Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Hitler (Seite 1 von 3)

Pécau, Mavric, Andronik, Verney: Die letzten 100 Tage Hitlers

Die letzten Wochen des so genannten »Dritten Reichs« waren ein apokalyptisches Gemetzel. Nicht nur an den Fronten wurde gestorben, sondern auch in den bombadierten Städten, den Vernichtungs-Lagern und auf den Landstraßen bei Todesmärschen. Bildgewaltig erzählt die Graphic Novel vom blutigen Aberwitz des Untergangs. Cover Knesebeck, Bild mit Canva erstellt.

Träfe eine Bombe diesen Zug, würde das drei Millionen Leben retten.

Pécau, Mavric, Andronik, Verney: Die letzten 100 Tage Hitlers

Auf der ersten Seite der  Graphic Novel Die letzten 100 Tage Hitlers steht ein spektakulärer Gedanke: Eine Bombe auf Hitlers Zug würde drei Millionen Menschen das Leben retten. Es ist 15. Januar 1945, Hitler befindet sich auf dem Weg von der Westfront nach Bayern. Doch zertrümmert der Großangriff der Roten Armee seit dem 13. Januar die deutsche Ostfront.

Hitler fährt also in jenem Zug nach Berlin, wo er erst gut drei Monate später Selbstmord begeht. Ein Bombentreffer hätte seinen Tod früher herbeigeführt. Das im Zitat angestellte Gedankenexperiment wird manchmal auch bei den Attentaten auf Hitler, etwa am 20. Juli 1944 (Stauffenberg) oder dem 8./9. November 1939 (Elser) angestellt.

Stimmt es denn, dass drei Millionen Leben gerettet worden wären? Die Zukunft ist immer offen und niemand kann genau sagen, was nach dem plötzlichen Tod Hitlers geschehen wäre. Man sollte sich jedenfalls davor hüten, den Krieg allein auf diese eine Person oder auch nur die NS-Elite zu reduzieren, der Wille den Krieg (weiter-) zu führen, war weit verbreitet. Das zeigt auch die Graphic Novel, denn immer wieder werden Untaten begangen, ausgeführt und getan, bei denen kein »Befehlsnotstand« herrschte.

Insofern wäre der Krieg möglicherweise nicht so viel schneller und erst recht nicht unblutiger zu Ende gegangen. Bestenfalls hätten die Armeen im Westen und Italien den Widerstand eingestellt oder den Alliierten den Weg ins Reich geöffnet; im Osten wäre eine zusammenbrechende Front wohl einem Blutbad an Soldaten und Zivilisten gleichgekommen, wie es auch in der historischen Realität der Fall war. Gestorben sind in diesem Zeitraum jedenfalls sehr viel mehr als drei Millionen Menschen.

Allein die Wehrmacht hatte rund 1,2 Millionen blutige Verluste zu beklagen . Auf sowjetischer Seite dürfte die Zahl der Toten mindestens in ähnlicher Größenordnung gelegen haben, hinzu kommen noch Millionen Zivilisten, Flüchtlinge, (Kriegs-)Gefangene und Lagerinsassen. Das Gedankenspiel ist dennoch sinnvoll, denn es führt dem Leser vor Augen, wie ungeheuerlich diese recht kurze Zeitspanne von Mitte Januar bis Ende April 1945 war. Der Tod wütete ungehemmt. Die allermeisten Dinge, die im Kreis um Hitler und von ihm selbst besprochen wurden, erscheinen aberwitzig. 

Ich erinnere mich noch an den Hungerwinter von 1917. So hat die Revolution begonnen …
Kein Sorge. Dieses Mal wird es keine Revolution geben.
Und warum nicht?
Weil hier bald nur noch Ruinen stehen … in Ruinen denkt niemand an Revolution, man denkt nur ans Überleben.

Pécau, Mavric, Andronik, Verney: Die letzten 100 Tage Hitlers

Die Graphic Novel lebt vom Kontrast, der bisweilen überwältigt. Hitlers Schwadronieren in der realitätsfernen Welt seines Hauptquartiers wird als unmenschliches Geschwätz entlarvt, wenn lange Bildsequenzen über die Realität in der Außenwelt folgen: harsche Frontimpressionen; von fliegenden Standgerichten verhängte Todesstrafen gegen Soldaten; Bilder von Luftangriffen, die direkt aus der Hölle zu kommen scheinen; das Wüten der SS gegen Zivilisten, Lagerinsassen und Deserteure; irrsinnige »Verhandlungen« mit ausländischen Diplomaten; Flüchtlingskolonnen.

