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Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg

Kurkow gelingt das Kunststück, den schrecklichen Alltag des Krieges näherzubringen, ohne den Leser damit zu überfordern. Cover Haymon-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Es mag seltsam erscheinen, aber die Lektüre von Andrej Kurkows Im täglichen Krieg ist eine Art literarische Impfung gegen lähmende Angst, Überforderung und Ohnmacht. Die Beiträge des ukrainischen Autors schildern Ausschnitte des Alltags im russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der wird bekanntlich nicht nur an der Front, sondern auch gezielt gegen die Zivilbevölkerung geführt. Russland beabsichtigt eine vollständige Vernichtung der Ukraine.

Wer in den vergangenen Jahren nicht im seligen Tiefschlaf verbracht hat, weiß auch um die Aggressivität des Putin-Regimes gegen den demokratischen Westen. Dabei kann sich der Diktator auf eine Achse der Autokraten stützen, deren Ziel die Zerstörung der unliebsamen, für die Bevölkerung trotz aller Misslichkeiten viel lebenswerteren Staaten, die dem »Westen« zugerechnet werden. Diese sind für Alleinherrscher eine Bedrohung, weil sie als Alternative wahrgenommen werden könnten.

Faktisch führt Russland unter der Hand einen verdeckten Krieg gegen den Westen. Eine grundsätzlich bedrohliche Situation, die oft von interessierten Kreisen verschärft wird. Ein unschönes Beispiel ist die bewusst herbeigeführte Abhängigkeit Deutschlands von Russland bei Energielieferungen. Zu Kriegsbeginn drohten erhebliche wirtschaftliche und soziale Verwerfungen. Menschen reagieren auf Krisen ganz unterschiedlich, nicht wenige mit Verdrängung von Tatsachen und der Neigung, sich falschen Versprechungen zu öffnen.

Auch jene, die offen der Gefahr ins Auge sehen und etwas tun wollen, werden mit einer flatterhaften Flut an Meldungen, Nachrichten, Aufrufen, Lügen, Desinformation, verharmlosenden Medienberichten konfrontiert. Besonders auf den einschlägigen Plattformen im Internet kann der Nutzer schnell das Gefühl bekommen, überrollt zu werden. Ohnmacht ist die düstere Schwester der Angst, beide lähmen und lassen die Neigung wachsen, sich abzuwenden.

Das Schlimmste ist vielleicht, dass der Verlust eines Menschenlebens zu etwas Alltäglichem geworden ist. Im Krieg arbeitet der Tod am Fließband.

Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg

Im täglichen Krieg wirkt diesen Zuständen entgegen. Wie das Zitat zeigt, hat Kurkow keine Freudenbotschaften zu verbreiten, er verharmlost die schockierenden Verbrechen in der Ukraine nicht. Doch schildert er den Alltag im Krieg auf eine unaufgeregte Weise. Der Stil des Autors, bekannt aus seinen Romanen Samson und Nadjeschda oder Graue Bienen, ist ist ein großes Plus des Buches. Ein ruhiger, gemessener Erzählduktus führt den Leser durch das jeweilige Thema, der ohne aufmerksamkeitsheischende Übertreibung auskommt.

Zunächst einmal ist es grundsätzlich wichtig, jene zu Wort kommen zu lassen, die von diesem Krieg betroffen sind – die Ukrainer. Deren Befindlichkeiten sollten bei allem, was über den Krieg zu berichten, einzuschätzen und entscheiden ist, die wesentliche Rolle spielen. Die »Zeugen des Sofas« (Christoph Brumme) im Westen sollten ihre Befindlichkeiten hintanstellen. Wer zuhört, beginnt nicht nur zu begreifen, was der Krieg vor Ort anrichtet, sondern auch, was die Kampfhandlungen hier verändern. Jeder Krieg hat einen langen Arm. 

Kurkow erlebte den Beginn des Krieges in Kyjiw, er war Binnenflüchtling und kehrte zwischenzeitlich wieder in die Hauptstadt zurück. Über den Alltag der permanenten Bedrohung durch russische Luftangriffe weißt er eine Menge zu erzählen. Etwa über das bekannte Motiv, bei Luftalarm zwei sichere Wände möglichst weit von den Außenmauern und Fenstern entfernt aufzusuchen, um Verletzungen durch Glassplitter bei berstenden Scheiben zu vermeiden. Der Flur ist zum Lebensort geworden.

Das sind Äußerlichkeiten. Der Krieg geht aber im Innern weiter, auch wenn man sich äußerlich von den Kämpfen und Bedrohungen entfernt. Kurkow beschreibt anschaulich, wie er auf Auslandsreisen die Umgebung automatisch daraufhin überprüft, wo er im Falle eines Angriffs am besten Schutz findet. Etwa einen Ort, an dem er nicht einem Regen aus Glassplittern ausgesetzt wäre, wenn in der Nähe eine russländische Rakete einschlagen sollte. Kriege enden nicht für jene, die ihm ausgesetzt sind, auch wenn sie sich außerhalb der Reichweite der Waffen begeben.

Wie eine Krankheit bestimmt der Krieg unser Verhalten, unsere Gedanken und sogar unsere Gefühle. Der Krieg übernimmt das Denken für uns. Er entscheidet sogar für uns.

Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg

In einem Kapitel beschreibt Kurkow, wie das Fortleben des Krieges von der Sowjetunion im Falle des Zweiten Weltkrieges verstärkt wurde. Als Kind wurde er von Geschichten über den propagandistisch verzerrten Großen Vaterländischen Krieg überhäuft. Veteranen in Schulen, Filme im Fernsehen und Romane erzählten von Heldentaten sowjetischer Soldaten. Hinzu kamen Kriegsspiele (d.h. »Truppenübungen«) in der Schule, Ausflüge zu Kriegsmuseen und Schlachtfeldern. Solche »Fieberträume vom Krieg«, wie sie Michail Schischkin einmal nannte, wurden in Putins Russland instrumentalisiert.

Kurkow hofft, dass die ukrainische Kultur nach dem jetzigen Krieg einen anderen Weg geht. Sie sollte den »Ukrainern helfen, den Krieg hinter sich zu lassen und ihre Traumata zu bewältigen«. Sie solle für Meinungsfreiheit und Vielfalt eintreten, zugleich aber eine einigende Kraft werden. Diese kurzen Abschnitte zeigen, wie gewaltig die kulturelle Kluft zwischen der Ukraine und dem propaganda- und hassgesättigten Russland mittlerweile ist.

Kurkow verschweigt auch nicht, dass die Ukrainer durch den immer länger sich hinziehende Krieg unter Druck geraten. Kriege zermürben. Die vielgerühmte Resilienz ist kein unerschöpflicher Brunnen, gerade im Angesicht eines Gegners, der auf Vernichtung aus ist, treten Überforderungen auf. Atempausen vom Krieg, von der Belastung, dem Terror sind nötig, aber schwierig, denn auch in ruhige Gegenden reisen Terror und das schlechte Gewissen mit.

In vielen Passagen wird das Bemühen Kurkows deutlich, sich selbst eine Funktion im Krieg zuzuschreiben. Es klingt nach dem Versuch, das Schreiben zu rechtfertigen, eine Tätigkeit, die recht fern vom Kampf, von Rettung oder Wiederaufbau ist. Was ist die Aufgabe eines Schriftstellers im Krieg? Hilft die eigene Tätigkeit oder ist es nur die Ablenkung von der Ohnmacht? Anders als das Liken und Retweeten in den Sozialen Medien ist das Schreiben keineswegs sinnlos, wie ich bei der Lektüre von Im täglichen Krieg an mir selbst feststellen konnte.

Das Thema Verrat ist in der Ukraine ganz und gar kein beliebtes und wird definitiv nur höchst ungern angesprochen.

Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg

Die Ukraine ist kein idealer Staat, ihre Bürger sind weder Engel noch Lichtgestalten. Auch nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gibt es genügend Probleme – wie könnte es auch anders sein, hat doch der seit 2014 schwelende Krieg im Osten des Landes eine Modernisierung und Reformierung massiv behindert. Kurkow verschweigt viele der Schwierigkeiten nicht, Korruption, fehlende Bunker, kontraproduktive »Hilfe«, Versagen der Behörden, Politspielchen.

Seine Herangehensweise ist nicht nur konstruktiv, sondern auch enorm kreativ. Ein schönes Beispiel für Kurkows originellen Stil ist das Kapitel mit der auf den ersten Blick etwas seltsamen Überschrift »Bienen und Verräter«. Der Autor verwebt in jedem Abschnitt wenigsten zwei Motive, die augenscheinlich nichts miteinander zu tun haben. Doch gelingt ihm ein Brückenschlag, der den Blick auf die vielschichtige und widersprüchliche, chaotische Wirklichkeit des Kriegsalltags freigibt.

Einige der vielen Helfer in der Ukraine kümmern sich um verwaiste Katzen aus den Frontgebieten. Dort lebten vor dem Krieg zahllose Bienenzüchter, einer davon ist Hauptfigur in Kurkows fabelhaften Roman Graue Bienen. Zehntausende Bienenvölker könnten infolge des Krieges verloren gehen, die Bienen verwildern und vor dem Lärm fliehen. Ein Soldat mit Imker-Kenntnissen nimmt sich bei Bachmut eines Bienenvolkes an und gibt ihm in einer Munitionskiste ein Zuhause. Als der Imker versetzt wird, können die Bienen dank eines Freiwilligen (ohne Imker-Kenntnisse) in ihrer Kiste nach Westen fliehen.

Von den Bienen kommt Kurkow auf die Menschen im Frontgebiet, die zum Teil abwarten, statt zu fliehen. Neben pro-ukrainischen gibt es darunter jedoch auch verräterische Abwartende, die bei erster Gelegenheit mit den Invasoren kollaborieren. Ein unangenehmes Thema, das Kurkow über das Bienen-Motiv ansteuert: Ukrainer, auch in hohen Positionen, haben sich kaufen lassen, schon 2014.

In den besetzten Gebieten müssen viele Menschen mit den Russen kooperieren, denn ihnen werden vielfältige Daumenschrauben angelegt. Doch auch in den nur kurzfristig eingenommenen Dörfern um Kyjiw gab es Kollaborateure, die den Russen bei ihren Kriegsverbrechen halfen, darunter ein ehemaliger Mönch aus einem Kloster des Moskauer Patriarchats in Andrijiwka. Nach dem Rückzug der Russen blieben ihre Hinterlassenschaften, Müll, Gerümpel und auch Waffen.

Die wiedergewonnene Freiheit in den befreiten Orten liegt unter dem Schatten der überstandenen Besetzung. Betrunkene feuern mit den russischen Waffen bei Nacht, niemand will sie anschwärzen, wegen dem, was die »Alkoholiker« unter der Knute russischer Soldaten durchmachen mussten.

