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Schlagwort: Geschichte (Seite 1 von 4)

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Im Frühjahr 1918 unternahm das Deutsche Kaiserreich einen letzten, erfolglosen Großangriff im Westen, doch der Krieg war bereits zugunsten der Entente entschieden. Der Kriegseintritt der USA gab den Ausschlag. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Das Schlüsselwort in diesem vorzüglichen Buch Auf Messers Schneide lautet »Unentschieden«. Schon im Vorwort begegnet es dem Leser und erweitert das scheinbar konkurrenz- oder alternativlose Begriffspaar »Sieg« und »Niederlage« um eine dritte Option. Es handelt sich nach Einschätzung des Autors Holger Afflerbach sogar um das „vorgezeichnete und praktisch unausweichliche Ergebnis der strategischen Lage“, zumindest „während der längeren, der europäischen Phase des Krieges.“

Diese Einschätzung unterscheidet sich von dem, was während meines Studiums Anfang der 1990er Jahre diskutiert wurde. Seinerzeit kämpfte gerade die deutsche Historiographie noch immer mit Fritz Fischers allzu bequemen Phantasien von einem deutschen „Griff nach der Weltmacht“ und dem trübseligen Historikerstreit. Für den Zweiten Weltkrieg und Hitlers bzw. die nationalsozialistischen Kriegsziele kann man getrost von einem Eroberungskrieg sprechen, für das Deutsche Kaiserreich gilt das nicht.

Deutschlands Gegner, die Entente-Mächte, hatten zu keinem Zeitpunkt des Krieges ein gesteigertes Interesse daran, mit ihren Kontrahenten einen Kompromissfrieden zu schließen. Die wiederum haben eine Reihe von Chancen verpasst, die Alliierten entsprechend unter Druck zu setzen. Das wird in der Analyse Afflerbachs sehr deutlich. Er spart auch nicht mit Kritik, etwa an Reichskanzler Bethmann-Hollweg und seiner unentschlossenen, widersprüchlichen und lavierenden Form der Politikführung.

Unentschieden meint übrigens nicht, dass alles so hätte sein müssen, wie vor Kriegsausbruch, ein Remis hätte anders aussehen können und bald müssen als ein Status Quo Ante. Der war ab einem gewissen Punkt unmöglich, gleiches gilt aber für einen »Sieg«. Die Fokussierung auf den Siegfrieden hat den Krieg in einer Weise verlängert, dass auch die Sieger dramatisch beschädigt waren. Russland beispielsweise wurde über seine Möglichkeiten hinausgehend im Krieg gehalten und brach in einer Weise zusammen, die in der Folge mehr Menschen das Leben kosten sollte, als der Erste Weltkrieg.

Die Vorstellung, das Deutsche Reich habe nach der kontinentalen Vorherrschaft gestrebt, ist eine krasse Vereinfachung der Wirklichkeit und im Kern falsch.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Jahrzehntelang stand die so genannte »Schuldfrage« wie der berüchtigte Elefant im Raum und versperrte bzw. verzerrte die Sicht auf wesentliche Faktoren, die den Krieg bestimmten. Etwa die aggressiven, imperialistischen, expansionistischen und »provinziellen« Kriegsziele der Entente, namentlich Frankreichs und Italiens, aber auch Englands und Wilsons eher unrühmliche Absichten. Sie entgrenzten den Krieg ohne Rücksicht auf die absehbar selbstbeschädigenden Folgen.

Afflerbach sieht die Verlängerung des Krieges als Folge dieser Kriegszielpolitik und der unseligen Fokussierung auf einen Siegfrieden. Was harmlos klingt, führt zur Quintessenz seiner Analyse: Am Ende gab es keinen »Sieg« und keinen »Frieden«. Die Folgen des Krieges machten auch die militärischen Gewinner zu Verlierern. Faschismus, Stalinismus, Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, Holocaust – die nachfolgende Geschichte 20. Jahrhunderts gilt für den Autor als Kronzeugin dieser Einschätzung.

Die Entwicklung, darauf legt Afflerbach Wert, war auch nach 1918 weder zwingend noch zwangsläufig, im Gegenteil. Selbst der Friedensvertrag von Versailles hätte Möglichkeiten geboten, die von Zeitgenossen durchaus gesehen wurden; ein Zufall waren die verheerenden Entwicklungen nach 1918 aber nicht. Tatsächlich drängt sich der Eindruck auf, ein »negativer Verlauf des 20. Jahrhunderts« wäre durch den endlosen, blutigen Krieg vorgezeichnet und schwer vermeidbar gewesen. Entgegenkommen der Sieger  war angesichts der Verwüstungen und horrenden Verluste erst später möglich, zu spät für die junge, schwache Republik von Weimar.

Es ist jedoch eine historische Tragödie, dass viele der Nachbesserungen zu spät kamen und nicht der jungen deutschen Republik zufielen, sondern ihrem Totengräber Adolf Hitler.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Militärisch und politisch ist der Erste Weltkrieg von deutscher Seite, aber auch Österreich-Ungarns, durch katastrophale Fehlentscheidungen geprägt. Auch ohne die vermaledeite Kriegsschuldfrage ist der politisch orchestrierte Weg der Doppelmonarchie in den Krieg geprägt von geradezu grotesken Entschlüssen. Das setzte sich nach Kriegsausbruch fort, militärisch wie politisch. Przemysl etwa, das »Stalingrad des Ersten Weltkrieges«, oder der Kriegseintritt Italiens, der politisch durchaus hätte verhindert werden können.

