharina Rabe (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges
Die Gegenwart der Ukraine
edition suhrkamp 2023
Klappenbroschur, 288 Seiten
ISBN: 978-3-518-02982-4

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