Dann gibt es aber auch Szenen, die zeigen, wie weit die Verrohung und ideologische Indoktrination in die Bevölkerung hineinreicht. Eine aufgegriffene Jüdin, die einem Todesmarsch entkommen konnte, wird von Jugendlichen totgeprügelt. Ärzte töten – ohne Befehl – psychisch Kranke, als die Front heranrückt. Die Auswahl und Gestaltung der Bilder zeigt  die Totalität des Kriegsgeschehens, das von Historikern als »Krieg führen bis fünf nach Zwölf« treffend beschrieben wird. Zugleich gab es aber auch für den Einzelnen Spielräume, die auch für brutalste Gewalttaten genutzt wurden.

Welche Armeen meint er?
Ja, genau das ist das Problem. Welche Armeen meint er?

Pécau, Mavric, Andronik, Verney: Die letzten 100 Tage Hitlers

Wer sich einem monströsen Thema wie der apokalyptischen Agonie des Hitlerregimes befasst, muss auswählen, muss ungeheuer viel mehr weglassen als in ein Buch gleich welchen Umfanges hineinpasst. Das ist außerordentlich gut gelungen, die Dichte der Bild-Erzählung ist beeindruckend und auch die verkürzte Gestaltung lobenswert. Wenn in einem Bild ein Zug Königstiger zum Angriff antritt und den Eindruck einer noch immer bedrohlichen Wehrmacht vermittelt, zeigt ein späteres Bild von einem Schlachtfeld, wie sämtliche deutschen Gegenangriffe in Blut ertranken. Das eine sind die Propaganda-Bilder, das andere die Bilder, die tunlichst weggelassen wurden.

Durch Kontraste dieser Art entwickelt die Graphic Novel eine große Wucht. Die Erzählung des »Untergangs« vermittelt dem Leser die völlige Hilflosigkeit des Einzelnen in diesem Mahlstrom der Vernichtung, Leben oder Tod hingen an Zufällen. Die Partisanen-Aktion »Werwolf« spielte faktisch keine Rolle über den psychologischen Effekt hinaus. Es ist trotzdem wichtig, dass in diesem Band ein, zwei Beispiele aufgeführt werden. Für das einzelne Opfer war der Tod auf der Schwelle zum Kriegsende mehr als tragisch, zugleich unterstreicht das, wie wenig der Vernichtungskrieg nur Hitlers Krieg war.

Wenn es neben einzelnen Fehlern (an einer Stelle ist von Goebbels statt Göring die Rede) etwas zu bemäkeln gäbe, dann das Schweigen über die unmenschliche Behandlung der deutschen Zivilbevölkerung durch die Soldaten der Roten Armee. Die sexuelle Gewalt an Frauen lässt sich nicht einmal mit dem Begriff der Massenvergewaltigung angemessen beschreiben, die wahllosen Tötungen, umfangreichen mutwilligen Zerstörungen, Plünderungen und Deportationen hätten ihren Platz finden sollen. Etwa anstelle des Todes von Hermann Fegelein. Hier fehlen leider ein, zwei Bilder zu dessen barbarischen Handlungen im Ostfeldzug. Der Untergang kam nicht aus heiterem Himmel, ihm ging ein Vernichtungskrieg voraus, der keine der genannten Gewalttaten rechtfertigt, aber einordnet.

Im Nachwort von Robert Lüdecke von der Amadeu Antonio Stiftung wird die Bedeutung der Erinnerungskultur beschworen. Es ist völlig richtig, dass Angriffe der Rechten in Form von Verharmlosungen, Relativierungen abgewehrt werden müssen. Die Verpflichtung zum richtigen Erinnern und den nötigen Schlussfolgerungen gilt jedoch auch für andere. Die Gaspipelines Nordstream 1+2 etwa wurden gegen den Willen osteuropäischer Verbündeter (und Opfern von Hitlers Vernichtungskrieg) errichtet, begleitet von einem unsäglichen, unhistorischen Gleichsetzen von (Putins) Russland mit der überfallenen Sowjetunion 1941. Das sind Schlaglichter einer Erinnerungskultur, die sich in phrasengeschwängerten Sonntagsreden erschöpft und sich selbst negiert. Man muss genau hinsehen, sich dem aussetzen, wie in dieser vorzüglichen Graphic Novel.