Italiens Kriegseintritt 1915 hat laut Afflerbach einen bis dahin denkbaren Sieg der Mittelmächte nahezu unmöglich gemacht. Zwar haben die Italiener militärisch zu keinem Zeitpunkt etwas Bedeutsames erreicht, doch die Bindung hunderttausender Soldaten der Donaumonarchie, die weitere wirtschaftliche Abschnürung verbunden mit der Überlastung der Eisenbahnlogistik reichte bereits aus, um die Waage kippen zu lassen.

Es war der erste Schritt zu einer Entgrenzung des Krieges und seiner verheerenden Verlängerung. Ein Punkt, der auch immer wieder zu schwach gewichtet wird, ist die Veränderung der Koalitionen: Im Kriegsverlauf erweiterte sich die Zahl der Kriegsteilnehmer auf beiden Seiten. Entscheidend war dabei der Kriegseintritt der USA 1917: Hier schloss sich für die Mittelmächte das Fenster zu einem Remis mit der Entente, das laut Afflerbach um die Jahreswende 1916/17 durchaus offenstand.

Im Winter 1916/17 bot sich dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten eine vollwertige Chance, den Krieg mit einem Remis zu beenden, und zwar in der von den Zeitgenossen verkannten Verschränkung zwischen amerikanischer Friedensvermittlung und prärevolutionärer Situation in Russland. 

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Die USA waren unter Wilson parteiisch. Sie wollten laut Afflerbach unter keinen Umständen einen Sieg der Mittelmächte, aber auch nicht unbedingt einen Sieg der Entente, sondern den Aufstieg der USA zur globalen Vorherrschaft. In Deutschland wussten nur sehr wenige wirklich über das Land jenseits des Atlantiks Bescheid, wenige sahen die entscheidende Auswirkung eines Kriegseintritts der USA, ja viele hielten diesen für unwahrscheinlich.

Für die Entente war die Kriegserklärung der USA Anfang April 1917 der Schritt über die Schwelle, den Krieg notfalls noch jahrelang weiterführen zu können, bis die Mittelmächte zusammenbrachen. Anders als Russland, das längst militärisch, wirtschaftlich und politisch überfordert war und nach der Februar-Revolution 1917 den Krieg hätte beenden müssen, um den eigenen Untergang zu vermeiden, waren die USA faktisch unbezwingbar.

Für die Entente bestand demnach nach dem Zusammenbruch Russlands kein Grund, vom Konzept des militärischen Siegfriedens abzurücken, wenn das auch kurzsichtig gedacht war. Allein die bodenlose Verschuldung wirkte wie ein Gift auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung nach 1918. Gleichzeitig waren die Kriegsziele der Entente, die durch die Bolschewiki veröffentlich wurden, Wasser auf die Mühlen der Kriegspartei in Deutschland und bei seinen Verbündeten.

Die verbissene und ungeheuer schädliche alliierte Siegfriedensstrategie, die letztlich diese „wahnsinnige Selbstzerfleischung“ Europas zu verantworten hatte, hätte ihre Berechtigung gehabt, wenn das kaiserliche Deutschland durch den Krieg einen kohärenten Eroberungsplan hätte durchsetzen wollen. (…)

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Es gehört zu den ironischen Aspekten dieses Krieges, dass Zeitgenossen wie Ludendorff, die auf einen militärischen Sieg fixiert waren, ein Entgegenkommen der Gegner fürchteten. Afflerbach meint zurecht, dass die Entente auf diese Weise den Kräften im Reich, die auf eine Beendigung des Krieges drängten, das schärfste Schwert aus der Hand schlug, nämlich die Aussicht auf einen Kompromiss.

Wichtig ist aber auch, dass es in Deutschland eine Friedenspartei gab! Im Zweiten Weltkrieg war das nicht mehr der Fall. Wer also aus Auf Messers Schneide etwas für die Gegenwart ableiten möchte, sollte diesen Aspekt unbedingt im Auge behalten. Entgegenkommen ohne Kompromisswilligkeit auf der Seite des Eroberungskriegers ist Appeasement im schlimmsten Sinne.

Es bleibt jedoch dahingestellt, ob es 1916/17 wirklich die Aussicht auf einen Kompromissfrieden gegeben hat. Denn die deutsche Gesellschaft war im Krieg von der Welt abgeschnitten. Aus dieser »klaustrophobischen« Lage wurde sie auch dank der »lebensbedrohlichen Verknappungen« (Hunger, Kälte) von der »paranoiden und bösartigen« Vorstellung getrieben, England wolle das Reich »erwürgen« und die Zivilbevölkerung verhungern lassen.

Das führte zu einer breiten, öffentlichen Unterstützung des verhängnisvollen U-Boot-Krieges. Den zu verhindern fehlten Persönlichkeiten, die neben Einsicht auch die nötige Macht und Entschlossenheit gehabt hätten, sich durchzusetzen. Das gilt auch für einen Kompromissfrieden, der eben auch deutscherseits Entgegenkommen trotz der großen Opfer  beinhalten musste. Angesichts der öffentlichen Stimmung und des dysfunktionalen politischen Systems eine Herkulesaufgabe, die niemand schultern konnte.

Der Erste Weltkrieg war, in der deutschen Innensicht, kein Eroberungsfeldzug, sondern eine chaotische Interaktion konkurrierender Entscheidungszentren, in die Akteure von einer oft selbstverschuldeten Notlage zur nächsten hetzten.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide

Der »Waffenstillstand« von 1918 war nach Einschätzung Afflerbachs keiner, sondern eine Kapitulation unter bestimmten Bedingungen. Die Verhandlungen von Versailles haben diese Bedingungen jedoch übergangen, was wie ein Brandbeschleuniger auf die Empörung in Deutschland wirkte, die es den Gegnern einer Republik wesentlich erleichterte, den Friedensschluss und ihre Unterzeichner innenpolitisch zu diskreditieren und diffamieren – im Kampf um die Macht. Das bittere Ende für die »Sieger« von 1918 ist bekannt.

Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide
Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor
C.H.Beck 2022
Paperback 664 Seiten
ISBN: 978-340677743-1

Was folgt als nächstes?

Die Arbeit an den Bänden der Buchreihe um die Piratenbrüder ist noch nicht beendet, doch beschäftige ich mich bereits mit der Zeit danach.

Noch stecke ich mitten in der Arbeit an meiner Abenteuerreihe um die Piratenbrüder Joshua und Jeremiah. Der fünfte Teil, Totenschiff, ist im Buchsatz, als Erscheinungstermin ist der 20. September 2024 vorgesehen.

Derzeit darf ich mich über eine stetig wachsende Zahl an Vorbestellungen der eBook-Ausgabe von Totenschiff freuen. Das ist auch ein Beleg, wie sehr der vierte Band, Vinland, der Mehrzahl der eBook-Käufer bislang gefallen hat. Angesichts der massiven Zweifel, mit denen ich beim Schreiben dieses Romans auf zwei Zeitebenen zu kämpfen hatte, ist das einfach großartig.

Überarbeiten, Überarbeiten, Überarbeiten

Piratenbrüder ist eine Heptalogie, also auf sieben Bände angelegt. Es fehlen also noch zwei Teile: Verräter und Opfergang. In beiden Fällen ist bereits ein Manuskript vorhanden, Verräter geht ins Prä-Lektorat und ist damit also schon recht weit fortgeschritten. Trotzdem wird sich bis zum Lektorat und währenddessen noch eine Menge ändern, mein Schreiben hat sich in den vergangenen drei Jahren gewandelt, was sich beim Überarbeiten niederschlagen wird.

Opfergang ist bislang kaum mehr als eine dreihundert Seiten lange Rohfassung. Das Ende oder sagen wir: die beiden Enden stehen bereits fest, die grobe Handlung und viele Details ebenfalls. Allerdings ist der Text nun schon zwei Jahre alt, in der Zeit hat sich an den vorangegangenen Bänden eine Menge getan, was sich auf den Schlussband auswirken wird und muss.

Ich werde voraussichtlich beide Manuskripte im ersten Durchgang gleichzeitig bearbeiten, das Ziel ist, bis zum Winter eine Testlese-Version von Opfergang und Verräter für das Lektorat fertiggestellt zu haben. Die Arbeit daran muss allerdings noch  etwas warten, was kein Problem ist, Verräter und Opfergang erscheinen im September 2025 und 2026. 

Aktuell bin ich noch mit den ersten drei Teilen beschäftigt, vor allem an Eine neue Welt habe ich umfangreiche Änderungen vorgenommen. Auch Chatou und Doppelspiel werden aufgehübscht, aber in geringerem Umfang als der Auftaktband. Wenn Totenschiff aus dem Buchsatz kommt, stehen natürlich auch da noch Korrekturen an.

Fantasy und / oder Historischer Roman

Es dauert also noch ein Weilchen, bis die Arbeit an der Abenteuerreihe abgeschlossen sein wird. Dennoch gehen meine Gedanken über Piratenbrüder hinaus. Was kommt als nächstes? Also, nach Piratenbrüder.

Im vierten Teil der Buchreihe, Vinland, spielt ein Teil im Hohen Mittelalter, der Welt der Wikinger. Die Geschichte von Eillirs, Stígandrs und Ryldrs Fahrt in den Westen und weit über die bekannten Grenzen der Welt hinaus, ist erzählt, soweit es die Karten betrifft, die siebenhundert Jahre später Joshua und Dr. Penbult ein so hartnäckiges Rätsel bescheren.

Aber die Pläne, die insbesondere Stígandr hegt, werden im Roman nur kurz erwähnt. Sie gehören nicht mehr zu dem Wikingerschatz, der die Piratenbrüder beschäftigt, sondern eröffnen eine ganz neue Erzählung.

Schon von Anbeginn an habe ich mich mit der Idee getragen, diese Geschichte weiterzuerzählen und zwar in einem eigenständigen Roman, den man auch lesen kann, ohne Vinland zu kennen. Einen guten Titel wüsste ich schon, ein Teil vom Plot steht auch, da ich schon ein wenig recherchiert habe.

Aber da ist auch noch ein fast 600 Seiten dicker Stapel beschriebenes Papier, nebst einer großen Karte und mehrerer Detailkarten: ein FantasyRoman! Den habe ich vor acht, neun Jahren angefangen und immer wieder überarbeitet – bis ich mich erst einmal auf die Piratenbrüder konzentriert habe. Jetzt wäre also die Zeit gekommen, mich diesem Projekt zu widmen.

Mit der Recherche zu dem Wikinger-Roman werde ich bald beginnen. Ganz praktisch, dass es in meiner Fantasy-Welt auch so eine Art »Nordmannen« geben wird, ich also einen Teil der Recherche-Bücher für beide Schreibprojekte lesen kann.

Ein neues Kapitel

Damit öffnet sich ein neues Kapitel meiner Arbeit als Schriftsteller. Das wird sich auch am Blog bemerkbar machen, denn ich will hier regelmäßig von den Fortschritten und Hindernissen des Schreibprozesses berichten. Ich freue mich schon sehr darauf, endlich loszulegen.

Jaroslav Rudiš: Durch den Nebel

Im Erzählwerk des Autors und jenen drei Beiträgen dieses Bändchens spielt der Nebel eine wichtige Rolle. Cover Sonderzahl, Bild mit Canva erstellt.