Es ist ein seltsames Nebeneinander in dieser neuen Hölle. Einige Bewohner bemühen sich um Normalität, andere stehlen das Gemüse aus dem Garten des Nachbarn, um Alkohol vom Erlös zu kaufen. Einer dieser »Täter« ist ausgerechnet Bienenzüchter. Das Eingangsmotiv dient zu einem Kommentar Kurkows: Eines der Bienen-Völker des räuberischen Alkoholikers wird sich aus dem Staub machen, denn:

Vernachlässigung ist auch eine Form des Verrats und genauso wie Menschen tun sich Bienen schwer damit, Verrätern zu vergeben.

Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg

Kurkow lässt seinen Lesern Raum, um selbst über unangenehme Themen wie Verrat, Kriegsverbrechen, Kollaboration und Traumata nachzudenken, indem er auf literarische Weise für die nötige Entlastung sorgt. Angst frisst nicht nur die Seele auf, sie verhindert auch Denken und Empathie. Auf diese Weise bringt Im täglichen Krieg dem Leser den Kriegsalltag nahe, ohne diesen damit zu erschlagen. Auch aus diesem Grund ist das Buch unbedingt lesenswert, wie schon der erste Teil, Tagebuch einer Invasion.

[Rezensionsexemplar]

Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg
Aus dem Englischen von Rebecca DeWald
Haymon Verlag 2024
Klappenbroschur 432 Seiten
ISBN: 978-3-7099-8230-3

Oleksij Tschupa: Märchen aus meinem Luftschutzkeller

Erzählungen aus der östlichen Ukraine. Cover Haymon Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Erzählungen lese ich recht selten. Nein, auch nicht die von Franz Kafka, nicht einmal im Jubiläumsjahr. Ein paar Bände mit Erzählungen habe ich aber schon im Regal stehen, den von Leonardo Padura wollte ich in diesem Jahr endlich einmal lesen. Doch ist mit der ukrainische Autor Oleksij Tschupa mit seinen Erzählungsband Märchen aus meinem Luftschutzkeller dazwischengekommen.

Im Gegensatz zu Sammelbänden á la Kafkas Erzählungen sind die Texte aus dem »Luftschutzkeller« zumindest räumlich miteinander verbunden: Alle spielen in einem Haus bzw. die Personen, von denen und über die erzählt wird, wohnen in diesem Haus. Manchmal nimmt die Handlung auf eine andere Erzählung Bezug, zum Beispiel wenn etwas dort Geschildertes von anderen Hausbewohnern gehört oder gesehen und dann erzählt wird.

Das Haus steht in Makijwka, einem Ort im Donbass der Ukraine, der seit ein paar Jahren zu Putins Marionetten-Kreation »Volksrepublik Donezk« gehört. Es ist der Geburtsort des Autors Oleksij Tschupa, der mittlerweile weiter westlich in der Ukraine lebt, was angesichts der politisch-wirtschaftlichen Umstände in der russisch kontrollierten Region kein Wunder ist. Thematisiert wird das allerdings in den Erzählungen nur am Rande.

Meine Lieblings-Erzählung ist »Goodbye Lenin«. Natürlich geht es auch in dieser um eine Lenin-Statue, die jedoch nicht an einem Hubschrauber durch die Luft fliegt, sondern – ganz profan – gestürzt wird. Soweit, so erwartbar. Tschupa belässt es jedoch nicht dabei, sondern gestaltet diese politisch-anarchistische Aktion zu einer Groteske. Die Umstürzler finden nämlich überraschenderweise etwas im Sockel der Statue und kommen zu einer wahrhaft salomonischen und sehr komischen Lösung, wie sie sich vor etwaigen Nachstellungen der von ihrer Aktion wenig erfreuten Kommunisten schützen können. Toll!

Fast alle Erzählungen sind dynamisch, modern und schräg, was natürlich in erster Linie an den Handelnden liegt. Sehr gefallen hat mir die Vielfalt der der Figuren und ihrer Charaktere, der prügelnde Berkut-Angehörige und die nörgelige Mutter, Wodka, Waffen, hochfliegende oder ganz abgründige Pläne, Gemeinheiten, Fluchten und auch eine schauerliche Geschichte um einen Kriegsgefangenen aus Deutschland, der nach dem Zweiten Weltkrieg beim Hausbau eingesetzt war und auf seine Weise Spuren hinterlassen hat, die bis in die Gegenwart spürbar sind.

Im letzten Kapitel des Buches gibt sich der Autor selbst die Ehre und erzählt von den Umständen, unter denen Märchen aus meinem Luftschutzkeller entstanden ist. 2014, als er das Buch abgeschlossen hat, begann wenige Wochen später der Beschuss des Ortes, die Schlussbemerkungen sind folgerichtig mit »Noch ein paar Worte aus dem Keller« überschrieben. Erhellende Worte.

Oleksij Tschupa: Märchen aus meinem Luftschutzkeller
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
Haymonverlag 2019
Gebunden, 208 Seiten
ISBN: 978-3-7099-7253-3

Kateryna Mishenko, Katharina Rabe (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges

Das Buch umfasst eine beeindruckende Sammlung von Beiträgen rund um den russischen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine. Cover Suhrkamp, Bild mit Canva erstellt.

Seit zehn Jahren greift Russland die Ukraine mit dem Ziel an, den souveränen Staat zu vernichten, eine Tatsache, die aus Bequemlichkeit, Ignoranz und falschem Hoffen im Westen ignoriert wurde und wird. Seit Februar 2022 hat Putins Reich die Attacken zu einer vollumfänglichen Invasion ausgeweitet, was den größten offenen Eroberungs- und Vernichtungskrieg in Europa seit 1945 ausgelöst hat. 