Jean-Pierre Pécau (Autor), Senad Mavric, Filip Andronik, Jean Verney (Illustrator): Die letzten 100 Tage Hitlers
Aus dem Französischen von Sarah Pasquay
Knesebeck Verlag 2025
Gebunden 125 Seiten
ISBN: 978-3-95728-934-6

Neue Lektüre: Graphic Novel über Hitlers letzte einhundert Tage

Ein imposantes und aussagekräftiges Coverbild ziert die Graphic Novel, die sich mit der blutigen Agonie des so genannten „Dritten Reichs“ auseinandersetzt.

Heute ist eine hoch interessante Graphic Novel bei mir eingetroffen, deren Titel und Cover keinen Zweifel daran lassen, um welche apokalyptisches Thema es geht. Beginnend mit dem 15. Januar 1945 werden die letzten einhundert Tage Adolf Hitlers und damit die blutige Agonie des so genannten „Dritten Reichs“ erzählt.

Die Zahl der Opfer in dieser Zeit geht in die Millionen, die Zerstörung des Reiches durch Bombardierungen und völlig sinnloser Kampfhandlungen am Boden schritt rasant voran, die Mordmaschine des Regimes lief weiter.

Es war nicht nur Hitlers Krieg, auch das Ende führten unzählige andere Männer ergeben weiter, gegen alle Ratio, Verstand und Einsicht – das ist eine Botschaft der militärgeschichtlichen Forschung. Was das für die Zivilbevölkerung hieß, schildert der brillante Roman Alles umsonst von Walter Kempowski am Beispiel Ostpreußens.

Nun bin ich sehr gespannt, wie die Graphic Novel Die letzten 100 Tage Hitlers von Pécau, Andronik, Marvic, Verney mit dem Thema umgeht. Dafür gibt es noch einen persönlichen Grund: Mein Großvater geriet in Berlin schwerverwundet am 02. Mai 1945 in Kriegsgefangenschaft. 

*Rezensionsexemplar

Thomas Medicus: Klaus Mann

Das Zitat ist Programm: Die Todessehnsucht war (neben Drogensucht) jahrelanger Begleiter des ruhelosen Schriftstellers Klaus Mann. Sein natürliches Habitat war die Großstadt, er lebte ohne festen Wohnsitz in Hotels, Pensionen und bei Freunden. Cover Rowohlt Berlin, Bild mit Canva erstellt.

Zwei überväterliche Großschriftsteller an einem Tag, das war wohl zu viel für den ewigen Sohn.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Todessehnsucht und Drogenmissbrauch gehörten zu den Wegbegleitern von Klaus Mann. Die Biographie von Thomas Medicus beginnt folgerichtig mit dem Ende, dem Suizid am 21. Mai 1949. Es war nicht der erste Anlauf, dem Leben mit einem Freitod ein Ende zu setzen, gar nicht zu reden von den zahllosen Gedanken an den Tod, der ewigen Sehnsucht nach dem Tod.

In seinen 42 Lebensjahren zwischen 1906 und 1949 erlebte Klaus Mann die dramatischen Brüche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1914, 1918 und insbesondere 1923 prägten ihn, der damit zur so genannten Kriegsjugendgeneration zählt. Die ihnen attestierten Attribute, Härte, Kühle, Verschlossenheit, Durchsetzungsfähigkeit waren Klaus Mann aber völlig fremd.

Gerade in den zwanziger Jahren lebte der Sohn des berühmten Thomas Mann und Neffe von Heinrich Mann auf schnellem, großem Fuß, sein natürlicher Lebensraum war die Großstadt, Theater, Amüsement, Clubs, Partys, Ausschweifungen, Sex, Alkohol, später immer mehr Drogen. Auftritte vor Publikum, auf der Bühne als Schauspieler oder Autor, der Hang zur Selbstinszenierung. Ein Dandy in perfekt sitzenden Anzügen, der sich bald als Dauerbewohner von Pensionen und Hotels durchs Leben schlug, immer in Geldnöten, oft alimentiert von seiner Mutter.

Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war eine Epoche auf Messers Schneide. Es gibt Menschen, die ein Zeitalter deshalb verkörpern, weil sie dessen Höhen und Tiefen, Irrrungen und Wirrungen, vor allem Gefährdungen bis in die letzte Faser durchleben wie durchleiden. Klaus Mann ist so eine Symbolfigur.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Klaus Mann war hochsensibel, sehr verletzlich, fiel als Homosexueller aus dem gesellschaftlich als Norm akzeptierten Rahmen, insbesondere, weil er – anders als sein Vater – aus seinen homoerotischen Neigungen keinen Hehl machte. Zudem stand er als ewiger Sohn unter immensem Druck, ein Wettlauf als Schriftsteller mit dem übermächtigen Vater, den er nicht gewinnen konnte.