Züge erzählen Geschichten

Jaroslaw Rudiš: Durch den Nebel

Es sind Sätze, wie dieser, die den schmalen Band Durch den Nebel von Jaroslav Rudiš so lesenswert machen. Für Zeitgenossen einer heruntergewirtschafteten, kaputtgesparten Deutschen Bahn, die vielleicht noch mehr als der Berliner Flughafen BER eine nie versiegende Quelle von Hohn, Spott und Verärgerung darstellt, sind solche Sätze im ersten Moment ein wenig befremdlich.

Autor Rudiš ist Eisenbahn-Reisender aus Passion, der niemals Zeitverlust oder gar Zeitverschwendung empfindet, auch wenn der Anschlusszug verpasst wird. Im Zug, im Bahnhofsrestaurant verstreicht für ihn die Zeit gewinnbringend, denn nicht nur Züge erzählen Geschichten, sondern auch die Menschen in, um und bei Zügen. Sie sind für den Autor Quelle der Inspiration.

Der erste der drei Teile von Durch den Nebel ist denn auch im Perronnord zu St. Gallen verfasst, einem Bahnhofsetablissement mit Blick auf eine schöne Uhr. Dort werden kleine Biere serviert und machen das Verweilen angenehm. Die Gedanken können weit durch Raum und Zeit schweifen, was Rudiš weidlich für einen Streifzug nutzt.

Es für die Lektüre von Durch den Nebel hilfreich, den Roman Winterbergs letzte Reise zu kennen. Wenn Rudis von seiner weitreichenden Affinität zu der Habsburgermonarchie spricht und auf Winterberg, den Protagonisten des Romans verweist, nimmt die Verbundenheit mit dem Kulturraum der einstigen Donaumonarchie im wörtlichen Sinne Gestalt an. Der Vielvölkerstaat nahm die eisenbahnbefahrbare Grenzenlosigkeit Europas im kleineren Maßstab bereits vorweg.

Es ist kein Zufall, dass Winterbergs Begleiter in meinem Roman Kraus heißt. [Karl Kraus wurde in Gitschin / Jičín geboren, in »Wallensteins Stadt«]

Jaroslaw Rudiš: Durch den Nebel

Heute liegt Österreich-Ungarn im Nebel des Vergessen und der Geschichte, laut Rudis ein Nebel, in dem er sich selbst verloren hat. Nebel, Schneetreiben oder niedrig hängende Wolken regen die Phantasie an. Aus diesem Nebel treten bisweilen großartige Ideen hervor, etwa jene, den greisen Winterberg mit einem Baedeker-Reiseführer des Jahres 1913 (!) durch das Mitteleuropa der Gegenwart reisen zu lassen.

Im zweiten Teil wird der Ort Winterberg oder Vimperk noch wichtiger. Dieser Part ist nicht nur formal das Zentrum von Durch den Nebel, sondern auch inhaltlich. Königgrätz. Wallenstein. Jičin / Gitschin (»Wallensteins Stadt«).  Österreich-Ungarn, Böhmen, Sachsen, Preußen. So viel Geschichte! Wie die Hauptfigur von Winterbergs letzte Reise scheint auch Rudiš von Geschichte befallen oder ihr verfallen zu sein.

Geschichte ruht nicht. Wie die Geister der fünfzigtausend bei Königgrätz Gefallenen, der elendig auf dem Schlachtfeld verreckten Soldaten nicht ruhen können, so geistert das Gestern im Heute. Der stille Held des Winterberg-Romans ist jener Baedeker-Reiseführer aus dem Jahr 1913, der dem Autor vor Augen führt, wie erstaunlich viel von der längst vergangenen Zeit noch im Heute enthalten ist.

Aus dem Gemenge ist die geniale Idee entstanden, eine Road-Novel auf Schienen zu schreiben und diese Mobilitäts-Erzählung mit der Vergangenheit zu verwirken, indem die Hauptfigur überwiegend gar nicht im Jetzt, sondern der Gegenwart des uralten Reiseführers existiert. Winterberg zitiert ständig aus dem Buch, er trägt ganze Passagen über die Orte und Städte vor, die von dem ungleichen Buddy-Duo angesteuert werden.

Was man durch die Fenster des Waggons sieht, wird ergänzt durch die Vergangenheit, die eben noch gar nicht so vergangen ist. So wird es denn auch glaubhaft, wenn Winterberg selbst jenen Roman über seine letzte Reise mit einem pathetischen (und für viele völlig unverständlichen Satz) einleitet:

Die Schlacht von Königgrätz geht durch mein Herz.

Jaroslaw Rudiš: Durch den Nebel / Winterbergs letzte Reise

Rudiš erläutert in Durch den Nebel, woher er diesen Satz hat, wie er ihn ein wenig angepasst hat und was er eigentlich ausdrückt. Der Leser erhält einen Einblick in sein Schreiben, aber auch in die Tiefe, die unter kurzen, harmlos-verklausuliert klingenden Sätzen liegen kann.

Kleinod ist so ein schönes Wort. Es bedeutet kleines Schmuckstück, Kostbarkeit oder Juwel. Ursprünglich hieß es einfach kleines Ding, doch können kleine Dinge bekanntlich großen Wert haben. Das gilt für das schmale Bändchen Durch den Nebel von Jaroslaw Rudiš, das auf so typische Weise vom Schreiben des in Berlin lebenden Autors, der aus Tschechien stammt, erzählt.

Jaroslaw Rudiš: Durch den Nebel
Salzburger Stefan Zweig Poetikvorlesungen
Sonderzahl Verlag 2022
Büttenbroschur 108 Seiten
ISBN 978-3-85449-605-2

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune

Der Lektüre habe ich mit großer Spannung entgegengesehen, schließlich beschäftigt mich das Schicksal der Gracchen seit meinem Studium. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Wie konnte es so weit kommen?