Es ist und wird die Schuld vieler westlicher Politiker, insbesondere des Schröder-Merkel-Deutschlands bleiben, die Katastrophe nicht verhindert, Putin trotz aller Warnungen nicht gestoppt zu haben. Mittlerweile gibt es genug Bücher, die das Generalversagen der hochgelobten deutschen Ostpolitik des »Exportweltmeisters in Vergangenheitsbewältigung« klar herausstellen; und trotzdem wird auch zwei Jahre nach der Invasion hierzulande immer noch gelogen, geheuchelt und politisch taktiert, noch immer wird der hybride Krieg Russlands gegen den Westen verharmlost und die Angst instrumentalisiert.

Was das für die Ukraine und ihre Bewohner bedeutet, wird klar, wenn man sie zu Wort kommen lässt. Das geschieht in Büchern wie Aus dem Nebel des Krieges, die dem geneigten, offenen Leser mit vielen Eindrücken, Fakten und Berichten dienlich sind, die ein wirkliches Verstehen ermöglichen. Das ist unbequem, weil die wohlgefälligen Unwahrheiten, die insbesondere in Wahlkampfzeiten gern verbreitet werden, es einfacher machen.

Dem Opfer zu glauben, fällt schwer, es ist bequemer und sicherer, sich mit dem Aggressor zu assoziieren.

Kateryna Mishenko, Katharina Rabe (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges

Manche Menschen in der Ukraine haben die Fluchterfahrung gleich doppelt gemacht. Der Schriftsteller Volodymyr Rafeyenko hat das in ein Bild gefasst: »Ich kaufe keine Bücher mehr, weil ich schon zwei Bibliotheken zurücklassen musste«. Der russische Krieg um den Donbas hat Rafeyenko 2014 aus Donezk zur Flucht gezwungen, die vollumfängliche Invasion Russlands im Februar 2022 aus der Nähe von Kyjiw.

Dort verbringt der Autor Tage und Wochen in einem Kessel. Eingeschlossen von der russischen Armee, abgeschnitten von allen Nachrichten, Strom, Lebensmitteln, aber auch von Brennstoff. Die eiskalten Nächte verwandeln das Haus in eine »dunkler und unglaublich kalte Wüste«, die Erlebte entzieht sich jedem Versuch, es in Worte zu fassen. Am Ende der erfolgreichen Flucht, denn Rafeyenko hat im Gegensatz zu vielen anderen überlebt, steht »Entwurzelung«, wie sich auch im Verlust der eigenen Bibliothek zeigt. Überall »fühle ich mich fremd und überflüssig«, ein Zuhause wird Rafeyenko in seiner verbleibenden Lebenszeit nicht mehr haben.

Donezk ist seit 2014 unter russischer Kontrolle, wie sich dort lange vorher der Einfluss der Russen breitmachte, schildert Rafeyenko in nüchternen Sätzen. Diese sind umso wirkmächtiger, weil sie die allumfassende Blindheit im Westen gegenüber dem expansiven Streben Putins entlarven. Selbst mit »bloßem Auge« seien die Aktivitäten der russischen Geheimdienste zu sehen gewesen. »Über ein Jahrzehnt wurde eine prorussische militärische und kulturelle fünfte Kolonne etabliert«. Wohlgemerkt: Hier ist von den Jahren vor 2014 die Rede.

Zwei Bibliotheken von Volodymyr Rafeyenko ist nur einer der vielen bewegenden Texte in dem vorzüglichen Sammelband Aus dem Nebel des Krieges. Ich habe ihn hier etwas ausführlicher dargestellt, weil er auf eine ebenso knappe wie eindrückliche Weise die über viele Jahre reichende Entwicklung bündelt. Die von vielen als »überraschend« und »unvorhersehbar« verbrämte Katastrophe vom Februar 2022 hat sich lange abgezeichnet, man wollte den heraufziehenden Angriffs- und Vernichtungskrieg nicht sehen. Dazu steht es nicht im Widerspruch, was ich bereits in vielen Tagebüchern und Äußerungen von Ukrainern (aber auch Journalisten aus dem Westen) gelesen habe:

Trotzdem haben wir es nicht geglaubt. Bis zum Schluss nicht geglaubt. (Artem Chapeye)

Kateryna Mishenko, Katharina Rabe (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges

Was Artem Chapeye in seinem Beitrag Wenn der Pazifismus endet mit diesem Satz beschreibt, ist jener Funken Resthoffnung, der im Augenblick des Angriffs am 24. 02. 2022 zerbarst. Das wichtigste Wort in diesem Satz lautet: »trotzdem«. Denn der Notfall-Rucksack stand längst bereit, Dokumente und Geld waren darin verpackt. Der Autor hatte sich vorbereitet auf den Fall, von dem er inständig hoffte, er würde nicht kommen; das hing nur noch an einem seidenen Faden einer trügerischen Hoffnung.

Wie danach, während der Flucht und der Reflexionen über den Krieg, der die vollständige Auslöschung der Ukraine und alles Ukrainischen zum Ziel hat, Stück für Stück der Pazifismus schwindet, ist ein Lehrstück über die Anpassung an die Realitäten. Chapeye ist Pazifist, hat eine ganze Reihe pazifistischer Kriegsliteratur gelesen und vom leuchtenden Vorbild dieser Denkweise, Gandhi, das Buch Satyagraha ins Ukrainische übersetzt.

Doch gegen die Macht des Faktischen ist der Pazifismus nicht mehr als eine ohnmächtige Geste. Denn der Aggressor schert sich nicht um derlei, wenn sein Ziel die Vernichtung ist. Das gilt für Hitler ebenso wie Putin. Weniger ohnmächtig und mehr als eine Geste ist es, dass sich Artem Chapeye trotz seiner Bedenken, seiner sich selbst (und den Lesern) eingestandenen Furcht freiwillig zu den Streitkräften der Ukraine gemeldet hat.