Dabei schrieb Klaus Mann mit großer Leichtigkeit und immenser Geschwindigkeit seine Werke. Biograph Medicus verweist darauf, dass die Detailarbeit, das prüfende Feilen und Durchforsten der Bücher, nicht zu den Stärken des Autors gehörten. Ihnen haftet oft etwas Flüchtiges an. Stoffe wie Alexander oder Sinfonie Pathetique sind weder bis ins Detail durchrecherchiert noch loten sie musikalische Tiefen aus. Sie haben eine stark autobiographische Note. 

Neben den Romanen und autobiographischen Texten schrieb Klaus Mann Bühnenstücke, Kurzprosa, Lyrik, aber auch Beiträge für Zeitungen, Journale, Anthologien, gemeinsam mit seiner Schwester Erika auch Reise- und Kriegsberichte. Er versuchte sich auch als Herausgeber. Obendrein gibt es unveröffentlichte Texte, etwa eine Biographie zu Horst Wessel – ein erstaunliches Projekt von Klaus Mann.

Seine anwachsende Liebe zu Frankreich bildete den Kern seiner Entwicklung zum kosmopolitischen Intellektuellen. Dass Klaus Mann 1933 nicht eine Sekunde zögerte, dem nationalsozialistischen Deutschland den Rücken zu kehren, hatte auch damit zu tun.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Der schwerwiegendste Bruch folgte 1933 mit dem Machtantritt Adolf Hitlers. Aus dem freiwilligen Vagabunden wurde ein Exilant. Es war ein dramatischer Unterschied, auch wenn sich äußerlich das Umherziehen kaum änderte und Klaus Mann in Frankreich einen Ort hatte, an dem er sich – soweit möglich – wohlfühlte. Doch die Entwurzelung traf ihn schwer, er konnte nicht nach Deutschland zurück, das Gefühl des Ausgestoßenseins traf ihn wie alle anderen Exilanten.

Zu den Gefährdungen und Wirrungen der 1930er Jahre gehört das Drama, dass mit der stalinistischen Sowjetunion eine zweite, auf einer Vernichtungsideologie basierende Diktatur in Europa ihr blutiges Haupt erhob. Die Todfeindschaft zum Nationalsozialismus war das einzige Pfund, mit dem Stalins Reich wuchern konnte – bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1939, der unter den ohnehin zerstrittenen Emigranten die bestehenden Gräben zu offner Feindschaft und Hass vertiefte.

Klaus Mann war kein Kommunist, eher ein idealistischer Schwärmer. Als Homosexueller gehörte er zu einer von den Linken wie den Rechten angefeindeten Gruppe; Bertholt Brecht hat sich in dieser Hinsicht mit bemerkenswert schäbigen Äußerungen hervorgetan.

Eine Reise in die Sowjetunion brachte Ernüchterung, die Klaus Mann im Tagebuch klar äußerte; öffentlich blieb er indifferent, obwohl Andre Gide, sein großer Leuchtstern unter den Denkern, mit bemerkenswerter Klarheit die Abgründe von Stalins Reich beschrieb. Familie ging vor Politik. Wegen Heinrich Manns (zutiefst naiver, von Stalins Schergen ausgenutzter) kritikloser Haltung gegenüber der stalinistischen Sowjetunion unterließ Klaus Mann ein klares Statement.

Was erste Jahrzehnte später zu den Grundelementen der Kritik am real existierenden Sozialismus gehörte, formulierte Gide bereits 1936/37 mit großer Klarheit.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Einige Jahre später ergab sich für Klaus Mann daraus eine erhebliche Gefährdung. Als die USA nach langer Neutralität durch die Kriegserklärung Deutschlands und Italiens endlich gegen Hitlerdeutschland militärisch vorgingen, wollte er seinen Beitrag leisten. Aus körperlichen und vor allem politischen Gründen wurde er zweimal ausgemustert, vom FBI mehrfach durchleuchtet, verhört und nachtragenden Antikommunisten denunziert.

Klaus Mann befand sich in einer dramatischen Krise, hinter ihm lag ein demütigendes Scheitern mit seiner Zeitschrift Decision, hinzu kamen persönliche Rückschläge, Erkrankunge, die übermächtige Drogensucht und die immer stärker werdenden Todessehnsucht. Seine Schwester Erika ging zunehmend eigene Wege, die gefühlte Isolation wurde stärker, der Hemmschuh zum Suizid fiel weg. Die Teilnahme am Kampf gegen Deutschland sollte für einige Zeit zum Rettungsanker werden.