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune

Das zweite Kapitel von Der Tod der Tribune ist mit dieser Frage überschrieben. „So weit“ meint dabei die brutale Ermordung des Volkstribuns Tiberius Gracchus im Jahr 133 v. Chr., das erbarmungslose Niederhauen von 300 seiner Anhänger, die nachfolgende Schändung ihrer Leichen. Zehn Jahre später wurde der jüngere Bruder, Gaius Gracchus, ebenfalls auf gewaltsame Weise mit 3.000 Gefolgsleuten getötet.

Der Vorgang ist – bis dahin – einmalig gewesen, die Folgen für die Römische Republik werden als verheerend angesehen: Oft wird mit dem Doppelmord ein Anfangspunkt benannt, nach dem die Republik Schritt für Schritt in den Abgrund glitt. Dafür kann man Gründe anführen: Beschädigung der Verfassungsordnung, des sakrosankten Amte und des Rechts allgemein. Vor allem aber wurde ein doppelter Präzedenzfall geschaffen, nämlich, auf Gewalt zu setzen.

Politisch denkende Zeitgenossen mögen an dieser Stelle vielleicht an den Sturm auf das Capitol denken oder auch an den Angriff auf Robert Habeck, verbunden mit dramatischen Befürchtungen bezüglich der Aussichten für die westliche Demokratie. Grundsätzlich sind Analogien mit großer Vorsicht zu genießen, Vergleiche, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausstellen, sind aber wichtig, sonst bleibt die Lektüre zwangsweise akademisch.

Andererseits tut akademische Nüchternheit und eine möglichst sachliche Betrachtung dessen, was über die Umstände, Hergänge, Gründe und Folgen überliefert ist und in der Forschung diskutiert wird, dem Thema gut. Die Gracchen werden manchmal in ein sozialromantisches Licht getaucht, als tragisch gescheiterte Retter der ins Straucheln geratenen Römischen Republik; eine Art Che Guevara – Brüderpaar der Antike. Ausgerechnet Cicero hat allerdings eine ganz andere Einschätzung geäußert.

Tiberius Gracchus der Ältere [d.h. der Vater des ermordeten Volkstribuns] habe, so Cicero später, den Bestand der Republik gerettet, sein Sohn sie zertrümmert.

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune

Die Autorin Charlotte Schubert widmet sich zunächst der Mordtat und den nachträglichen Versuchen einer Legitimation. Das ist wichtig, denn es zeigt, wie dünn und lückenhaft die Überlieferung ist und wie schwierig quellenkritisch tragfähige Aussagen sind. So steht Ciceros Einschätzung im Verdacht, weniger die realen Ereignisse zu bewerten, als einen Versuch zu unternehmen, die eigene Missachtung institutionalisierten Rechts zu überdecken.

Tiberius und Caius Gracchus haben allein wegen ihrer Herkunft und sozialen Verankerung in der römischen Gesellschaft mehr mit ihren Gegnern als mit »dem Volk« gemeinsam: Sie gehörten zur Elite Roms. Tiberius bekleidete zwar das Amt eines Volkstribuns, er stammte weder aus dem Volk noch sprach er für „das Volk“ in einem sozialromantischen Sinne. Noch wichtiger ist ein anderer Punkt: Roms Elite befand sich in einem erbarmungslosen Wettstreit um Macht, Ansehen und Ruhm.

Der Tod der Tribune entfaltet nun ein politisches Panorama, das viele Fäden aufzeigt, die zu jenem Knäuel führten, das mittels einer unerhörten Bluttat kurzfristig »gelöst« wurde. Im Kern drehte sich die Auseinandersetzung um die Bodenreform, die Zuteilung von Land an römische Bürger, ein Projekt, das keineswegs nur die Gracchen vertraten und das nach dem Tod von Tiberius und Caius eben auch nicht in der Versenkung verschwand.

Es verbietet sich, hier auch nur den Versuch zu unternehmen, die komplexe und durchaus widersprüchliche Entwicklung, immer überschattet von der schwierigen Quellenlage, auch nur halbwegs adäquat zu skizzieren. Das bleibt der Lektüre des ausgesprochen interessanten und sehr gut informierenden Buches vorbehalten. Der Leser wird Zeuge eines sich dramatisch zuspitzenden Machtkampfes, in den zufällig äußere Einflüsse hineinspielten.

Wieder einmal – wie so oft in der Geschichte – stellte sich das Geld als der entscheidende Punkt heraus: Tiberius brauchte für die Verwirklichung seiner Reform die materiellen Mittel, und die Mehrheit des Senats wollte ihm nichts bewilligen.

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune

Die so genannte Schenkung durch Attalos III. von Pergamon etwa, mit der Rom als Erbe eines Königreichs im Osten wurde, war dabei wohl entscheidend. Um sich aus dem finanziellen Würgegriff des Senats zu befreien, versuchte Tiberius Gracchus per Gesetz den »Schatz« des verstorbenen Königs zur Finanzierung seines Vorhabens zu nutzen. Das dürfte der Schritt über die »rote Linie« des Senats sein, wie Schubert meint, denn außenpolitische Angelegenheiten gehörten in dessen Verantwortungsbereich.

Entscheidend ist aber nach Einschätzung der Autorin das Verhalten des Volkstribuns während seiner letzten Volksversammlung, das sie als unklug und wohl missverständlich beschreibt und für seine Gegner nicht tolerierbar gewesen sei. Das ist durchaus nachvollziehbar. Machtkämpfe sind immer auch ein Ringen um Handlungsspielräume inmitten der institutionalisieren und formalrechtlich festgelegten Grenzen, die dabei gedehnt und auch überschritten werden.

