Auch in meinem Regal stehen viele Bücher, die ich gern noch einmal lesen und auf meinem Blog vorstellen möchte. 2024 habe ich das genau einmal gemacht, mehr zufällig, weil ich auf die Umsetzung des genialen Romans Die Straße als Graphic Novel Die Strasse gestoßen bin.
Die Konkurrenz ist groß, Rezensionsexemplare, Geschenke, Spontankäufe (trotz Buchkaufdiät), Buchleihen (Stadtbiliotheken sind ein gefährlicher Ort!) und die vielen Bücher, die bereits gekauft wurden und endlich gelesen werden wollen, rangeln um das knappste aller Güter im menschlichen Leben: Zeit.
So also eine kleine extrinsische Motivation: 4rereadsfür2025. Für jedes Quartal eins, das dürfte zu schaffen sein. Und die Vorfreude ist riesig, denn die vier Bücher sind groß. Historisch-politisch, versteht sich.
Walter Kempowski: Alles umsonst »Zoffort!« zu lesen, denn es spielt im Januar 1945, im Osten Deutschlands, über dem sich der Sturm der Vernichtung zusammenbraut – perfekt als Januar-Lektüre 2025
Gerd Ledig: Die Stalinorgel Für mich der beste Frontkriegsroman, den ich kenne. Er schildert die Kämpfe 1942 vor Leningrad und zeichnet in einer Szene ein geniales Bild einer demoralisierten Wehrmacht
Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes Ein Ausflug nach Rom. Derart sarkastisch und bissig, dass ich das Büchlein zum drittel Mal lese; der Autor begegnet Papst Benedikt in einer evangelischen Kirche, kurz vor dessen Rücktritt
Robert Harris: Vaterland Das Büchlein wurde bereits mehrfach gelesen, nicht nur von mir. Brillant in einen Thriller gegossene historische Dystopie um den verschwiegenen Holocaust in einer Welt, in der Hitler den Krieg gewonnen hat
Es mag seltsam erscheinen, aber die Lektüre von Andrej KurkowsIm täglichen Krieg ist eine Art literarische Impfung gegen lähmende Angst, Überforderung und Ohnmacht. Die Beiträge des ukrainischen Autors schildern Ausschnitte des Alltags im russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der wird bekanntlich nicht nur an der Front, sondern auch gezielt gegen die Zivilbevölkerung geführt. Russland beabsichtigt eine vollständige Vernichtung der Ukraine.
Wer in den vergangenen Jahren nicht im seligen Tiefschlaf verbracht hat, weiß auch um die Aggressivität des Putin-Regimes gegen den demokratischen Westen. Dabei kann sich der Diktator auf eine Achse der Autokraten stützen, deren Ziel die Zerstörung der unliebsamen, für die Bevölkerung trotz aller Misslichkeiten viel lebenswerteren Staaten, die dem »Westen« zugerechnet werden. Diese sind für Alleinherrscher eine Bedrohung, weil sie als Alternative wahrgenommen werden könnten.
Faktisch führt Russland unter der Hand einen verdeckten Krieg gegen den Westen. Eine grundsätzlich bedrohliche Situation, die oft von interessierten Kreisen verschärft wird. Ein unschönes Beispiel ist die bewusst herbeigeführte Abhängigkeit Deutschlands von Russland bei Energielieferungen. Zu Kriegsbeginn drohten erhebliche wirtschaftliche und soziale Verwerfungen. Menschen reagieren auf Krisen ganz unterschiedlich, nicht wenige mit Verdrängung von Tatsachen und der Neigung, sich falschen Versprechungen zu öffnen.
Auch jene, die offen der Gefahr ins Auge sehen und etwas tun wollen, werden mit einer flatterhaften Flut an Meldungen, Nachrichten, Aufrufen, Lügen, Desinformation, verharmlosenden Medienberichten konfrontiert. Besonders auf den einschlägigen Plattformen im Internet kann der Nutzer schnell das Gefühl bekommen, überrollt zu werden. Ohnmacht ist die düstere Schwester der Angst, beide lähmen und lassen die Neigung wachsen, sich abzuwenden.
Das Schlimmste ist vielleicht, dass der Verlust eines Menschenlebens zu etwas Alltäglichem geworden ist. Im Krieg arbeitet der Tod am Fließband.
Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg
Im täglichen Krieg wirkt diesen Zuständen entgegen. Wie das Zitat zeigt, hat Kurkow keine Freudenbotschaften zu verbreiten, er verharmlost die schockierenden Verbrechen in der Ukraine nicht. Doch schildert er den Alltag im Krieg auf eine unaufgeregte Weise. Der Stil des Autors, bekannt aus seinen Romanen Samson und Nadjeschda oderGraue Bienen, ist ist ein großes Plus des Buches. Ein ruhiger, gemessener Erzählduktus führt den Leser durch das jeweilige Thema, der ohne aufmerksamkeitsheischende Übertreibung auskommt.