Klaus Mann erhielt in Uniform Aufschub. Er wurde amerikanischer Staatsbürger und Teil der US-Streitkräfte. Seine Kriegszeit verbrachte er in Nordafrika und Italien, direkt nach der Kapitulation der Wehrmacht fuhr er nach München, in die zertrümmerte Heimat, zu dem ebenfalls halb zerstörten Wohnhaus der Eltern. Es gebe keine Rückkehr, konstatierte Klaus Mann – man kann sich ausmalen, was diese Erkenntnis beim Strauchelnden auslöste.

Die Biographie ist das erste Buch aus meinem Lesevorhaben 12für2025

Thomas Medicus: Klaus Mann
Ein Leben
Rowohlt Berlin 2024
Gebunden 544 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0154-7

Volker Kutscher: Rath

Ein furioser Abschluss der großartigen Romanreihe um Gereon Rath. Volker Kutscher spielt sämtliche Stärken noch einmal gekonnt aus, ein kleiner Wermutstropfen trübt das rundum positive Bild kaum. Cover Piper Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Zum Zeitpunkt, da die Handlung des Romans Rath anhebt, war es noch ein Jahr hin, dass der deutsche Wehrmachtsoffizier Wilm Hosenfeld angesichts der unmenschlichen Behandlung von Polen und Juden seine Uniform in Fetzen reißen wollte. Drei Jahre fehlten noch zum »Holocaust mit Kugeln«, der hunderttausende Opfer forderte. Und es blieben noch vier Jahre bis in den Gaskammern Millionen starben.

Der Zivilisationsbruch durch die Kulturnation Deutschland kam nicht aus heiterem Himmel. Wer die Romane Volker Kutschers um den Kriminalkommissar Gereon Rath liest, erlebt hautnah, wie das Gift nationalsozialistischer Ideologie in den Jahren vor und nach 1933 immer tiefer in die Gesellschaft und ihre Institutionen einsickerte, sie durchdrang und schließlich mit millionenfacher bereitwilliger Beihilfe in Krieg und Massenmord führte.

Die Romanreihe endet in jenem Moment, in dem der Zivilisationsbruch für alle Welt sichtbar wurde. Zielstrebig steuert die Handlung von Rath auf den 9. November 1938 zu. Die »Reichspogromnacht« fegte die letzten Zweifel an der gnadenlosen Exekution der antisemitischen Ideologie des NS-Regimes beiseite, es war der Schritt von Ausgrenzung und Ausschreitungen zur systematischen Gewaltanwendung jenes entrechteten Teil der Bevölkerung Deutschlands, der von den Machthabern als »jüdisch« angesehen wurden.

Literatur, die sich auf das Feld der Politik begibt, droht immer von dieser verschlungen zu werden.

Leonardo Padura, Das Meer der Illusionen

Volker Kutscher webt auf brillante Weise dieses historisch-politische Motiv in die Romanhandlung ein. Das ist ein Glanzpunkt von Rath, denn Kutscher gelingt das Kunststück, politisch zu schreiben, ohne den Roman von der Politik verschlingen zu lassen. Seine Figuren erleben, was es heißt, in dieser Zeit existieren zu müssen. Überleben ist keine Selbstverständlichkeit. Die Szenen, die den 9. November 1938 erzählen, sind von mitreißender Dichte. Die Atmosphäre erfasst den Leser und lässt ihn nicht wieder los.

Die Erschütterung des Pogroms, das zügellose Treiben der Nazis, das Verhalten der nicht-jüdischen Nachbarn, die völlige Recht- und Schutzlosigkeit der Opfer erleben gleich mehrere Personen am eigenen Leibe, die während der Handlung mit Gereon, Charlotte und anderen bekannten Personen zu tun hatten. Was über die als jüdisch geltende Bevölkerung hereinbrach, war bis dahin eher aus dem Osten Europas bekannt; die Illusion der jüdischen Integration in Deutschland seit Friedrich dem Großen verflüchtigte sich endgültig.

Der Herbst 1938 war auch in anderer Hinsicht disruptiv, was Kutscher zum Vorteil der dynamischen Romanhandlung nebenbei abhandelt. Aus München dringt während der Handlung immer wieder der ferne Donner eines heraufziehenden Krieges. Das Unheil kann gerade noch abgewendet werden, die in Verruf geratene Appeasement-Politik führte zu einer Übereinkunft auf dem Rücken der Tschechoslowakei. Damit liefen Putsch-Pläne des deutschen Militärs ins Leere, ein noch größeres Unheil, das in einem Halbsatz durchschimmert. Mehr braucht es auch nicht.