Tatsächlich haben das vor den Gracchen andere Mitglieder der Elite ebenfalls getan, ohne getötet zu werden. Umgekehrt bleibt aber die Frage, warum sich der Senat nicht nur mit bemerkenswerter Kompromisslosigkeit gegen das Reformvorhaben wandte, die Reformer brüskierte, bloßstellte und diskreditierte. Scheinbar waren Tiberius und später auch Caius so weit gegangen, dass sie von den Senatoren als grundlegende Gefahr für deren Macht angesehen und ausgeschaltet wurden.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Gegner der Gracchen und ihres mit Tiberius’ Tod nicht beendeten Reformwerks Scipio Aemilianus zum Diktator ernennen wollten, um den immer höher kochenden Aufruhr in Rom zu bekämpfen. Scipio war mit Tiberius verwandtschaftlich verbunden, aber politisch verfeindet. Er hatte Karthago und Numantia dem Erdboden gleichgemacht, es erscheint keineswegs übertrieben, wenn Schubert meint, dass Sullas Handlungsweise zwei Generationen später als Blaupause dienen könnten für das, was Rom bereits nach 129 v. Chr. hätte blühen können.

Der Tod Scipios löste zumindest dieses Problem. Nach seinem Tod unterblieben weitere Attacken gegen die Bodenreform und die Gefahr eines Aufruhrs war vom Tisch.

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune

Das ist ein bemerkenswerter Hinweis. Der Tod eines Gegners und entschiedenen Bekämpfers der Reformen war der Grund für die ersterbenden Flammen der Empörung. Das gibt einen wichtigen Hinweis, wo der Unruheherd zu suchen ist. Das schwelende Feuer erlosch jedoch nicht, denn mit dem Volkstribunat des jüngeren Gracchen-Bruders ging das Spiel in verschärfter Form weiter. Caius Gracchus entfaltete ein Feuerwerk an Reformaktivitäten, seine Gegner griffen zu neuen, durchaus perfiden Mitteln, um ihn zu stoppen.

Caius Gracchus kam am Ende im Rahmen einer brachialen Bluttat mit mehr als 3.000 Toten um. Charlotte Schubert skizziert den zeitlichen Ablauf: Zunächst habe sich der vormalige Volkstribun mit seinen bewaffneten Anhängern auf den Aventin versammelt, erst danach sei diese bar jeglicher Legitimität zusammengerottete Truppe Aufständischer mit »umstürzlerischer« Absicht attackiert und niedergehauen worden. Kann man Caius tatsächlich unterstellen, er plante eine Aktion, die in einen Bürgerkrieg geführt hätte? 

Es erscheint  richtig, dass die Morde von 133 und 121 v. Chr. »kaum zu vergleichen« (im Sinne von gleichzusetzen) sind, doch kann man in der Betrachtung der Ereignisfolge die Tötung des Tiberius nicht übergehen. Sie war die erste Gewalttat, initiiert und ausgeführt von Reformgegnern aus dem Senat. Allein die Überlieferung von Caius’ Traumgesicht, das ihm seinen Tod vorausgesagt haben soll, unterstreicht die Bedeutung des Mordes von 133 für die Handlungsweise von Caius und seinen Anhängern zwölf Jahre später. Der vielzitierte Traum wirkt eher wie ein illusionsloser Blick auf das besiegelte Schicksal des ehemaligen Volkstribuns.

Vielleicht war die Zusammenkunft auf dem Aventin eine letzte heroische Geste oder ein Akt der Verzweiflung, um das verwirkte Leben zu retten? Sie wirkt tatsächlich eher defensiv. 3.000 Anhänger des Gracchen wurden niedergemacht; auch wenn sie bewaffnet waren, müssen sich gegenüber den Kräften des Opimius (»Schwerbewaffnete und Bogenschützen«) dramatisch unterlegen gewesen sein. Auch aus diesem Grund frage ich mich, ob  Caius´ Absicht tatsächlich »umstürzlerisch« im Sinne eines bewaffneten Aufstandes war, insbesondere angesichts der erbarmungslosen Schlächtermentalität ihres Gegners.

Dreitausend Menschen haben die Widersacher des Volkstribunen Caius Gracchus niedergemacht; deren Vermögen zog die Staatskasse ein.

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune

Selbst der Hinweis auf den rechtlichen Status von Caius als Privatmann zum Zeitpunkt seines Todes hilft nur bedingt weiter, denn die Ermordung seines Bruders hat gezeigt, dass auch ein Amt keinen Schutz mehr bot. Nicht umsonst versuchte Caius den Schutz gegen gewalttätige Übergriffe wiederherzustellen und zu erhöhen, gerade auch für Privatmänner, die oft dem Machtmissbrauch der Elite ausgesetzt waren; auch die Volkstribunen sollten vor Attacken nach Beendigung ihres Amtes geschützt werden.

Vor allem aber ist augenfällig, dass die Reformgegner eine zutiefst destruktive Verhaltensweise an den Tag legten. Neben der schon aus den Zeiten des Tiberius bekannten Blockade sah sich Caius einer perfiden Taktik seiner Gegner gegenüber: Die Überflügelung der Reformgesetze durch viel weiter reichende, die zwar von der Volksversammlung abgesegnet wurden, aber in keiner Weise finanzierbar waren und nicht umgesetzt wurden; ja, niemals umgesetzt werden sollten. Parallel wurden auf diese Weise Vorhaben des Caius abgeschwächt.