Zunächst einmal ist es grundsätzlich wichtig, jene zu Wort kommen zu lassen, die von diesem Krieg betroffen sind – die Ukrainer. Deren Befindlichkeiten sollten bei allem, was über den Krieg zu berichten, einzuschätzen und entscheiden ist, die wesentliche Rolle spielen. Die »Zeugen des Sofas« (Christoph Brumme) im Westen sollten ihre Befindlichkeiten hintanstellen. Wer zuhört, beginnt nicht nur zu begreifen, was der Krieg vor Ort anrichtet, sondern auch, was die Kampfhandlungen hier verändern. Jeder Krieg hat einen langen Arm.
Kurkow erlebte den Beginn des Krieges in Kyjiw, er war Binnenflüchtling und kehrte zwischenzeitlich wieder in die Hauptstadt zurück. Über den Alltag der permanenten Bedrohung durch russische Luftangriffe weißt er eine Menge zu erzählen. Etwa über das bekannte Motiv, bei Luftalarm zwei sichere Wände möglichst weit von den Außenmauern und Fenstern entfernt aufzusuchen, um Verletzungen durch Glassplitter bei berstenden Scheiben zu vermeiden. Der Flur ist zum Lebensort geworden.
Das sind Äußerlichkeiten. Der Krieg geht aber im Innern weiter, auch wenn man sich äußerlich von den Kämpfen und Bedrohungen entfernt. Kurkow beschreibt anschaulich, wie er auf Auslandsreisen die Umgebung automatisch daraufhin überprüft, wo er im Falle eines Angriffs am besten Schutz findet. Etwa einen Ort, an dem er nicht einem Regen aus Glassplittern ausgesetzt wäre, wenn in der Nähe eine russländische Rakete einschlagen sollte. Kriege enden nicht für jene, die ihm ausgesetzt sind, auch wenn sie sich außerhalb der Reichweite der Waffen begeben.
Wie eine Krankheit bestimmt der Krieg unser Verhalten, unsere Gedanken und sogar unsere Gefühle. Der Krieg übernimmt das Denken für uns. Er entscheidet sogar für uns.
Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg
In einem Kapitel beschreibt Kurkow, wie das Fortleben des Krieges von der Sowjetunion im Falle des Zweiten Weltkrieges verstärkt wurde. Als Kind wurde er von Geschichten über den propagandistisch verzerrten Großen Vaterländischen Krieg überhäuft. Veteranen in Schulen, Filme im Fernsehen und Romane erzählten von Heldentaten sowjetischer Soldaten. Hinzu kamen Kriegsspiele (d.h. »Truppenübungen«) in der Schule, Ausflüge zu Kriegsmuseen und Schlachtfeldern. Solche »Fieberträume vom Krieg«, wie sie Michail Schischkin einmal nannte, wurden in Putins Russland instrumentalisiert.
Kurkow hofft, dass die ukrainische Kultur nach dem jetzigen Krieg einen anderen Weg geht. Sie sollte den »Ukrainern helfen, den Krieg hinter sich zu lassen und ihre Traumata zu bewältigen«. Sie solle für Meinungsfreiheit und Vielfalt eintreten, zugleich aber eine einigende Kraft werden. Diese kurzen Abschnitte zeigen, wie gewaltig die kulturelle Kluft zwischen der Ukraine und dem propaganda- und hassgesättigten Russland mittlerweile ist.
Kurkow verschweigt auch nicht, dass die Ukrainer durch den immer länger sich hinziehende Krieg unter Druck geraten. Kriege zermürben. Die vielgerühmte Resilienz ist kein unerschöpflicher Brunnen, gerade im Angesicht eines Gegners, der auf Vernichtung aus ist, treten Überforderungen auf. Atempausen vom Krieg, von der Belastung, dem Terror sind nötig, aber schwierig, denn auch in ruhige Gegenden reisen Terror und das schlechte Gewissen mit.
In vielen Passagen wird das Bemühen Kurkows deutlich, sich selbst eine Funktion im Krieg zuzuschreiben. Es klingt nach dem Versuch, das Schreiben zu rechtfertigen, eine Tätigkeit, die recht fern vom Kampf, von Rettung oder Wiederaufbau ist. Was ist die Aufgabe eines Schriftstellers im Krieg? Hilft die eigene Tätigkeit oder ist es nur die Ablenkung von der Ohnmacht? Anders als das Liken und Retweeten in den Sozialen Medien ist das Schreiben keineswegs sinnlos, wie ich bei der Lektüre von Im täglichen Krieg an mir selbst feststellen konnte.
Das Thema Verrat ist in der Ukraine ganz und gar kein beliebtes und wird definitiv nur höchst ungern angesprochen.
Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg
Die Ukraine ist kein idealer Staat, ihre Bürger sind weder Engel noch Lichtgestalten. Auch nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gibt es genügend Probleme – wie könnte es auch anders sein, hat doch der seit 2014 schwelende Krieg im Osten des Landes eine Modernisierung und Reformierung massiv behindert. Kurkow verschweigt viele der Schwierigkeiten nicht, Korruption, fehlende Bunker, kontraproduktive »Hilfe«, Versagen der Behörden, Politspielchen.