›Hilft ja alles nix. Am Ende entscheidet Hitler darüber, ob er Kriech will oder nit.‹

Volker Kutscher: Rath

Wie aber beendet man eine Buchreihe an einem nachtschwarzen Zeitpunkt? Ein Happy End verbietet sich. Volker Kutscher hat in einem Interview mit der FAZ einen interessanten Hinweis auf seine Überlegungen gegeben. Ein mögliches Final-Szenario wäre gewesen, dass die Familie Rath (Gereon, Charlotte, Friedrich) in Prag ist, wohin sie zwischenzeitlich tatsächlich flüchten wollte. Man sitzt um einen Tisch und draußen marschiert im März 1939 die Wehrmacht ein, hinter den Truppen folgen SS und Gestapo.

Kutscher hat sich für ein anderes, spektakuläres Ende entschieden, was mir außerordentlich gut gefallen hat. Der Leser schaut einigen lose im Wind der Geschichte baumelnden Erzählfäden hinterher, im Grunde genommen weiß man bei keiner der überlebenden Personen, wie es mit ihnen weitergehen wird. Das ist ein angemessener Umgang mit einem historischen Stoff, denn Geschichte ist immer offen. Nur rückwärtsgewandte Propheten behaupten anderes.

Die Wirkung des Endes wird verstärkt durch die dramatische Zuspitzung der Handlungsstränge. Das letzte Drittel des Romans liest man wie im Rausch, ein Pageturner, befeuert von voranjagender Spannung. Die vielfältigen Konflikte der vorangegangenen Bücher steuern auf eine »Lösung« zu, vor allem die Verwicklungen um Rath-Tornow-Gräf und Charly-Rademann-Fritze finden ihr überraschendes Ende.

Ihr könnt nicht da weitermachen, wo ihr aufgehört habt. All diese Dinge sind passiert. Die haben euch verändert. Die Zeiten haben sich verändert. Und eure Ehe, wenn man das noch so nennen kann, sowieso.

Volker Kutscher: Rath

Rath wie die gesamte Buchreihe lassen viele (Neben-)Figuren nicht unberührt von dem, was ihnen widerfährt. Wenn etwa ein SA-Mann von einem Bürger zu Tode geprügelt wird, zeigt das eben auch, wie sehr die zügellose Gewalt des Regimes und seiner Formationen in die Gesellschaft zurückwirkt. Auch dort brechen die Barrieren. Die Tötung ist keine reine Rache-Szene á la Italo-Western, sondern ein Sinnbild der fortschreitenden Enthemmung, die von den Nazis auf gewöhnliche Bürger ausstrahlt.

Auch die Hauptfigur ist davon betroffen, denn die Beziehung Gereons mit Charlotte ist erodiert und brüchig. Die Flucht nach Amerika nach dem Scheintod hat die Distanz vergrößert, der Graben bleibt auch in Rath lange offen. Allein die Umstände lassen nur kurze Stelldicheins in einem Hotel in Hannover zu. Gereon ist im Rheinland untergetaucht, Charlotte wurstelt sich in Berlin als Detektivin durch, ehe die Umstände rasante Veränderungen herbeiführen.

Wie schon in Transatlantik trägt Charly die Hauptlast der Handlung, Gereon ist abgetaucht. Kutscher deutet an einer Stelle ein geradezu klassisches Handlungsmotiv an, indem er Charlotte in dramatische Schwierigkeiten geraten und Gereon zu ihrer Rettung aufbrechen lässt. Die Rettungsmission löst sich jedoch auf überraschende Weise auf und Gereons Rolle als Retter läuft ins Leere. Mich hat bei der Lektüre die Frage beschäftigt, ob eine Buchreihe, die in acht von zehn Teilen auf eine Figur zugeschnitten ist, in den letzten beiden Bänden einen so weitreichenden Schwenk weg von der Hauptfigur vollziehen sollte.

Gereon Rath schwindet bereits in Transatlantik als handelnde Figur, mehr noch in Rath. Seine Lebensweise, das unpolitische Durchwursteln mit Abstechern in die Grauzone der Legalität, war schon lange an einer Grenze angekommen, dahinter blieb nur noch eine Flucht in die USA. Das Schwinden der Person in der Handlung spiegelt die Ausweglosigkeit und mangelnde Lernfähigkeit Gereon Raths wider und ist absolut vertretbar. Die Frage sei gestattet, ob unter diesen Umständen noch die letzten beiden Bände in der Form sinnvoll sind.