Gegen Putins Raketen wird Satyagraha nicht funktionieren. Gandhi konnte Hitler nicht mit seinen Briefen überzeugen. (Artem Chapeye)

Kateryna Mishenko, Katharina Rabe (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges

Der Sammelband Im Nebel des Krieges enthält auch Stimmen aus Russland. Alissa Ganijewa stellt Die Frage nach unserer Verantwortung. »Uns« meint dabei Russland und seine Bevölkerung. Die Diagnose und Prognose fallen betrüblich aus, was diesen Text umso wertvoller macht, weil er den Leser von einer Reihe Täuschungen befreit, was die Lage in Putins Reich anbelangt.

Wer von Verhandlungen schwadroniert, sollte sich erst einmal darüber im Klaren werden, mit wem er da spricht – da sind Eindrücke, wie sie Ganijewa darlegt, sehr hilfreich. Denn auch jene Kreise, die gegen den Krieg sind, befassen sich vor allem mit der »Suche nach einer privaten Absolution, mit Selbstrechtfertigung und Selbstleid«. Das ist kein Einzelfall, etwa das Tagebuch vom Ende der Welt ist voll von derartigen Motiven.

Ganijewa schildert sachlich, wie es um das Innenleben der kritischen Bewohner Russlands bestellt ist. Von den Z-Begeisterten ist hier nicht die Rede und das macht den Beitrag so schwer erträglich: Es sind »deprimierende Beobachtungen«, die sehr deutlich machen, dass es nicht nur Putins Krieg ist und selbst der kleine Teil der Bevölkerung des Landes keine große Hoffnung macht; der Weg zu »einem wirklich neuen Russland« ist weit, »selbst wenn Putin morgen sterben würde«.

Aber der Wunsch, die Last der Verantwortung von Hand zu Hand zu werfen wie eine heiße Kartoffel, ist doch stärker. (Alissa Ganijewa)

Kateryna Mishenko, Katharina Rabe (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges

Man braucht auf Verhandlungen mit Putin nicht zu hoffen, ehe nicht die Voraussetzungen dafür geschaffen sind: eine schwere, vielleicht vernichtende militärische Niederlage der russländischen Streitkräfte flankiert von weitgehender politischer Isolation und wirtschaftlichem Niedergang Russlands.

Das ist eine schmerzliche, für viele schwer oder gar nicht auszuhaltende Erkenntnis gerade auch in Deutschland, was von zahlreichen politischen Akteuren auf eine geradezu groteske Weise ausgenutzt wird. Diesen schäbigen Bestrebungen kommt – ausgerechnet – die hochgelobte deutsche Erinnerungskultur entgegen, die sich als Flucht aus der Gegenwart oder Ersatz für die Bewältigung der Gegenwart entpuppt hat.

Gerade die sich universalistische gerierende Intellektuellen-Klasse hat eine geradezu peinliche, weil von ihr selbst so oft ostentativ verachtete Charaktereigenschaft gezeigt: ein „germanozentrischer Provinzialismus, der Ohne-mich-deutsche-Michel, der sich heraushält, wenn es hart zugeht.“ Karl Schlögel, von dem diese Worte stammen, hält dem Land und seinen Briefeschreibern einen klaren Spiegel entgegen.

Das tut auch Stanislaw Assejew, der in einem russischen Konzentrationslager saß und aus diesem Gang durch die Hölle seinen eigenen Weg der Traumabewältigung gefunden hat. Ein Zitat von ihm steht am Ende dieser Buchbesprechung – anstelle eines Resümees:

Jeder Vorschlag, einen Teil des ukrainischen Staatsgebiets Russland zu überlassen, um den Krieg schneller zu beenden, läuft nicht auf einen politischen Deal hinaus, sondern auf ein Versagen unserer gesamten Zivilisation. Denn auf jedem Quadratmeter Boden, den man an Russland abträte, würde ein totalitäres Regime errichtet. Solche Konzentrationslager gäbe es dann überall. (Stanislaw Assejew)

Kateryna Mishenko, Katharina Rabe (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges

Zugeständnisse an Putin auf Kosten der Ukraine heißt nichts anderes, als noch mehr Menschen hilflos der Blutmühle Putins zu überlassen. Alles andere sind wohlfeile Unwahrheiten, wie sich zeigt, wenn der Nebel des Krieges ein wenig durchdrungen wird, wie in diesem sehr informativen Buch.

Kateryna Mishenko, Katharina Rabe (Hrsg.): Aus dem Nebel des Krieges
Die Gegenwart der Ukraine
edition suhrkamp 2023
Klappenbroschur, 288 Seiten
ISBN: 978-3-518-02982-4

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion

Andrej Kurkows Aufzeichnungen gehen weit über ein gewöhnliches Tagebuch hinaus, sie bringen dem Leser den Krieg auf nachdrückliche Weise näher, lassen ihn die ungeheuren Verluste spüren, die Russlands Angriffskrieg zeitigt. Cover Haymon Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Gleich mehrere Sätze aus diesem Tagebuch einer Invasion haben mich lange beschäftigt. Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow bringt an einer Stelle auf den Punkt , was ein Frieden á la Putin für die Ukraine bedeuten würde. Ein Frieden, von dem in Deutschland Briefeschreiber und Petitions-Signierer sprechen, über die Köpfe der Betroffenen hinweg, die – man muss es so deutlich sagen – die Friedensbewegten kein Stück interessieren.

Statt [der Ukraine] wird es hier einen Friedhof geben mit einer Friedhofswärterhütte, in der eine Art Generalgouverneur hocken wird, den man aus Russland geschickt hat, um die Gräber zu bewachen. 08.03. 2022

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion


Das ungeheuerliche Bild, das Andrej Kurkow hier malt, ist erschütternd, hellsichtig und leider nicht überzogen, wie man spätestens seit Butscha wissen müsste. Russland führt gegen die Ukraine einen Vernichtungskrieg und ein Frieden mit dem Segen des Kreml gibt es nur, wenn die Auslöschung von Staat und Volk vollendet wäre. Es wäre ein Siegfrieden, dem Friedhofsruhe folgen würde. Alle anderen Annahmen sind bloße Augenwischerei.

Kurkows Satz ist entlarvend. Jene, die im friedlichen Deutschland sitzen, und ihre »Vorschläge« unterbreiten, tun dies in einer kolonialistischen, menschenfeindlichen Haltung, es geht um ihren eigenen Frieden, den hilflosen Versuch, ein Weltbild zu retten, das Schiffbruch erlitten hat, und ihre eigene Ohnmacht zu überdecken. Es ist durchaus menschlich, das Überwältigende wegzudrücken, aber nicht auf Kosten anderer, die ihren Kopf dafür hinhalten müssen. Das wird durch Kurkows Tagebuch deutlich.

Zu den unangenehmsten Passagen des Buches gehören jene, in denen Kurkow von westlichen, vor allem deutschen Journalisten und ihre dummen Fragen spricht, Fragen, die selbst jene leeren, formelhaften Interviews von Fußballern nach Ligaspielen unterbieten. Ob man bereit wäre, für die Ukraine zu sterben – die wohl dümmste von allen, denn sie stellt sich jenen nicht, für die es keine Wahl gibt. Fragen, als hätte es Mariupol nicht gegeben.

Umso seltsamer ist es, dass man in einer solchen Situation Fragen wie diese von ausländischen, häufig deutschen Journalisten hört: »Sprechen Sie bereits mit Ihren russischen Schriftstellerkollegen darüber, wie Sie einander nach dem Krieg begegnen werden?« 23. März 2022

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion


Das ist von atemberaubend ideologischer Verbohrtheit und nicht untypisch für deutsche Medien aller Couleur. An diesem Tag, dem 23. März 2022, hat Kurkow notiert, dass sich alles langsam nach einem »versuchten Völkermord« anfühle. Europa, so seine Diagnose, habe noch nicht das Ausmaß des Schreckens erfasst; viele wollen das nicht, bis heute nicht und stürzen sich in groteske Verschwörungserzählungen.

Der Schriftsteller Kurkow ist von diesem Krieg aus der Bahn geworfen worden, von einem Tag auf den nächsten ist sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt, seine Existenz in mehrfacher Hinsicht bedroht und die Zukunft ungewiss. Vor allem aber ging es ihm so, wie es mit Sicherheit vielen anderen in der Ukraine ebenfalls erging: Er habe es »einfach nicht wahrhaben« wollen, dass tatsächlich ein Krieg ausgebrochen war.

Es sind die Tage der Fassungslosigkeit, der Versuch, die neuen Realitäten zu sortieren, jene Bedingungen, unter denen lebenswichtige Entscheidungen  getroffen werden müssen, vor allem jene: Kyjiw verlassen oder nicht. Heute ist die Stadt nicht mehr von russischen Truppen bedroht, wird aber unverändert mit Raketen und Drohnen beschossen. Damals aber dräute eine Einkesselung der ukrainischen Hauptstadt, was das Leben von Millionen in Gefahr gebracht hätte.

Die neue Realität in der Ukraine übertrifft meine schriftstellerische Vorstellungskraft bei Weitem. 23.02. 2022

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion


Wie Millionen andere Ukrainer geht auch der Schriftsteller mit seiner Frau wenige Tage nach dem Angriffsbeginn in den Westen des Landes und kommt dort so lange unter, bis er nach Kyjiw zurückkehren kann. Im Exil angekommen, versucht er, wieder zu schreiben – eigentlich stünde die Arbeit an einem Roman an, doch ging das nicht. Bei einer Lesung hat Kurkow das auch damit in Zusammenhang gebracht, dass er auf Russisch schreibt, der Gebrauch der Sprache des Angreifers im  Vernichtungskrieg aber für einige Zeit unmöglich war.

Stattdessen informiert er sich, folgt dem Geschehen in den Sozialen und herkömmlichen Medien und beginnt selbst, Artikel und Beiträge zu verfassen, Interviews zu geben, zu erklären, erläutern und berichten, insbesondere dem Westen deutlich zu machen, was in der Ukraine tatsächlich geschieht. Sein Tagebuch einer Invasion geht weit über das hinaus, was ein gewöhnliches Tagebuch leistet – es enthält lange, ausgearbeitete Streifzüge und Betrachtungen durch historische Zusammenhänge und Ereignisse, die Gegenwärtiges im richtigen Licht erscheinen lassen.

Da wären zum Beispiel die Deportationen von Ukrainern, die in den von Russland besetzten Gebieten seit Kriegsbeginn wieder im großen Stil durchgeführt werden. Vom Staatsgebiet der Ukraine wurden in der Stalinzeit nicht nur die Krimtataren deportiert, sondern auch viele ukrainische Bauern. Kurkow schildert, dass Stalin zum einen unliebsame Elemente aus der Ukraine entfernen ließ, andererseits das menschenleere und wenig attraktive Sibirien mit dringend benötigten Arbeitskräften versorgte.

In dieser neuen Epoche erleben wir nun, wie sich die Geschichte wiederholt. 05.03. 2022

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion


Je länger man das Tagebuch liest, desto eindrücklicher wird das Bild vom Krieg, von seinen Widersprüchen, Überraschungen, der unglaublichen Kraft einer Zivilgesellschaft, die sich organisiert und den Widerstand gegen die Invasoren von der Graswurzel aus führt – was im Westen von den selbst ernannten Friedensbewegten überhaupt nicht wahrgenommen wird.

Besonders beeindruckend ist Kurkows Schreib- und Erzählweise, mit der es ihm gelingt, den Leser die verheerenden Seiten des Krieges nachempfinden zu lassen. Ein schönes Beispiel ist das Kapitel »Brot mit Blut«. Brot ist etwas Alltägliches, was jeder kennt. Zunächst schildert Kurkow das Verhältnis seiner Familie zum Brot, auf dem Dorf habe er mehr davon gegessen als in der Stadt, denn »Dorfbrot war schon immer leckerer als das in der Stadt«.

Die Kinder lieben das Brot, insbesondere das der Lieblingsbrotmarke Makariw, ein »weiches Kastenweißbrot«, das in der Makariw-Bäckerei im Ort gleichen Namens gebacken wurde. In Kyjiw gebe es diese Kostbarkeit nur vereinzelt in kleinen Läden, nicht im Supermarkt. Die Erinnerung an den Geschmack ist jedoch von dem nach Blut unterlegt, als habe ihm jemand die Lippe blutig geschlagen. Denn:

Am Montag wurde die Makariw-Bäckerei von Russlands Truppen bombardiert. Die Bäcker waren bei der Arbeit. Ich kann mir den Duft vorstellen, der sie in dem Moment umgab, als der Angriff stattfand. Von einem Augenblick zum nächsten wurden dreizehn Bäckereimitarbeiter getötet und neun weitere verletzt. Die Bäckerei gibt es nun nicht mehr. Makariw-Brot gehört der Vergangenheit an. 08.03. 2022

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion


Eine Bäckerei, ein Lieblingsbrot kennt jeder. Wer könnte diesen Verlust nicht nachempfinden, wer nicht das brillante und nahegehende Bild des nach Backstube duftenden Ortes, der von einer Rakete in einen Ort des Todes verwandelt wurde? Solche Passagen bringen den Kriegschrecken dem Leser näher, sie verbinden ihn mit dem Denken und Fühlen, reißen ihn aus der Grauzone des Abstrakten.

Kurkow macht auf diese Weise deutlich, was Sätze, wie etwa jene über die Kriegsziele Putins in der Ukraine in der Lebenswirklichkeit der Menschen bedeuten – nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart, wenige Flugstunden von Deutschland entfernt. Es ist ein abstraktes Ziel, die UdSSR oder das Zarenreich wieder errichten zu wollen, dessen versuchte Verwirklichung durch Krieg sehr blutige, schmerzhafte und irreversible Folgen in der Realität der Menschen zeitigt.

Zu den Kuriositäten, ja grotesken Dingen des Krieges gehört, dass zerstört wird, was angeblich geschützt werden soll. Die vorgeschobene Begründung Putins, die Russen und ihre Sprache schützen zu wollen, ist eine Lüge. Das Gegenteil ist der Fall, wie Kurkow am eigenen Leib erfahren muss, denn er ist ethnischer Russe mit Russisch als Muttersprache, die ebenfalls unter Feuer gerät.

Putin zerstört nicht nur die Ukraine, er zerstört Russland und damit auch die russische Sprache. 13.03. 2022

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion


Wer es im Westen einfach mag, und das gilt durch alle Bevölkerungs- und Bildungsschichten, ordnet gern zu: Russischsprachig ist gleichzusetzen mit »nach Russland orientiert«. Der Osten der Ukraine wäre demnach eher russlandfreundlich, der Westen eher Europa zugeneigt. Das entpuppt sich bei näherem Hinsehen als naseweiser Nonsens, der Sprachgebrauch ist viel flexibler gewesen, als es diese Zweiteilung nahelegt, vor allem hat die Sprache nichts mit der politischen Orientierung gemein.

Von den Anfängen des Krieges folgt das Tagebuch einer Invasion dem Lauf der Ereignisse bis in den Sommer hinein und hinterlässt ein sehr eindrückliches Bild von dem, was Kurkow wahrnimmt und einordnet. Deutschland kommt dabei nicht gut weg, es hat vielmehr einen verheerenden Eindruck hinterlassen, der angesichts der zögerlichen, aber dann doch umfangreichen Hilfe auch in militärischer Hinsicht nicht ganz fair ist. Die Kommunikation, das wird auch in diesem Fall deutlich, ist ein einziges Desaster gewesen.

Viele hoch interessante Themen berührt der Autor in seinen Beiträgen, darunter auch wenig rühmliche, die aber zu jedem Krieg gehören. Kollaboration etwa oder auch Verbrecher, die aus der Kriegssituation Kapital schlagen wollen. In manchen Dingen irrt Kurkow, etwa in der Annahme, Russland würde den Informationskrieg in Europa verlieren – das wäre schön, entspricht aber nicht den Realitäten. Umso wichtiger sind Bücher wie dieses, in denen jene ausführlich zu Wort kommen, die von Putins Vernichtungskrieg betroffen sind und um ihr Leben und ihre Freiheit kämpfen müssen.

Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion
Aus dem Englischen von Rebecca DeWald
Haymon-Verlag 2022
Klappenbroschur 352 Seiten
ISBN 978-3-7099-8179-5

Sabine Adler: Die Ukraine und wir

Eine Watschn, eher ein Faustschlag für die Koalition der ignoranten Selbstgefälligkeit unter Angela Merkel. Sachlich, nüchtern, wohl-informiert, sehr gut argumentierend – eine Wohltat angesichts der grassierenden Selbstzufriedenheit in Deutschland. Cover C.H. Links-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Es ist keine Watschen, die Sabine Adler in ihrem vorzüglichen Buch austeilt, sondern ein Faustschlag. Empfänger des Hiebes ist vor allem die SPD, wenngleich insbesondere die langjährige Bundeskanzlerin Angela Merkel, das FDP-Duo Linder / Kubicki, der so genannte Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft und pro-putinistisch-russische Trommler einiges um die Ohren bekommen.

Doch tut sich die SPD besonders negativ hervor, aus ganz unterschiedlichen Motiven, in vielfacher Gestalt und Handlungsweise, doch mit insgesamt verheerenden Folgen. Sabine Adler bleibt in ihrem Buch sachlich, nüchtern, schildert ohne Zuspitzungen oder gar unseriösem Geklingel, was viel dazu beiträgt, dass ihre Erkenntnisse wie eine durchschlagende Gerade wirken.

An dieser Stelle werde ich darauf verzichten, die weite Spanne der Themen und Aspekte nachzubeten, die Adler in Die Ukraine und wir berührt. Wer sich für Politik interessiert und in den letzten fünfundzwanzig Jahren nicht im Tiefschlaf der Selbstzufriedenheit zugebracht hat, wird vieles ohnehin kennen – nicht aber in dieser geballten, wunderbar zusammengestellten und vielschichtigen Form. Die gibt den Blick auf eine Entwicklung frei, für die der Begriff »Versagen« viel zu harmlos wirkt.

Die Wurzeln reichen tief. Sie beginnen bei dem, was heute als »Ostpolitik« Willy Brandts missverstanden oder bewusst falsch dargestellt wird, wenn etwa ignoriert wird, dass Brandt mit einer Bundeswehr im Rücken nach Osten fuhr, die mit vier Prozent des jährlichen Bruttoinlandsproduktes finanziert wurde, weit mehr als das Doppelte dessen, was Schröder-Merkel-Scholz-Deutschland auszugeben bereit war bzw. ist.

Brandt ging mit dem Rückenwind einer schlagkräftigen Armee im Rahmen eines verteidigungsfähigen Bündnisses nach Osten, weshalb die so genannte »Entspannungspolitik« keine verheerenden Folgen zeitigte, wie das sozialdemokratische Appeasement der Gegenwart. Und doch gab es schon da jene Strukturen, die auf die dunkelsten Zeiten deutsch-russischer Zusammenarbeit deuteten.

Adler verweist dankbarerweise auf Rapallo und den Hitler-Stalin (bzw. Molotow-Ribbentrop)-Pakt, die jene bis heute spürbare Ignoranz gegenüber den mittelosteuropäischen Staaten, namentliche Polen, Baltikum, Belarus und Ukraine (zuzüglich Rumänien) begründeten. Die Geschichtsblindheit der Genossen der Gegenwart ist ein Echo dieser fürchterlichen Zeiten – trotzdem sind viele in Deutschland empört, wenn die Übergangenen sich mit scharfen Worten melden.

Polen beispielsweise hat jedes Recht, Deutschland scharf zu kritisieren – das war eben nicht nur die PiS, die ablehnende Haltung reicht weit. Kein Wunder, ist doch zum Beispiel die SPD Anfang der 1980er Jahre mit banger Angst gegenüber der revoltierenden polnischen Arbeiterbewegung (!)  Solidarność aufgetreten, sie setzte auf Systemstabilität! Wen kratzt schon der Freiheitswille der Völker?

Vor allem Gerhard Schröder, aber auch Helmut Schmidt, Egon Bahr und der ewige Friedensapostel Erhard Eppler haben diese kolonialistische Sicht auf Mittelosteuropa gepflegt. Doch auch die Nachfahren, Gabriel, Schwesig, Platzeck und viele andere haben sich das Weltbild zu eigen gemacht und trotz des russländischen Angriffskrieges nicht korrigiert.

Dabei wäre allerspätestens 2014, mit der militärischen Besetzung der Krim und russländischen Truppen im Donbas der Punkt erreicht gewesen, alles infrage zu stellen und einen Politikwechsel, ja: Zeitenwende einzuleiten.

Das geschieht bis heute nicht. Merkel etwa hat ohne Not die verfluchte Ostseepipeline Nordstream 1 nicht gekippt und sogar Nordstream 2 durchgedrückt – gegen alle Widerstände aus West- und Osteuropa. Deutsche Sonderwegs-Pfade im 21. Jahrhundert, die ganz dringend aufgearbeitet werden müssten. Das wird wohl ein frommer Wunsch bleiben.

Doch bieten vorzügliche Bücher wie Die Ukraine und wir eine Möglichkeit, sich selbst wenigstens auf persönlicher Ebene mit den Fragen auseinanderzusetzen. Allein der Titel ist ein Grund, zu danken, rückt er doch das ewige Objekt im deutsch-russischen Spielchen dorthin, wohin es spätestens seit 2022 gehört: in den Mittelpunkt.

Sabine Adler: Die Ukraine und wir
Ch. Links Verlag 2022
Hardcover 248 Seiten
ISBN 978-3-96289-180-0

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