Charlotte Schubert ist in jedem Fall zuzustimmen, dass diese Vorgehensweise geschickt und sehr effektiv gewesen ist. Offen bleibt für mich aber die Frage, woher dieser fundamentale, extrem aggressive und schließlich in dem sehr zwiespältigen und rechtlich obskuren Senatus Consultum Ultimum mündende Widerstand eigentlich rührte. Naheliegend wäre die Vermutung, dass der Senat das Volkstribunat einhegen oder gar beseitigen wollte, mithin also eine institutionelle Umformung der Republik, die man den Gracchen und ihren Anhängern unterstellte.

Faktisch fehlte „die über Jahrhunderte eingeübten Verfahren der Konsensherstellung“, aus meiner Sicht macht Tod der Tribune deutlich, dass diese vor allem auf Seiten des Senats verschwunden war, und zwar auch gegenüber ganz herausragenden Persönlichkeiten wie Fulvius Flaccus. Aber warum? Wo auf dem Weg vom Sieg über Hannibal waren sie verloren gegangen? Einen Ersatz für die Konsensherstellung gab es bis zum Ende der Republik nicht.

Das Instrument des Senatus Consultum Ultimum hat 121 keine Eskalation verhindert, später auch nicht. Nach dem Tod des Caius’ begann eine immer dramatischere Zeit der inneren Gewalt in der römischen Republik, endlose, blutige Kriege im Innern, Proskriptionen, Mord und Totschlag. Diejenigen, die Öl ins Feuer gegossen haben, saßen im Senat; dafür haben nicht nur die Gracchen einen hohen Preis bezahlt:

Mit der Ermordung der Tribunen und der Abschlachtung der Gefolgsleute des Caius hatte sich das senatorische Rom für die Zukunft entscheidende Wege zur Konfliktlösung innerer Krisen verlegt – die Eliten führten so die Republik in eine Sackgasse, aus der es einhundert Jahre später endgültig keinen Ausweg mehr gab.

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune

So ist es.

[Rezensionsexemplar]

Charlotte Schubert: Der Tod der Tribune
Leben und Sterben des Tiberius und Caius Gracchus
C.H.Beck 2024
Gebunden 304 Seiten
ISBN: 978 3 40681372 6

Uwe Wittstock: Marseille 1940

Die Wehrmacht zermalmte im Frühjahr 1940 ihre Gegner, was viele in Frankreich lebenden Exilanten in eine lebensbedrohliche Lage brachte und zur oft verzweifelten Flucht zwang. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Die südfranzösische Stadt Marseille platzte im Sommer 1940 aus allen Nähten. Zu den 900.000 Bewohnern aus der Vorkriegszeit kam noch eine halbe Million Menschen hinzu, die man etwas despektierlich als Treibgut des Krieges bezeichnen könnte: Flüchtlinge aus vielen europäischen Ländern, britische Soldaten, Fremdenlegionäre, Angehörige der französischen Kolonialtruppen (Algerien, Indochina, Marokko), demobilisierte Franzosen.

Es war ein buntes Gewirr des Schreckens, denn das exotische Gemenge der Kleidung überdeckte nicht die pure Not der Gestrandeten, von denen die überwältigende Mehrheit vor allem eines wollte: raus aus Frankreich, weg vom Krieg. Die Wehrmacht hatte Frankreich, die Niederlande, Belgien und Luxemburg innerhalb weniger Wochen überrollt und Millionen fliehende Menschen wie eine Bugwelle vor sich hergetrieben. Aus französischer Sicht hat Pierre Lemaitre diese Zeit in seinem brillanten Roman Der Spiegel unseres Schmerzes beschrieben.

Zu den Flüchtlingen gehörte eine recht kleine Schar deutschsprachiger Literaten, die nach 1933 aus Deutschland (später auch Österreich und der Tschechoslowakei) fliehen mussten, also schon die zweite oder dritte Flucht durchlitten. Ihnen widmet sich Uwe Wittstock in seinem Buch Marseille 1940, ohne dabei zu unterschlagen, dass es sich nur um die sprichwörtliche sichtbare Spitze des Eisbergs handelt: Die prominenten Literaten ließen Spuren in Form schriftlicher Zeugnisse, die überwältigende Mehrheit der vor dem Nazi-Terror Fliehenden nicht.

Vor den Augen Amerikas bricht eine Nation zusammen, die als Inbegriff der Zivilisation, Aufklärung, Eleganz und Lebensfreude gilt.

Uwe Wittstock: Marseille 1940

Es ist gut, dass Wittstock gleich zu Beginn deutlich macht, wem er sich – mangels überlieferter Materialien – zwangsläufig nicht widmen kann (hier sei auf den Roman Die Nacht von Lissabon von Erich Maria Remarque verwiesen). Der Fokus auf literarische Prominenz kann das Bild durchaus verzerren, denn einige Literaten konnten immerhin auf ihre Bekanntheit, eine gewisse Vernetzung und Hilfe von außen hoffen. Die gewöhnliche Zeitgenossen hatten wenig Aussicht, die Aufmerksamkeit der First Lady in den USA, Eleanor Roosevelts, zu erhalten, wie etwa Lion Feuchtwanger.

Genutzt hat es ihm im gewissen Rahmen, doch die restriktiven Rahmenbedingungen für Fliehende ließen sich selbst in diesem Fall nicht außer Kraft setzten – in allen anderen Fällen auch nicht. Es sind Motive, die auch in der Gegenwart die so genannte Flüchtlingsdebatte beherrschen und schwer erträglich machen. Ganz vorn dabei: Bürokratie. Aber auch einander widersprechende Aktivitäten vor Ort, wenn Botschafts- und Konsulatsangehörige Anträge verschleppen, blockieren, während gleichzeitig andere als hilfreiche Wegbereiter auftreten.