Die Frage stellt sich noch aus einem anderen Grund. 

Schwerer wiegt nämlich, dass die Gegenfigur zu Gereon nicht recht glaubwürdig wirkt. Charlotte Rath war bereits in den vorangegangenen Bänden einerseits ein wenig zu tough, gleichzeitig in ihren (oft selbstschädigenden) Handlungsmustern gefangen. Das setzt sich verschärft in Rath fort. Insbesondere die hochdramatischen Ereignisse nach dem Verrat eines alten »Freundes«, den Kutscher grandios als Musterbeispiel des angepassten Karrieristen gestaltet, hinterlassen scheinbar nur zarte äußerliche Spuren. Sie tritt danach wie davor auf, was schwer zu glauben ist.

Von dieser leisen Kritik unabhängig ist Rath ein furioser und angemessen furchtbarer Abschluss einer großartigen Buchreihe. Die Ermittlungen um den »Kriminalfall« bilden wieder einen leitenden roten Faden, die Erzählung ist abermals makellos in die Zeitläufte eingewoben. Die handelnden Figuren prallen aufeinander, wirbeln umeinander, ringen miteinander, verkrallen sich ineinander und führen einen irren Tanz auf, einen Totentanz am Abgrund.

Weitere Romane der Buchreihe:
Volker Kutscher: Die Akte Vaterland
Volker Kutscher: Märzgefallene
Volker Kutscher: Lunapark
Volker Kutscher: Marlow
Volker Kutscher: Olympia
Volker Kutscher: Transatlantik

[Rezensionsexemplar]

Volker Kutscher: Rath
Piper 2024
Gebunden 624 Seiten
ISBN 978-3-492-07410-0

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Der Fluss spielt im brillanten Roman Grenzfahrt eine wichtige Rolle. Er trennte bis zum 22. Juni 1941 Wehrmacht und Rote Armee, ehe das apokalyptische Unternehmen »Barbarossa« seinen Anfang nahm. Cover Suhrkamp-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Keine eigene Geschichte, nur die der anderen. Der Russen, der Deutschen. Sie waren gekommen, hatten Schutt und Asche hinterlassen und waren wieder gegangen.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Große Teile des Romans werden aus einer mittleren Perspektive erzählt. Zwar ist der Ort in Polen gelegen, doch könnte man das alles auch auf ganz Mittelosteuropa beziehen. Dazwischen. Hier die Deutschen, dort die Sowjets, Hammer und Amboss, alle anderen dazwischen. An einem Fluss, der die beiden Gebiete trennt. Die Gegend am Fluss präsentiert als geschichtsloser Raum, den die anderen, die Russen und Deutschen, gefüllt haben.

Die Geschehnisse spielen im Spätfrühling 1941, es ist Ende Mai, Anfang Juni, der nahende Vernichtungskrieg, die große Blutmühle des 20. Jahrhunderts liegt bereits schwer in der warmen und heißen Luft. Geschütze stehen von Tarnnetzen verborgen im Garten, Panzer, Opel Blitz, Motorräder und marschierende Infanterie wirbeln Staub auf, der große Aufmarsch ist im Gange. Auf der anderen Flussseite Bunker, Wachen, Patrouillen. Nachts erhellen Leuchtraketen den dunklen Himmel.

In diesem seltsamen Zwischenraum zu dieser Zwischenzeit vor dem hereinbrechenden Verhängnis tummeln sich die unterschiedlichsten Menschen, die sich unter gewöhnlichen Umständen nie getroffen hätten. Dörfler, Bauern, Hirten; Partisanen mit großen Reden und brutalem Verhalten; Schmuggler; Fliehende, oft Juden, die nach Osten wollen; Rückkehrer aus dem Osten, weil dort auch kein Ort zum Überleben ist.

Eine der Hauptpersonen ist der Fährmann, der in dunklen Nächten sein bereits vor dem Krieg betriebenes Geschäft fortführt. Er lässt sich für das große Risiko bezahlen, ist aber ein ehrlicher Mensch, betrügt seine menschliche Fracht nicht. Er arbeitet auf dem Fluss, dem Dazwischen, pendelt und gerät auch in anderer Hinsicht zwischen die Fronten. Eine lebensbedrohliche Lage für ihn, in einer Zeit, in der das einzelne Leben seinen Wert eingebüßt hat.