Seine Herangehensweise ist nicht nur konstruktiv, sondern auch enorm kreativ. Ein schönes Beispiel für Kurkows originellen Stil ist das Kapitel mit der auf den ersten Blick etwas seltsamen Überschrift »Bienen und Verräter«. Der Autor verwebt in jedem Abschnitt wenigsten zwei Motive, die augenscheinlich nichts miteinander zu tun haben. Doch gelingt ihm ein Brückenschlag, der den Blick auf die vielschichtige und widersprüchliche, chaotische Wirklichkeit des Kriegsalltags freigibt.
Einige der vielen Helfer in der Ukraine kümmern sich um verwaiste Katzen aus den Frontgebieten. Dort lebten vor dem Krieg zahllose Bienenzüchter, einer davon ist Hauptfigur in Kurkows fabelhaften Roman Graue Bienen. Zehntausende Bienenvölker könnten infolge des Krieges verloren gehen, die Bienen verwildern und vor dem Lärm fliehen. Ein Soldat mit Imker-Kenntnissen nimmt sich bei Bachmut eines Bienenvolkes an und gibt ihm in einer Munitionskiste ein Zuhause. Als der Imker versetzt wird, können die Bienen dank eines Freiwilligen (ohne Imker-Kenntnisse) in ihrer Kiste nach Westen fliehen.
Von den Bienen kommt Kurkow auf die Menschen im Frontgebiet, die zum Teil abwarten, statt zu fliehen. Neben pro-ukrainischen gibt es darunter jedoch auch verräterische Abwartende, die bei erster Gelegenheit mit den Invasoren kollaborieren. Ein unangenehmes Thema, das Kurkow über das Bienen-Motiv ansteuert: Ukrainer, auch in hohen Positionen, haben sich kaufen lassen, schon 2014.
In den besetzten Gebieten müssen viele Menschen mit den Russen kooperieren, denn ihnen werden vielfältige Daumenschrauben angelegt. Doch auch in den nur kurzfristig eingenommenen Dörfern um Kyjiw gab es Kollaborateure, die den Russen bei ihren Kriegsverbrechen halfen, darunter ein ehemaliger Mönch aus einem Kloster des Moskauer Patriarchats in Andrijiwka. Nach dem Rückzug der Russen blieben ihre Hinterlassenschaften, Müll, Gerümpel und auch Waffen.
Die wiedergewonnene Freiheit in den befreiten Orten liegt unter dem Schatten der überstandenen Besetzung. Betrunkene feuern mit den russischen Waffen bei Nacht, niemand will sie anschwärzen, wegen dem, was die »Alkoholiker« unter der Knute russischer Soldaten durchmachen mussten.
Es ist ein seltsames Nebeneinander in dieser neuen Hölle. Einige Bewohner bemühen sich um Normalität, andere stehlen das Gemüse aus dem Garten des Nachbarn, um Alkohol vom Erlös zu kaufen. Einer dieser »Täter« ist ausgerechnet Bienenzüchter. Das Eingangsmotiv dient zu einem Kommentar Kurkows: Eines der Bienen-Völker des räuberischen Alkoholikers wird sich aus dem Staub machen, denn:
Vernachlässigung ist auch eine Form des Verrats und genauso wie Menschen tun sich Bienen schwer damit, Verrätern zu vergeben.
Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg
Kurkow lässt seinen Lesern Raum, um selbst über unangenehme Themen wie Verrat, Kriegsverbrechen, Kollaboration und Traumata nachzudenken, indem er auf literarische Weise für die nötige Entlastung sorgt. Angst frisst nicht nur die Seele auf, sie verhindert auch Denken und Empathie. Auf diese Weise bringt Im täglichen Krieg dem Leser den Kriegsalltag nahe, ohne diesen damit zu erschlagen. Auch aus diesem Grund ist das Buch unbedingt lesenswert, wie schon der erste Teil, Tagebuch einer Invasion.
[Rezensionsexemplar]
Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg Aus dem Englischen von Rebecca DeWald Haymon Verlag 2024 Klappenbroschur 432 Seiten ISBN: 978-3-7099-8230-3
Polen wird hierzulande gern ein wenig unterschätzt, keineswegs nur von den zahlreichen offenen und verdeckten Russland-Freunden, die in verhängnisvoller Tradition allzu leichtfertig über die Staaten Osteuropas hinwegschauen. Dabei ist Polen wirtschaftlich viel bedeutender als etwa Russland, zuletzt übertraf das deutsche Exportvolumen in unser Nachbarland das Richtung China. Grund genug also, einen genaueren Blick auf unseren östlichen Nachbarn zu werfen.
Acht Jahre bestimmte die PiS unter dem autoritären Regime von Jaroslaw Kaczyński die Geschicke der polnischen Politik. Geprägt war die Zeit von Berichten von lautem Reparationsgetrommel Richtung Deutschland und der Neigung, wie Ungarns Victor Orban eine antidemokratische, antipluralistische und antieuropäische Politik zu betreiben. Gelegentlich wurde in größeren Zeitungen von den Entwicklungen berichtet, doch zeigt das Buch von Klaus Bachmann wieder einmal, dass Medienberichte oft nur an der Oberfläche kratzen.
Schon der Titel Die Geisterfahrer gibt die Marschrichtung vor. Autor Bachmann hat erklärtermaßen ein subjektives Buch über die PiS-Jahre verfasst, denn die Schilderungen basieren auf eigener Anschauung. Die sieht die PiS-Partei und ihre ausführenden Macht-Menschen als im Kern bemerkenswert unfähig an. Der Grund ihres Scheiterns lag letztlich auch darin, dass zwischen pompöser, aggressiver Rhetorik und Repression und den sich immer weiter davon entfernenden Realitäten eine allzu große Lücke klaffte.
PiS, die Partei, die stets geschworen hatte, die polnische Bevölkerung vor illegaler Einwanderung zu bewahren, hatte diese selbst organisiert, und, das war der unbewiesene Verdacht dahinter, daran sogar noch verdient.
Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer
Da wäre etwa die Migrationspolitik, ein Thema, das auch in Deutschland ein Dauerbrenner ist und weidlich von interessierten Kreisen genutzt wird, um Stimmung zu machen. Das hat auch die PiS getan, etwa um die gezielt als Waffe eingesetzten Flüchtlinge aus Belarus (und später Russland) abzuwehren. Nach außen setzte man auf Brutalität, in der Realität wurden die Flüchtlinge oft nach Westen durchgelassen.
Während offen gehetzt wurde, gelangte gleichzeitig »eine in die Hunderttausende gehende Zahl von Arbeitsmigranten aus aller Welt nach Polen«, um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen. Die mittels hoher Schmiergelder an Visa gelangten Personen hatten Zutritt zum Schengenraum. Daraus lässt sich einiges ableiten, etwa eine große Skepsis, wenn Parteien in anderen europäischen Ländern mit hohem Arbeitskräftemangel massiv gegen Migration wettern.
Es ist schon bemerkenswert, wie sehr es der Regierung unter der Zuchtrute Kaczyńskis gelungen war, ihre Gegner zu mobilisieren. Das zeigte schon die gewaltige Wahlbeteiligung. Zwar hatte die PiS durch verschiedene Maßnahmen, etwa durch ein zur Wahl parallel anberaumtes Referendum, versucht, die eigenen Leute zu in die Wahllokale zu bekommen. Gleichzeitig wurde die Opposition behindert, doch hatten Korruption, Vetternwirtschaft, groteske Propaganda und nicht zuletzt der gravierende Missgriff in der Abtreibungsfrage die Gegner in Scharen zu den Wahlurnen getrieben.
Besonders wertvoll ist die Darstellung von dem, was nach der Wahl kam. Mit Präsident Duda saß die PiS noch mit an den Schalthebeln der Macht, auch wenn die Parlamentsmehrheit vergangen war. Das reichte für eine weitere groteske Komödie, eine Hängepartie, die den Antritt einer neuen Regierung unter Donald Tusk verzögerte. Doch das war nur ein Präludium zu dem, was Bachmann als grundlegendes Dilemma identifizierte.
Wie macht man ein Land wieder demokratisch, ohne gegen demokratische Prinzipien zu verstoßen?
Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer
Polen ist nach der Herrschaft der Geisterfahrer auch in diesem Punkt ein Vorreiter in Europa, denn dieses Dilemma habe es laut Bachmann „in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben“, könnte es „aber bald wieder geben“. Natürlich denkt man zuerst an Ungarn, aber auch hierzulande sind jenseits AfD und BSW Politiker in anderen Parteien weit auf das Territorium antidemokratischer Rhetorik eingeschwenkt, die auf verhängnisvolle Weise an jene „Lügenkaskaden“ erinnern, die Anne Applebaum als einen wesentlichen Faktor bei der Aushöhlung einer freiheitlichen Ordnung identifiziert hat.
Das Problem ist, dass eine neue, demokratische Regierung wie die von Donald Tusk in Polen nur dann etwas ändern kann, wenn sie auf die von der PiS etablierten autoritären Machtmechaniken zurückgreift. Damit besteht die Gefahr, ein wenig wie sie selbst zu werden. Selbst lupenreine Demokraten können dank der Umstände den Autokraten ähnlicher werden, als ihnen selbst lieb ist. Ganz davon abgesehen, dass Machtmenschen wie alle anderen nie jene Widerständigkeit gegenüber den Verlockungen haben, die nötig wäre, um sich nicht korrumpieren zu lassen.
Demnächst wird es wohl noch ein weiteres Land mit Alleinstellungsmerkmal geben: Polen als der Staat, dessen Eliten versuchen, ihn mit undemokratischen Mitteln zu demokratisieren.
Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer
So ist Die Geisterfahrer eben auch ein Buch, das dazu auffordert, Polen im Blick zu behalten. Sollte Bachmann recht haben, wäre das ein Menetekel für Russland, das sich in der Putin-Zeit zu einer repressive Diktatur verwandelt hat, dessen offen menschenverachtendes Regime sich noch viel weniger demokratisieren lässt. Dort gibt es nicht einmal eine Opposition, die ihren Namen verdient hätte, geschweige denn Eliten, denen westliche Werte etwas bedeuten.
Zugleich zeigt es aber auch, wie gefährlich das Geschwätz ist, das behauptet, Autoritäre würde man bloßstellen können, man solle sie sich an der Macht selbst entzaubern lassen. Es gibt genug Beispiele, die das Gegenteil belegen. Einer davon ist die PiS, die immer Sündenböcke für eigenes Scheitern fand, auf die bequem jede Verantwortung abgewälzt werden konnte. Das ist eine der Warnungen, die von den Geisterfahrern aus Polen ausgeht. Wer schon in der Opposition nach Sündenböcken sucht und die tatsächlichen Probleme verschweigt, wird das in der Regierung nicht anders handhaben.
Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer Polen und acht Jahre PiS edition.fotoTAPETA_Flugschrift 2024 Broschiert 116 Seiten ISBN: 978-3-949-262-39-5
Mario Conde nimmt im Erzähluniversum von Leonardo Padura eine ganz besondere Stellung ein. Im Havanna-Quartett ist Conde als Ermittler der kubanischen Polizei tätig, gibt diese Tätigkeit im letzten Band jedoch auf. Er begegnet dem Leser in zahlreichen späteren Romanen wieder, als Buchhändler etwa, vor allem jedoch als ein Bewohner der Insel Kuba, der versucht, am Leben zu bleiben und irgendwann einen Zugang zum Schreiben zu finden. Selbst in jenen Erzählwerken, die nichts mit Conde zu tun haben, wird er wenigstens erwähnt, sogar im Opus Magnum Paduras, Der Mann, der Hunde liebte.
Der Leser von Paduras Romanen erlebt einen wesentlichen Teil der jüngeren Geschichte Kubas an der Seite Mario Condes mit, unternimmt jedoch immer wieder weite Ausflüge in die Vergangenheit. Die Insel in der Karibik ist auf überraschend vielfältige Weise direkt oder indirekt mit der Geschichte anderer Welt-Regionen verbunden. So lebt und stirbt der Mörder Leo Trotzkis dort; Hemingway war dort, natürlich, aber auch zeitlich und räumlich weit auseinanderliegende Dinge im Erzählwerk Paduras werden motivisch miteinander verknüpft: Rembrandts Schüler in Amsterdam 1648, das Drama um jüdische Flüchtlinge auf der St. Louis 1939 und ein verschwundenes Mädchen im Jahr 2007 im Roman Ketzer.
Kuba ist seit Jahrzehnten ein wenigstens autoritär geführtes Land, das den Sozialismus als ideologisches Aushängeschild führt. Leonardo Paduras Romane beschreiben viel der Lebenswirklichkeit auf Kuba, ohne politisch in dem Sinne sein zu wollen, dass sie dieser oder jener politischen Richtung, Ideologie, Partei das Wort reden. Selbstverständlich bleibt alles dennoch stets politisch. Der jeweilige Fingerzeig ist auch ohne pathetisches J´accuse …! offenkundig. Wozu auch, denn Padura hat einen ganz eigenen Weg gefunden, sich zu den Dingen zu äußern.
Italien ist von hier aus mindestens so weit weg wie der Mond.
Leonardo Padura: Anständige Leute
Zu Beginn des Romans Anständige Leute ist Mario Condes Leben wieder einmal in Aufruhr. Seine Freundin Tamara steht davor, das Land zu verlassen, sie will nach Italien, wo Verwandte leben. Ihre Rückkehr ist ungewiss. Die Flucht aus den bedrückenden Umständen Kubas gehört auch zu den wiederkehrenden Motiven von Paduras Romanen, etwa Wie Staub im Wind. Diesmal kehren einige im Ausland lebende Kubaner zurück, darunter Freunde Condes, aber auch zwielichtige Gestalten mit unredlichen Absichten.
Obendrein stehen große Ereignisse an, denn Barack Obama und die Rolling Stones wollen die Insel besuchen. Ich erspare mir zeitgeschichtliche Erklärungen, warum Obamas Visite eine andere Qualität hatte, als der Besuch eines deutschen Regierungschefs in Frankreich. Conde hat einen für ihn überlebenswichtigen Nebenjob angenommen, als Aufpasser in einer hippen Lokalität hat er ein Auge auf Drogenkonsum. Er wird dort Zeuge, dass Ausländer, Touristen und manche Einheimische abendlich so viel Geld auf den Kopf hauen, wie gewöhnliche Inselbewohner über Wochen zum Leben ausgeben. Kuba wandelt sich, zumindest teilweise weht eine frische Brise, und die Frage stellt sich, wie weitgehend oder dauerhaft der Wandel sein werde.
Eine kleine Pause zwischen einer dunklen und einer düsteren Zeit.
Leonardo Padura: Anständige Leute
Die Antwort, die Conde auf die Frage gibt, ist pessimistisch, in seiner Eigensicht aber realistisch. Der Grund für diese Haltung liegt in der Vergangenheit, der eigenen wie auch der weiter zurückliegenden Kubas. Folgerichtig springt die Handlung des Roman zurück in die Zeit des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, den Jahren des Befreiungskampfes und der Selbstbehauptung gegen die Spanier und die USA. Erzählt wird von einer »verrückten und schmerzhaften Zeit, die in gewisser Hinsicht immer noch anzudauern schien.«
Padura spannt den erzählerischen Bogen weit und nutzt die unerfüllten schriftstellerischen Neigungen seiner Hauptfigur, um eine Verbindung herzustellen. Conde beschäftigt sich nämlich mit den Herren Arturo Saborit und Alberto Yarini, einem Polizisten, »der sich für anständig hielt«, und einem Zuhälterkönig, der zum Mythos geworden ist. Auf Yarinis Grab liegen noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts frische Blumen, wie Conde erzählt.
Das ist nur eine Verbindung von der Gegenwart in die Vergangenheit. Yarini, der Zuhälter, will hoch hinaus in der Politik, die bereits von jenen Übeln befallen ist, die auch über einhundert Jahre später auf Kuba vorherrschen. Allgegenwärtige Korruption und Misswirtschaft, begangen auch von den Helden des Befreiungskrieges, die zu Blutsaugern an jenem Staat wurden, für den sie gekämpft hatten. Polizist Saborit ist gegen die Verlockungen keineswegs gefeit, trotz seiner Eigensicht, »anständig« zu sein.
Die Parallelen zu den sozialistischen Revolutionären Kubas des 20. Jahrhunderts liegen auf der Hand, die Vergangenheit ist ein Schwarzer Spiegel für die Gegenwart. Man kann das sehen, etwa am Nebeneinander von bitterster Armut und Reichtum in Gestalt von Häusern und Wohnungen. Für das Kuba Mario Condes gilt, was Arturo Saborit in einen Erinnerungen über die eigene Zeit zu berichten wusste.
Sein Heimatland bestand in Wirklichkeit aus mehreren Ländern, deren Lebensqualität sich stark voneinander unterschied.
Leonardo Padura: Anständige Leute
Das wiederum ist mit den Idealen der kommunistischen oder sozialistischen Ideologie unvereinbar, die Gleichheit, Progressivität und Überlegenheit postuliert. Und doch ist genau das Realität, was angeblich überwunden sein sollte. Paduras Anständige Leute wirf also die ganz große Frage auf, ob es überhaupt so etwas wie einen Fortschritt gibt oder ob (auf Kuba) alles im Kern nicht so geblieben ist, wie es lange vor der Revolution schon war. Die schamlose Selbstbereicherung der Herrschenden auf Kosten des Gemeinwesens ist nur eine Facette, die Abgründe reichen tiefer.
Ein Toter namens Reynardo Quevedo bringt die Handlung in Gang, denn die Suche nach dem Mörder ist selbstverständlich mit dessen Vergangenheit und der Kubas eng verschlungen. Mario Conde wird von seinem alten Kollegen Manolo um Mithilfe bei der Aufklärung gebeten, weil die Sicherheitsorgane wegen des Besuchs von Obama bis an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit beansprucht sind. Conde springt in die Bresche und dringt auf der Suche nach dem Täter immer weiter vor, mitten hinein in die – pardon – »Scheiße«.
Das also war der Bluthund, den die, die im Land das Sagen hatten, zur Aufrechterhaltung der ideologischen Reinheit auf die Bewohner der kubanischen Republik der Künste angesetzt hatten.
Leonardo Padura: Anständige Leute
Der ermordete und verstümmelte Quevedo war als »Zensor« oder »Großinquisitor« des Castro-Regimes tätig. Er verfolgte von der Leitlinie abweichende Künstler, stellte sie kalt, demütigte sie und trieb sie sogar in den Tod. Dabei presste er den von ihm Gegängelten ihre Werke ab und häufte ein kleines Vermögen an, denn die Kunst der Verfolgten war – außerhalb Kubas – harte Devisen wert. Gleichzeitig wurde er vom Regime mit Privilegien und Ehren bedacht, äußerliche Loyalität ist nämlich die wichtigste Währung des Totalitarismus.
Quevedo besitzt eine teure Wohnung mitten im Elend des Sozialismus, er hat die »Sonderperiode« (ein verharmlosender Begriff für Knappheit und Hunger) überstanden und lebt gut, trotz der Unfähigkeit des Staates, die Bevölkerung auch nur mit dem Nötigsten zu versorgen und den Verfall der Infrastruktur zu stoppen. Im eigenen Haushalt wird die Bedienstete zwar »Genossin« geheißen, obschon sie nichts anderes als eine Dienerin ist.
Bigotterie und Doppelzüngigkeit gehen noch ein Stück weiter. Totalitäre Regime, auch wenn sie sich progressiv oder sozialistisch oder kommunistisch nennen, sind oft homophob. Schon in seinem Roman Labyrinth der Masken hat Padura das Motiv aufgegriffen. In Anständige Leute nimmt er mehrfach darauf Bezug, eines der Opfer Quevedos, ein Theaterautor namens Marqués, spielte in Labyrinth der Masken eine wichtige Rolle.
Bring den Rum, verdammt, das muss gefeiert werden. Sie haben das Arschloch umgelegt!
Leonardo Padura: Anständige Leute
Angesichts der Schandtaten Quevedos ist diese Reaktion nicht weiter überraschend, eher die Offenheit, mit der die Freude über den Tod des ehemals Mächtigen geäußert wird, denn das Herausposaunen der Zufriedenheit über das gewaltsame Ableben des verhassten Apparatschiks macht verdächtig. Es ist naheliegend, dass die Tat aus dem Motiv der Rache ausgeführt wurde, in dieser Richtung ermittelt Conde selbstverständlich.
Spätestens an diesem Punkt stellt sich ihm und dem Leser die Frage nach der moralischen Bewertung der Mordtat. Ein zutiefst unanständiger Zeitgenosse, der durch seine Tätigkeit das Leben von Künstlern ausgelöscht hat, indem er ihnen die Möglichkeit nahm, ihre Kunst auszuüben und dem Leben den Sinn, die Grundlage raubte, wurde das Opfer einer Gewalttat. Möchte man eigentlich, dass der Mörder gefunden wird?
Anständige Leute ist weniger die Auseinandersetzung mit der Frage, ob man in einem unanständigen, autoritären, menschenverachtenden Unrechtsstaat anständig sein kann oder – etwas weiter gefasst: ob das in einem schwierigen politischen und gesellschaftlichen Umfeld überhaupt möglich ist. Padura zielt eher auf eine Konfrontation des Lesers mit dem Wort »anständig« und seinem Gebrauch ab.
Im lexikalischen Sinne meint »Anstand« ein gutes, vielleicht schickliches Benehmen, mit dem man keinen Anstoß bei anderen erregt. Anstand ist also relativ, abhängig davon, wer das Verhalten eines Menschen wertet. Das gilt für alle Menschen, Gesellschaften und Institutionen, insbesondere jene, die auf einer totalitären Ideologie fußen.
Anstand ist in diesem Fall häufig eine Form des Konformismus, der völlig unmenschliche, ungesetzliche und sogar gegen die eigenen Regeln verstoßende Handlungen aber durchaus duldet, so lange der äußere Schein gewahrt werden kann. Quevedo ist in dieser Hinsicht ein Idealtyp dieses »Anstands«, innerhalb »des finsteren Innenlebens einer inquisitorischen Welt.«
Für viele Künstler war diese Zeit wie ein Aufenthalt in der Hölle, aus der oftmals jede Erlösung zu spät kam.
Leonardo Padura: Anständige Leute
So folgt der Leser also der Handlung in diesem wunderbaren Roman, der auf beiden Zeitebenen unterhaltend, spannend und wendungsreich ist, auch was die Auflösung des Falles oder der Fälle anbelangt. Denn auch in der Vergangenheit, also der Gegenwart von Saborit und Yarini, beschäftigt ein gruseliger Mord mit einer verstümmelten Leiche die Zeitgenossen und die professionellen Ermittler. Auch das ist eines der vielen verbindenden Motive über die Jahrzehnte hinweg.
Rezensionsexemplar.
Leonardo Padura: Anständige Leute Aus dem Spanischen von Peter Kultzen Unionsverlag 2024 Gebunden 400 Seiten ISBN: 978-3-293-00621-8
Es dürfte nicht allzu oft vorkommen, dass ein Gedicht Gegenstand einer Debatte im Landtag wird. Stefan Heym alias Helmut Flieg ist dieses Kunststück gelungen, es hat ihm allerdings weder Ruhm noch Ehre eingetragen. 1931 hat er ein Poem unter dem Titel Exportgeschäft veröffentlicht, das in der »Chemnitzer Volksstimme« abgedruckt wurde. Dafür hat er ein Honorar von dreißig Reichsmark erhalten und ist von der Schule geflogen.
Die »Sektion Chemnitz Mitte der NSDAP« forderte den Verweis des Schülers, die bedrückenden Illustrationen unterstreichen, wie sehr die Gedicht-Zeilen Empörung und Wut in bestimmten Kreisen hervorriefen: Aufgestachelte Leser, Schulpersonal und Schüler, die den »Schmierfink« körperlich traktierten, wobei es wenig hilfreich war, dass Helmut Flieg als Jude galt.
Ich benutze diese leicht gewundene Formulierung, um deutlich zu machen, dass »Jude« in den 1930er Jahren auch eine Zuschreibung von außen auf Menschen war, die gar keine Juden sein wollten bzw. im Leben nicht darauf gekommen wären, »jüdischer Abstammung« zu sein oder als »Jude« zu gelten. Die Nationalsozialisten haben viele Menschen erst zu Juden gemacht und – ganz wichtig – darauf reduziert. Helmut Fliegs Judentum ist eher weltlicher Natur gewesen.
Die Eltern bzw. der Familienrat, dem der Betroffene selbst gar nicht angehörte, beschlossen, dass der junge Dichter nicht auf der Schule und nicht in Chemnitz bleiben könne; das bildete den Auftakt zur ersten Flucht Fliegs / Heyms, diesmal noch innerhalb Deutschlands: Er zog nach Berlin. Mit dabei eine Schreibmaschine, die er für das Honorar gekauft hatte, und die ihm über viele Jahrzehnte während aller folgenden Fluchten treu blieb.
Wir exportieren! Wir exportieren! Wir machen Export in Offizieren! Wir machen Export! Wir machen Export! Das Kriegsspiel ist ein gesunder Sport!
Der Anfang von Helmut Fliegs Gedicht: Exportgeschäft
Der Auslöser für das Spektakel, das Gedicht Exportgeschäft, ist in Die Sieben leben des Stefan Heym abgedruckt, wie viele andere auch. Sie sind für sich genommen nicht unbedingt Gipfelstürmer der Poesie, beeindrucken aber dennoch, weil sie großartig zu den Illustrationen passen und diese zu ihnen. Wenn Flieg einige Dutzende Seiten später Deutschland verlassen und nach Prag fliehen muss, sind die gedichteten Zeilen ganz wunderbare Spiegel seines Inneren.
Flieg / Heym ist immer politisch gewesen, so auch bei seiner literarischen Feuertaufe: Exportgeschäft befasst sich mit der militärischen Zusammenarbeit des Deutschen Reichs und Chinas, das neben Waffen, Ausrüstung und Ausbildung auch den »Export« von Offizieren vorsah. Das ist übrigens der Grund dafür, warum chinesische Soldaten auf Bilder aus dieser Zeit oder in Filmen wie John Rabe irritierenderweise Wehrmachtsstahlhelme tragen. In den 1930er Jahren hat Hitler entschieden, statt auf China lieber auf Japan zu setzen.
Kurz nach der Machtübertragung an Adolf Hitler floh Helmut Flieg nach Prag, unter dramatischen und prekären Umständen. Dort wird er zu Stefan Heym, ein Deckname zunächst, dann ein Pseudonym und wohl auch eine neue Identität. Es ist erstaunlich, wie sehr das Leben von Flieg / Heym mit den politisch-historischen Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts verknüpft ist und genau darin liegt ein ganz großer Vorzug dieser wunderbaren Graphic Novel.
Didaktisch ist das Buch sehr gut aufgebaut, der Leser ist (dank erklärender Kästchen, einem Zeitstrahl mit Ortsangabe) gut orientiert. Das Buch wirkt dabei sehr ausgewogen, erfreulicherweise wird der nämliche Anteil rechtsradikaler Serben an dem Weg in den Ersten Weltkrieg, wie ihn Christopher Clark in Die Schlafwandler herausgearbeitet hat, genannt, statt nur von deutscher Kriegsschuld zu schwadronieren.
Auch die fürchterlichen Abgründe in Stalins Reich bleiben nicht unerwähnt. Das ist in vielfacher Hinsicht wichtig, weil linke Intellektuelle in Westeuropa lange an einem Phantombild der Sowjetunion festhielten, Arbeitslager (Gulag), Massentötung, Erschießungen und gezielte Hungernöte mit Millionen Toten (Holodomor, Ascharschylyq) sowie die aggressive, militärische Expansion einfach ignorierten.
Die Nase rümpfen muss ich allerdings bei der Erwähnung des späteren Korea-Krieges, hier wird der Eindruck vermittelt, der ginge allein auf die USA zurück, denen auch noch die Brutalität des Krieges und die zivilen Kriegsopfer zugeschrieben werden – was tatsächlich Unfug ist. Die Autoren haben ihren Band so gestaltet, dass sie vor allem Heyms Texte sprechen lassen – möglicherweise hätte hier deutlicher werden müssen, dass es sich um die spezifische Sicht des Autors handelt.
Nachdem die USA in Korea einen für Stefan Heym unerträglichen und brutalen Krieg mit Millionen ziviler Opfer geführt hatten […], [gab] er sein Reserveoffizierspatent und seinen Orden mit der Begründung zurück, dass dieser durch den ungerechten Krieg gegen das koreanisch Volk entehrt worden sei.
Richter / Kretschmer: Die Sieben Leben des Stefan Heym
Konsequent ist allerdings, dass Heym trotz seiner US-Staatsbürgerschaft, der Ablehnung, die ihm in Europa, namentlich Prag, Warschau und Moskau entgegengeschlagen ist, seine militärischeAuszeichnung zurückgab. Diese Unangepasstheit setzte ihn zwischen alle Stühle, mit einer bemerkenswerten Beharrlichkeit hat der Autor an jedem Ort der Welt gegen das aufbegehrt, was ihm an den Lebensverhältnissen misshagte, sei es in den USA, sei es in der DDR.
So entstand ein Lebensweg, der bereits 1945 mit derart vielen dramatischen Wendungen versehen war, dass der Titel Die sieben Leben des Stefan Heym mehr als berechtigt erscheint. Es handelt sich tatsächlich um eine Novel, denn oft kommen Teile seines Werkes zu Wort, was in Kombination mit den wirklich großartigen Illustrationen einen Einblick in das Denken des Autors erlaubt.
Mir hat das Bild auf dem Cover besonders gut gefallen. Es wirkt, als stellte es den Einzelnen im (Mahl)Strom der Geschichte dar. Das mag etwas arg pathetisch klingen, doch trifft es das Leben des Schriftstellers recht gut, denn bei allem Engagement, bei allem Aufbegehren und Kämpfen, waren die Umstände immer mächtiger.
[Rezensionsexemplar]
Richter / Kretschmer: Die Sieben Leben des Stefan Heym C.Bertelsmann 2024 Graphic Novel Hardcover, 280 Seiten ISBN: 978-3-570-10471-2