Die Lage im Marseille 1940 war politisch und rechtlich kompliziert. Der größte Teil Frankreichs war von der Wehrmacht okkupiert, bis Ende 1942 blieb ein gewisses Gebiet unter der Kontrolle eines ultrakonservativen, rechten Regimes unter Petain. Von diesen hatten Fliehende, vor allem Kommunisten und Juden, wenig Gegenliebe zu erwarten, dank deutschen Drucks galt das für alle, die in Hitlers Deutschland als Staatsfeinde angesehen wurden. Vichy-Frankreich war bis Ende 1942 eine seltsame Zwischenwelt, nicht frei, aber eben auch noch nicht unter der direkten Zuchtrute des „Dritten Reichs“.

Da Italien an der Seite Deutschlands in den Krieg eingetreten war und Spanien zwar neutral, aber durch das rechte Franco-Regime nur bedingt eine Fluchtoption, blieb vor allem Portugal als Ziel, das nur unter großen Schwierigkeiten und Gefahren zu erreichen war. Welche haarsträubenden, dramatischen und durchaus tragischen Schicksale diese geopolitische Zwangslage der in Südfrankreichs Metropole angespülten Flüchtlinge heraufbeschwor, schildert Marseille 1940 in einer mitreißenden Weise, die den Leser rasch gefangen nimmt.

Eine ganze Generation europäischer Kulturgrößen droht innerhalb der nächsten Wochen ermordet zu werden.

Uwe Wittstock: Marseille 1940

Dazu trägt auch der besondere Montage-Stil bei, den Wittstock bereits in Februar 33 verwendet hat. Neben den stets wechselnden Perspektiven, die insgesamt aber die alles umstürzende Gewalt des „Blitzkrieges“ abbilden, werden einzelne Passagen eingestreut, die schlaglichtartig erhellen, welche Art Krieg von den deutschen bewaffneten Verbänden auch im Westen geführt wurde. Die Erschießung von dunkelhäutigen Soldaten der französischen Streitkräfte nach deren Kapitulation etwa, ein Kriegsverbrechen, das historisch im Schatten der millionenfachen Verbrechen im Osten steht. Durch diese Passagen wird die Lebensgefahr für die vielen Flüchtlinge unterstrichen – das “Dritte Reich“ exekutierte seine Ideologie gnadenlos.

„Blitzkrieg“ ist ein wichtiges Stichwort: Wenn wir Bilder vom Krieg sehen, ist es allzu oft Propaganda aus Goebbels Filmschmieden des “Dritten Reichs“. Éric Vuillard hat in seinem Buch Die Tagesordnung darauf hingewiesen, auch gibt es Dokumentationen, die offenbaren, dass in den deutschen Wochenschauen Aufnahmen gezeigt wurden, die vor den Ereignissen (wie dem Angriff auf Frankreich) gedreht wurden. Um Aktualität vorzuschützen, wurden diese in den Kinos mit den entsprechenden Worten umgedeutet; bis heute prägen sie aber unser Bild vom „Blitzkrieg“ im Westen, der mit dem tatsächlichen Krieg wenig zu tun hat.

Bücher wie Marseille 1940 sind auch deswegen so wertvoll, weil sie die sauberen Propaganda-Bilder Lügen strafen und den Blick auf eine ganz andere, brutalere, grausamere Wirklichkeit voller Verzweiflung, Todesnot und tiefer Abgründe freigeben. Das gilt auch für die Behandlung von Flüchtlingen in Frankreich, die dort interniert wurden. Der Zweite Weltkrieg war auch ein Krieg der Lager, in fast jedem Land (selbst den USA, wie David Gutersons Roman Schnee, der auf Zedern fällt am Beispiel japanischstämmiger Amerikaner zeigt) gab es sie.

Zwar sind sie in Frankreich keine Konzentrations- oder gar Vernichtungslager gewesen, doch die haarsträubenden hygienischen Verhältnisse, die unzureichende Versorgung und die bedrückende Unsicherheit machten aus ihnen kleine Höllen für die Insassen. Doch viele Verhaltensweisen der Gefangenen, aber auch des Wachpersonals sind seltsam vertraut aus der vielfältigen Lagerliteratur. Besonders musste ich an Hannah Arendt denken und ihren recht eigenmächtigen Umgang mit der Lage, aber auch an die Franzosen, die sich unter bestimmten Umständen ebenfalls in Internierungslagern wiederfanden.

Ihre Zusammenkünfte wirken dann wie bittere Parodien auf jene Künstlertreffs, die seinerzeit in Pariser Café du Dôme oder in Romanischen Café in Berlin stattfanden.

Uwe Wittstock: Marseille 1940

Bemerkenswert ist ein Umstand, den man getrost als Grundkonstante des Fliehens und des Engagements für Flüchtlinge bezeichnen könnte: Illegalität. Man kennt dieses Wort aus zahllosen Politiker-Reden der Gegenwart. Eine der wichtigsten Personen in Marseille 1940, die ich bislang noch gar nicht erwähnt habe, hat im Kern eine Organisation initiiert und vor Ort geführt, die man getrost als illegale Fassadenfirma einer Fluchthilfe-Gesellschaft bezeichnen könnte. Historisch ist diese Form des Gesetzesbruch heroisch, doch wie würde Varian Fry wohl in der Gegenwart gesehen werden?

[Rezensionsexemplar]

Uwe Wittstock: Marseille 1940
Die große Flucht der Literatur
C.H. Beck-Verlag 2024
Hardcover 351 Seiten
mit 28 Abbildungen und 2 Karten
ISBN: 978-3-406-81490-7

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