Er betrachtete die Spuren der Raupe und begriff nicht, warum die Deutschen gekommen waren und warum sie weiterziehen wollten.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Erzählt wird in wechselnden Perspektiven. Die Sichtweisen sind zum Teil außergewöhnlich, wenn etwa jener hinterwäldlerische Dörfler staunend die Wehrmachts-Kolonnen betrachtet, völlig ahnungslos, woher die Deutschen kommen, was um alles in der Welt sie in seiner Heimat wollen und – ein noch größeres Rätsel – warum sich die Deutschen mit den Sowjets anlegen werden. Und ja, das fragt sich der Leser dann auch.

Stasiuk hat seinen Roman Grenzfahrt mit einer weiteren Zeitebene versehen, in der der Ich-Erzähler mit seinem Vater in ebenjener Gegend sich aufhält, Jahrzehnte später, wenn das große Vergessen alles in den Abgrund zieht, was damals dort geschehen ist. Die Spuren sind rar, das Bedürfnis des Ich-Erzählers, etwas über die Zeit zu erfahren, viel größer als die Neigung des Zeugen, davon zu berichten.

Eine magische Passage erzählt von einem Foto, das der Erzähler betrachtet. Ein „Bild aus jener Zeit“. Er beschreibt die Personen, die zu sehen sind, wohin sie schauen. Sie sehen Dinge, die man auf dem Foto nicht sieht, die aber trotzdem da sind. Der Ich-Erzähler weiß, dass vor dem Foto-Betrachter ein Fenster ist,  eine Tür, er kennt das Haus, hat früher aus dem Fenster geschaut. Trotzdem wusste der Ich-Erzähler lange nicht, was von der Landschaft, die er gesehen hat, noch verborgen ist.

Es kann sein, dass gut fünfzig Kilometer weiter schon die Feuer von Treblinka brennen.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Darüber wurde nicht gesprochen, nicht mit den Kindern. Der Erzähler hat seiner Großmutter zugesehen, wie sie ohne Licht in der Nacht die Kühe gemolken hat. Weiße Milch, ein ganzer Eimer voll aus dieser „tiefsten Finsternis“, die „tiefer als die Nacht selbst“ war. Wer denkt hier nicht an Celans berühmte Gedichtzeile aus der Todesfuge? Schwarze Milch der Frühe. Stasiuk hat seine Grenzfahrt auch zu einer Reise in poetische Bilder gemacht, die – passend zu dem, was in der Vergangenheit geschah – grundlegende Fragen der menschlichen Existenz berühren.

Heroisch ist nichts in diesem Roman. Das gilt auch für die Gruppe an Partisanen, die in der Gegend herumstreift und im Grunde genommen die Bevölkerung drangsaliert. Für den Kriegsverlauf hat das wirre Hin und Her keinerlei Bedeutung, manchmal wirkt die Gruppe wie Schuljungen, die Partisanen spielen. Sie zählen Wehrmachtsfahrzeuge und streiten sich, ob bestimmte Fahrzeuge Panzer sind oder nicht. Nie werden diese Informationen irgendwohin weitergeleitet.

Stasiuk lässt ihre Handlungen brutal, von großen, hohlen Worten umhallt und mit fürchterlichen Folgen erscheinen. Es gibt Tote, man hängt jemanden mit erschütternder scharfrichterlicher Inkompetenz. Ein ähnliches Fiasko ist auch der Versuch, ein Schwein zu töten. Im Grunde genommen sind alle Aktionen der Partisanen sinnlos, gefährlich nur für die Zivilbevölkerung. Eine Bande, Räuber, Marodeure statt heroischer Widerständler.

Der latente Antisemitismus schlägt immer wieder durch, was zwei jüdischen Flüchtlingen fast zum Verhängnis wird. Sie kommen aus der Stadt an den Fluss, in der Hoffnung, dem sicheren Tod im Herrschaftsraum der Deutschen zu entgehen, wenn sie auf die andere Seite, zu den Sowjets gelangen. Eine Illusion, wie so vieles in Grenzfahrt. Stattdessen kumuliert die Handlung in einer schrecklichen Missetat, während die letzten Minuten vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion verrinnen.

Große europäische Literatur.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Suhrkamp 2023
Gebunden, 368 Seiten
ISBN: 978-3-518-43126-9

« Ältere Beiträge

© 2025 Alexander Preuße

Theme von Anders NorénHoch ↑

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner