Ein bewegtes, wenn nicht getriebenes Leben führte der Schriftsteller und Publizist Klaus Mann.
Von Klaus Mann habe ich alle Romane (vor langer Zeit) gelesen, dazu die beiden autobiographischen Schriften.
Die ausführliche Biographie lese ich mit großer Spannung, denn Mann ist (wie man schon in den ersten Kapiteln erfährt) tatsächlich ein Kind dieser Zeit, der Weimarer Republik (Höhenrausch von Harald Jähner nimmt nicht umsonst direkt Bezug auf Klaus Mann) und des Exils (auch bei Uwe Wittstocks Februar 33 und Marseille 1940 ist Klaus Mann prominent vertreten).
Literarisch war die Weimarer Republik wohl bis heute die beste Zeit deutschsprachiger Fiktion, politisch atemberaubend umwälzend.
Diese zwölf Bücher möchte ich im laufenden Jahr lesen. Das ganze ist eine so genannte Challenge, auf die ich bei Instagram gestoßen bin.
Sechs Romane und sechs Sachbücher habe ich für mein Lesevorhaben 12 für 2025 ausgewählt. Der Fokus liegt ganz eindeutig auf historisch-politischen Themen, auch bei Schubert (»und seine Zeit«). Ich erhoffe mir einen weiteren Horizont nach der Lektüre, um das »Schaffen« geht es mir nicht. Meine mir im Vorjahr selbst auferlegte Buchkauf-Diät bleibt bestehen.
Thomas Medicus: Klaus Mann Biographie, Schriftsteller, kenne alle Romane
Stephan Thome: Gott der Barbaren Roman, Historisch, China
Friedrich Christian Delius: Die Sieben Sprachen des Schweigens Essays, Autobiographisch, toller Autor
Thomas de Padova: Allein gegen die Schwerkraft Biographisch, Erster Weltkrieg, Einstein
Philip K. Dick: Das Orakel vom Berge Roman, Historische Dystopie, Hitler hat den Krieg gewonnen
Stefan Hertmans: Krieg und Terpentin Roman, Erster Weltkrieg, Perspektive belgisch-flämisch
Nino Haratischwili: Das achte Leben Roman, Georgien, epischer Mehrgenerationenroman
Arthur Koestler: Sonnenfinsternis Roman, Stalinismus, mein zweites Buch vom Autor
Peter Gülke: Franz Schubert und seine Zeit Biographie, Komponist, mehrere Werke gehören zu meinen Favoriten
W.B. Bartlett: King Cnut Biographie, Wikinger, neben Claudius & William der dritte Eroberer Englands
Robert Harris: Precipice Roman, 1914, kenne fast alles von Harris
Mischa Meier: Die Völkerwanderung Historiographie, es gab keine »Völker«, also auch keine »Völkerwanderung«
Im Frühjahr 1918 unternahm das Deutsche Kaiserreich einen letzten, erfolglosen Großangriff im Westen, doch der Krieg war bereits zugunsten der Entente entschieden. Der Kriegseintritt der USA gab den Ausschlag. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.
Das Schlüsselwort in diesem vorzüglichen Buch Auf Messers Schneide lautet »Unentschieden«. Schon im Vorwort begegnet es dem Leser und erweitert das scheinbar konkurrenz- oder alternativlose Begriffspaar »Sieg« und »Niederlage« um eine dritte Option. Es handelt sich nach Einschätzung des Autors Holger Afflerbach sogar um das „vorgezeichnete und praktisch unausweichliche Ergebnis der strategischen Lage“, zumindest „während der längeren, der europäischen Phase des Krieges.“
Diese Einschätzung unterscheidet sich von dem, was während meines Studiums Anfang der 1990er Jahre diskutiert wurde. Seinerzeit kämpfte gerade die deutsche Historiographie noch immer mit Fritz Fischers allzu bequemen Phantasien von einem deutschen „Griff nach der Weltmacht“ und dem trübseligen Historikerstreit. Für den Zweiten Weltkrieg und Hitlers bzw. die nationalsozialistischen Kriegsziele kann man getrost von einem Eroberungskrieg sprechen, für das Deutsche Kaiserreich gilt das nicht.
Deutschlands Gegner, die Entente-Mächte, hatten zu keinem Zeitpunkt des Krieges ein gesteigertes Interesse daran, mit ihren Kontrahenten einen Kompromissfrieden zu schließen. Die wiederum haben eine Reihe von Chancen verpasst, die Alliierten entsprechend unter Druck zu setzen. Das wird in der Analyse Afflerbachs sehr deutlich. Er spart auch nicht mit Kritik, etwa an Reichskanzler Bethmann-Hollweg und seiner unentschlossenen, widersprüchlichen und lavierenden Form der Politikführung.
Unentschieden meint übrigens nicht, dass alles so hätte sein müssen, wie vor Kriegsausbruch, ein Remis hätte anders aussehen können und bald müssen als ein Status Quo Ante. Der war ab einem gewissen Punkt unmöglich, gleiches gilt aber für einen »Sieg«. Die Fokussierung auf den Siegfrieden hat den Krieg in einer Weise verlängert, dass auch die Sieger dramatisch beschädigt waren. Russland beispielsweise wurde über seine Möglichkeiten hinausgehend im Krieg gehalten und brach in einer Weise zusammen, die in der Folge mehr Menschen das Leben kosten sollte, als der Erste Weltkrieg.
Die Vorstellung, das Deutsche Reich habe nach der kontinentalen Vorherrschaft gestrebt, ist eine krasse Vereinfachung der Wirklichkeit und im Kern falsch.
Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide
Jahrzehntelang stand die so genannte »Schuldfrage« wie der berüchtigte Elefant im Raum und versperrte bzw. verzerrte die Sicht auf wesentliche Faktoren, die den Krieg bestimmten. Etwa die aggressiven, imperialistischen, expansionistischen und »provinziellen« Kriegsziele der Entente, namentlich Frankreichs und Italiens, aber auch Englands und Wilsons eher unrühmliche Absichten. Sie entgrenzten den Krieg ohne Rücksicht auf die absehbar selbstbeschädigenden Folgen.
Afflerbach sieht die Verlängerung des Krieges als Folge dieser Kriegszielpolitik und der unseligen Fokussierung auf einen Siegfrieden. Was harmlos klingt, führt zur Quintessenz seiner Analyse: Am Ende gab es keinen »Sieg« und keinen »Frieden«. Die Folgen des Krieges machten auch die militärischen Gewinner zu Verlierern. Faschismus, Stalinismus, Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, Holocaust – die nachfolgende Geschichte 20. Jahrhunderts gilt für den Autor als Kronzeugin dieser Einschätzung.
Die Entwicklung, darauf legt Afflerbach Wert, war auch nach 1918 weder zwingend noch zwangsläufig, im Gegenteil. Selbst der Friedensvertrag von Versailles hätte Möglichkeiten geboten, die von Zeitgenossen durchaus gesehen wurden; ein Zufall waren die verheerenden Entwicklungen nach 1918 aber nicht. Tatsächlich drängt sich der Eindruck auf, ein »negativer Verlauf des 20. Jahrhunderts« wäre durch den endlosen, blutigen Krieg vorgezeichnet und schwer vermeidbar gewesen. Entgegenkommen der Sieger war angesichts der Verwüstungen und horrenden Verluste erst später möglich, zu spät für die junge, schwache Republik von Weimar.
Es ist jedoch eine historische Tragödie, dass viele der Nachbesserungen zu spät kamen und nicht der jungen deutschen Republik zufielen, sondern ihrem Totengräber Adolf Hitler.
Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide
Militärisch und politisch ist der Erste Weltkrieg von deutscher Seite, aber auch Österreich-Ungarns, durch katastrophale Fehlentscheidungen geprägt. Auch ohne die vermaledeite Kriegsschuldfrage ist der politisch orchestrierte Weg der Doppelmonarchie in den Krieg geprägt von geradezu grotesken Entschlüssen. Das setzte sich nach Kriegsausbruch fort, militärisch wie politisch. Przemysl etwa, das »Stalingrad des Ersten Weltkrieges«, oder der Kriegseintritt Italiens, der politisch durchaus hätte verhindert werden können.
Italiens Kriegseintritt 1915 hat laut Afflerbach einen bis dahin denkbaren Sieg der Mittelmächte nahezu unmöglich gemacht. Zwar haben die Italiener militärisch zu keinem Zeitpunkt etwas Bedeutsames erreicht, doch die Bindung hunderttausender Soldaten der Donaumonarchie, die weitere wirtschaftliche Abschnürung verbunden mit der Überlastung der Eisenbahnlogistik reichte bereits aus, um die Waage kippen zu lassen.
Es war der erste Schritt zu einer Entgrenzung des Krieges und seiner verheerenden Verlängerung. Ein Punkt, der auch immer wieder zu schwach gewichtet wird, ist die Veränderung der Koalitionen: Im Kriegsverlauf erweiterte sich die Zahl der Kriegsteilnehmer auf beiden Seiten. Entscheidend war dabei der Kriegseintritt der USA 1917: Hier schloss sich für die Mittelmächte das Fenster zu einem Remis mit der Entente, das laut Afflerbach um die Jahreswende 1916/17 durchaus offenstand.
Im Winter 1916/17 bot sich dem Deutschen Reich und seinen Verbündeten eine vollwertige Chance, den Krieg mit einem Remis zu beenden, und zwar in der von den Zeitgenossen verkannten Verschränkung zwischen amerikanischer Friedensvermittlung und prärevolutionärer Situation in Russland.
Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide
Die USA waren unter Wilson parteiisch. Sie wollten laut Afflerbach unter keinen Umständen einen Sieg der Mittelmächte, aber auch nicht unbedingt einen Sieg der Entente, sondern den Aufstieg der USA zur globalen Vorherrschaft. In Deutschland wussten nur sehr wenige wirklich über das Land jenseits des Atlantiks Bescheid, wenige sahen die entscheidende Auswirkung eines Kriegseintritts der USA, ja viele hielten diesen für unwahrscheinlich.
Für die Entente war die Kriegserklärung der USA Anfang April 1917 der Schritt über die Schwelle, den Krieg notfalls noch jahrelang weiterführen zu können, bis die Mittelmächte zusammenbrachen. Anders als Russland, das längst militärisch, wirtschaftlich und politisch überfordert war und nach der Februar-Revolution 1917 den Krieg hätte beenden müssen, um den eigenen Untergang zu vermeiden, waren die USA faktisch unbezwingbar.
Für die Entente bestand demnach nach dem Zusammenbruch Russlands kein Grund, vom Konzept des militärischen Siegfriedens abzurücken, wenn das auch kurzsichtig gedacht war. Allein die bodenlose Verschuldung wirkte wie ein Gift auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung nach 1918. Gleichzeitig waren die Kriegsziele der Entente, die durch die Bolschewiki veröffentlich wurden, Wasser auf die Mühlen der Kriegspartei in Deutschland und bei seinen Verbündeten.
Die verbissene und ungeheuer schädliche alliierte Siegfriedensstrategie, die letztlich diese „wahnsinnige Selbstzerfleischung“ Europas zu verantworten hatte, hätte ihre Berechtigung gehabt, wenn das kaiserliche Deutschland durch den Krieg einen kohärenten Eroberungsplan hätte durchsetzen wollen. (…)
Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide
Es gehört zu den ironischen Aspekten dieses Krieges, dass Zeitgenossen wie Ludendorff, die auf einen militärischen Sieg fixiert waren, ein Entgegenkommen der Gegner fürchteten. Afflerbach meint zurecht, dass die Entente auf diese Weise den Kräften im Reich, die auf eine Beendigung des Krieges drängten, das schärfste Schwert aus der Hand schlug, nämlich die Aussicht auf einen Kompromiss.
Wichtig ist aber auch, dass es in Deutschland eine Friedenspartei gab! Im Zweiten Weltkrieg war das nicht mehr der Fall. Wer also aus Auf Messers Schneide etwas für die Gegenwart ableiten möchte, sollte diesen Aspekt unbedingt im Auge behalten. Entgegenkommen ohne Kompromisswilligkeit auf der Seite des Eroberungskriegers ist Appeasement im schlimmsten Sinne.
Es bleibt jedoch dahingestellt, ob es 1916/17 wirklich die Aussicht auf einen Kompromissfrieden gegeben hat. Denn die deutsche Gesellschaft war im Krieg von der Welt abgeschnitten. Aus dieser »klaustrophobischen« Lage wurde sie auch dank der »lebensbedrohlichen Verknappungen« (Hunger, Kälte) von der »paranoiden und bösartigen« Vorstellung getrieben, England wolle das Reich »erwürgen« und die Zivilbevölkerung verhungern lassen.
Das führte zu einer breiten, öffentlichen Unterstützung des verhängnisvollen U-Boot-Krieges. Den zu verhindern fehlten Persönlichkeiten, die neben Einsicht auch die nötige Macht und Entschlossenheit gehabt hätten, sich durchzusetzen. Das gilt auch für einen Kompromissfrieden, der eben auch deutscherseits Entgegenkommen trotz der großen Opfer beinhalten musste. Angesichts der öffentlichen Stimmung und des dysfunktionalen politischen Systems eine Herkulesaufgabe, die niemand schultern konnte.
Der Erste Weltkrieg war, in der deutschen Innensicht, kein Eroberungsfeldzug, sondern eine chaotische Interaktion konkurrierender Entscheidungszentren, in die Akteure von einer oft selbstverschuldeten Notlage zur nächsten hetzten.
Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide
Der »Waffenstillstand« von 1918 war nach Einschätzung Afflerbachs keiner, sondern eine Kapitulation unter bestimmten Bedingungen. Die Verhandlungen von Versailles haben diese Bedingungen jedoch übergangen, was wie ein Brandbeschleuniger auf die Empörung in Deutschland wirkte, die es den Gegnern einer Republik wesentlich erleichterte, den Friedensschluss und ihre Unterzeichner innenpolitisch zu diskreditieren und diffamieren – im Kampf um die Macht. Das bittere Ende für die »Sieger« von 1918 ist bekannt.
Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor C.H.Beck 2022 Paperback 664 Seiten ISBN: 978-340677743-1
Ein großartiger Kriminalroman vor einer bedrückenden historischen Kulisse ist Volker Kutscher mit »Marlow« gelungen, dem siebten Fall von Gereon Rath. Cover Piper, Bild mit Canva erstellt.
Den Lesern der Romanreihe um den Kriminalkommissar Gereon Rath ist der Name Marlow natürlich bekannt. Dr. M, Unterweltboss in Berlin, undurchsichtig, durchtrieben, gnaden- und gewissenlos agierend, wobei er sich korrupter Polizisten bedient, um seine Ziele zu erreichen. Eines seiner besonderen Kennzeichen ist jener Chinese, der ihm als Chauffeur dient.
Wenn der siebte Teil der Reihe nun den Namen des Gangsters als Titel trägt, weckt das einige Erwartungen. Aus dem Vorgängerband klingt noch das Echo der Ereignisse nach, die Rath an und über seine Grenzen gebracht haben, ein erbarmungsloses und brutales Machtspiel hat ihn in die Enge getrieben, aus der er nur mit Mühe herausgekommen ist.
Rath hat beruflich und privat Federn gelassen und feststellen müssen, dass seine Beziehungen zur Unterwelt mindestens ebenso problematisch sind wie die neuen Spielregeln unter dem Hitler-Regime. Andere kommen mit den politischen Umwälzungen unter den Nazis besser zurecht. Johann Marlow beispielsweise scheint tatsächlich noch nicht aus dem Spiel zu sein.
Ist er auch nicht, so viel darf an dieser Stelle wohl verraten werden. Um den Namen „Marlow“ hat Kutscher eine wirklich schöne Geschichte gesponnen, die zurückreicht in den Ersten Weltkrieg und die koloniale Zeit davor, als Deutschland in Afrika, dem Pazifik und eben auch China koloniale Gebiete besaß. Der Chinese in Marlows Fahrdienst ist nicht vom Himmel gefallen, das „Doktor“ vor dem »M« auch nicht.
Bei den Sanitätern kennt man den Tod nur als den der anderen.
Volker Kutscher: Marlow
Jeder habe seine Geschichte, heißt es immer, wenn es darum geht, eine Erklärung für Verhaltensweisen von Menschen zu finden. Das gilt auch für Romanfiguren wie Marlow, dessen Härte auf Zeiten zurückgeht, die im historischen Bewusstsein der Gegenwart gar keine Rolle mehr spielen. Wer weiß denn noch, wie deutsche Freikorps im Baltikum nach 1918 wüteten?
Es gehört zu den wunderbaren Eigenschaften der Romane um Gereon Rath, dass der Leser immer wieder mit diesen halb vergessenen historischen Umständen konfrontiert wird, ohne dass der Kriminalroman zu einer drögen Geschichtsstunde ausartet. Marlow erzählt davon, wie jemand in der Schmiede aus Krieg, Landsknechtdasein, grausamer Disziplin und emotionaler Kälte zu einem brutalen Ganoven wird.
Aus den vielschichtigen Spiel und Gegenspiel des Vorgängerbandes Lunapark ist die Hauptfigur Rath nicht unbeschadet hervorgegangen, das gilt auch für seine Frau Charlotte und in gewisser Hinsicht auch für ihren Pflegesohn Friedrich. Erfreulicherweise ist es Kutscher gelungen, das fortzuschreiben.
Ein subalterner Kollege blafft Rath ungewohnt offen wegen seiner Art an, seine Sekretärin sagt ihm daraufhin die Meinung, was bislang vor allem seine eigene Frau getan hat. Das setzt sich in Marlow auch fort, allerdings nimmt die Schärfe zu. Deutschland ist ein Unrechtsstaat, gelenkt von Verbrechern, viele suchen das Weite, andere beginnen, die Möglichkeit zu erwägen, um der sich ausbreitenden Dunkelheit zu entfliehen.
Einer musste es Ihnen ja mal sagen.
Volker Kutscher: Marlow
Rath wird am Anfang der Erzählung zu einem Verkehrsunfall gerufen, eigentlich ein Fall für weniger qualifiziertes Polizeipersonal, doch ein Unfallzeuge behauptet, es habe ein Mordversuch auf ihn stattgefunden. Zur Klärung wird der in Ungnade gefallene Kommissar Rath ausgewählt, eine undankbare Aufgabe.
Dank leichtfertiger Neugier unterläuft ihm jedoch ein Lapsus, denn der angebliche Unfall war keiner, wie der Leser schon im Prolog erfährt, aber auch nicht der vom übereifrigen Zeugen vermutete Mordanschlag, sondern eine gezielte Tötung. Ein Zufallsfund brisanter Dokumente im schrottreifen Auto bringt Rath in eine unschöne Lage, die er zunächst einmal mit einem Trick bereinigen kann.
Ein Irrtum, wie sich zeigt, denn der Kommissar wird immer tiefer in eine lebensgefährliche Auseinandersetzung zwischen Himmlers SS / SD und Göring verwickelt. Bei der Ausschaltung der SA zogen die Kontrahenten noch an einem Strang, doch im NS-Deutschland kämpfen die Ränge hinter Hitler um die Macht, ein Konflikt der neuen Eliten, der ohne jede Gnade mit größter Rücksichtslosigkeit geführt wird.
Die erste Ahnung, etwas falsch gemacht zu haben, überkam ihn, als er den Aufdruck »Geheime Reichssache« auf den beiden Aktenmappen las, die er aus dem braunen Umschlag zog.
Volker Kutscher: Marlow
Rath versucht auch hier lange Zeit, sich durchzulavieren, was jedoch schwieriger wird, weil die Skrupellosigkeit seiner Gegenspieler die Spielräume schrumpfen lässt. Nolens volens muss er nach Nürnberg fahren, der Stadt der Reichsparteitage und pompösen Aufmärsche, um eine haarsträubende Wiederbeschaffung der Akten durchzuführen, notdürftig getarnt vom Besuch seines Sohnes Friedrich, der mit der Hitlerjugend dorthin marschiert ist.
Dabei macht Rath eine erschütternde Erfahrung, als er Zeuge wird, wie Hitler im Auto an Spalier stehenden Volksmassen vorüberfährt und alles in ekstatischen Jubel ausbricht – der eigentlich unpolitische Kommissar wird davon mitgerissen. Eine gespenstische Szene, die so gut gelungen ist, dass der Leser den gewaltigen Sog zu spüren glaubt, dem sich der Protagonist nicht entziehen kann.
Er reißt wie alle anderen den Arm in die Höhe, immer wieder, »und dann hörte er, wie das Wort »Heil!« aus seinem Mund kam.« Rath versteht die Welt und vor allem sich selbst nicht mehr. Niemand hat ihn dazu gezwungen, den blutigen Gruß zu entbieten, niemand auf ihn geachtet, denn der vorüberfahrende Hitler hat alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie ein Schwarzes Loch im Weltall alles Licht. Trotzdem hat Rath sich hinreißen lassen.
Er, Gereon Rath, der in Berlin den Deutschen Gruß verweigerte und verschlampte, wo immer das nur möglich war, stand hier in Nürnberg am Straßenrand und riss getragen von der Masse und ihrem Rhythmus in einem fort den rechten Arm hoch.
Volker Kutscher: Marlow
Der NS-Staat etabliert sich, durchdringt auf propagandistische oder gewaltsame Weise den Alltag der Deutschen, die sich ihm immer schwerer entziehen können. Das ist möglicherweise die eigentliche Geschichte, die Kutscher en passant erzählt. Dabei sind die Ereignisse schwerwiegende genug, denn auch Charlotte Rath ist als Privatermittlerin und Anwaltsgehilfin mit Fällen befasst, die von der dunklen Zeit bestimmt werden.
Vor allem aber holt Charly die eigene Vergangenheit ein, denn die ist mittelbar mit dem Fall Raths eng verwoben, aber auch mit dem, was der ehemalige Oberkommissar und jetzige Privatermittler Böhm mit sich herumträgt – die „Kellergeister“, Fälle, die Polizisten nicht wieder loslassen wollen. Alles verstrickt sich immer weiter ineinander, dank der Umstände und schrumpfenden Spielräume ist eine „Lösung“ ferner denn je.
Auch Gereon Rath hat seine Kellergeister – einer davon ist Johann Marlow, der ihn seit vielen Jahren als nützlichen Polizisten schmiert und für seine Zwecke ausnutzt; davon hat auch Rath etwas, oft war ihm der Kontakt in die Unterwelt hilfreich. Die Nazis haben eigentlich dem Verbrechen den Kampf angesagt, doch kann ein Verbrecherregime, das seine Gegner in Mafia-Manier liquidiert, ernsthaft dieses Ziel verfolgen?
Was Rath da in seinen Händen hielt, war eine akkurat auf den Bügel gehängte SS-Uniform.
Volker Kutscher: Marlow
Das ist die übergeordnete Frage, die sich bei der Lektüre immer wieder stellt. Kann man überhaupt »anständig« bleiben in einem verbrecherischen System? Kann man sich darauf zurückziehen, nur Polizist zu sein, kein Nazi? Rath hat in Nürberg eine erschütternde Antwort bekommen, aber auch Böhm, Gennert und Charlotte müssten sich diese Frage stellen. Geben sie sich nicht einer Illusion hin?
Johann Marlow jedenfalls hat einen sehr konsequenten Weg beschritten, sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren. Kurioserweise war er bereits außer Landes, doch hat er in den USA nicht reüssieren können und ist zurückgekehrt. Auf seine Weise profitiert er vom Unrechtsstaat, gewissen- und skrupellos, wie er ist. Dabei gerät er mit Gereon Rath aneinander, eine Zweckgemeinschaft zerbricht und es wird für den Protagonisten höchst bedrohlich.
Da noch drei weitere Romane folgen, ist es keine Überraschung, dass Rath am Ende davonkommt. Mit heiler Haut? Wohl kaum. Kutscher inszeniert das Finale von Marlow mit einem tollen erzählerischen Kniff, der diebische Freude aufkommen lässt, bis ganz am Ende das böse Erwachen folgt. Eigentlich möchte man nichts mehr, als sofort in den nächsten Band einzutauchen – doch das ist schon der drittletzte und der letzte lässt wohl noch auf sich warten. Also: Geduld.
Fünf Bücher kann ich ohne Bedenken empfehlen, eines interessiert mich nicht und eines war eine Enttäuschung. Ein wenig Festspielatmosphäre, tolle Veranstaltungsorte, gute Lesungen mit interessanten Autoren und überwiegend guten Gesprächspartnern.
Der Applaus klingt noch im Ohr: Gerade erst habe ich die Veranstaltung mit Bonnie Garmus verlassen, die mit ihrem Roman Eine Frage der Chemie einen Bestseller gelandet hat. Das Buch kenne ich nicht und werde es auch nicht lesen, mich hat vor allem interessiert, wie eine Lesung verläuft, wie die Kommunikation funktioniert, Moderatorin und Vorleserin ihre Aufgabe lösen und das Publikum reagiert. Das war sehr aufschlussreich.
Ich bin zu insgesamt acht Veranstaltungen gegangen, was den Festival-Charakter des Göttinger Literaturherbst in Spurenelementen erlebbar machte. Das gilt besonders für den Freitagabend vorletzte Woche, als ich zunächst Daniel Kehlmann für Lichtspiel und direkt im Anschluss Andrej Kurkow mit Samson und das gestohlene Herz erleben durfte. Zwei Lesungen direkt nacheinander – geht das? Ja, ganz prima sogar.
Zweimal bin ich unvorbereitet zu einer Lesung aufgebrochen, im Falle von Ralf Rothmann an seinem Buch Die Therorie des Regens durchaus interessiert, was sich nach der Lesung jedoch erledigt hatte. Einen Roman werde ich von dem Autor sicher lesen, Im Frühling sterben steht schon im Regal bereit. Die Lesung war dennoch alles andere als eine Enttäuschung, Gespräch und Vortrag haben unterhalten, es gab kluge Fragen seitens des Gesprächspartners und aus dem Publikum.
Das ist ein gutes Stichwort, denn bei der Lesung von Andrej Kurkow wirkte der Gesprächspartner – nun, sagen wir: indisponiert. Das Gespräch versandete im Nebel des Ungewissen – glücklicherweise hatte das Publikum Fragen, die wie ein kommunikativer Rettungsring wirkten. Die Nachfragen erlaubten dem sehr sympathischen und gut Deutsch sprechenden Autor viel zu erzählen – auch zu anderen Romanen, von denen ich mir gleich einen gekauft habe. Graue Bienen, die wenigen Worte, die Kurkow darüber verloren hat, klangen sehr interessant.
Leichtigkeit heißt nicht oberflächlich
Leichtigkeit prägen Kurkows Samson-Romane wie auch Kehlmanns Lichtspiel, in Steffen Schroeders Planck – oder wie das Licht seine Leichtigkeit verlor, ist das Wort sogar Teil des Titels. Ganz besonders trifft es auch auf den Roman Aufklärung von Angela Steidele zu, wenngleich der Titel auf sperrige Kost schließen lässt. Mehrfach wurde thematisiert, wie die Schriftsteller ganz planmäßig versucht haben, die Lesbarkeit durch Elemente der Leichtigkeit zu erhöhen.
Aber Leichtigkeit ist nicht mit oberflächlich zu verwechseln! Leider habe ich bei mehreren Besprechungen und Rückmeldungen zu einigen Romanen schon merken müssen, dass zu leichtfertig, vielleicht auch zu flüchtig gelesen wurde. Das ist schade, denn die Leichtigkeit gibt dem Leser den nötigen Raum, um über die schweren Dinge der Handlung nachzudenken – das gilt für dieses Quartett, das ich nachdrücklich zur Lektüre empfehlen möchte.
Das gilt auch für den Brocken von einem Buch namens Der Frühling der Revolution von Christopher Clark. Der Historiker beleuchtet die Revolution von 1848/49 aus einer gesamteuropäischen Sicht, was eine Menge neuer Sichtweisen und Erkenntnisse öffnet, darunter einige hochspannende, die Revolutionsträumer wie eine kalte Dusche ernüchtern sollte. Sklavenbefreiung – eine gute Sache, aber mehr als ein Teufel steckt im Detail, zum Beispiel, wenn die Sklavenhalter gar keine Weißen sind, sondern Schwarze bzw. Angehörige einer Mischbevölkerung.
Eine Enttäuschung gab es auch: Felicitas Moklers Vortrag über das hochspannende Thema Kosmologie schöpfte wie ihr Buch nicht aus, was möglich wäre. Kurioserweise fehlt es an sprachlicher Präzision, didaktisch ansprechender Struktur und thematischer Verflechtung. Ich lese ihr Buch trotzdem, denn für meine Intention ist es durchaus geeignet: Ausloten, wo die Grenzen meines Verstehens sind.
Alles in allem bin ich sehr zufrieden und hoffe auf ein ähnlich gutes Programm im kommenden Jahr.
Totenschiffist als Taschenbuch (376 Seiten / 16,99 Euro) bei Autorenwelt, Amazon & anderen Online-Buchhändlern sowie im lokalen Buchhandel erhältlich. Das eBookgibt es exklusiv bei Amazon zu kaufen bzw. im Rahmen von Kindle Unlimited zu lesen.
Bücher begleiten mich schon mein ganzes Leben, auf dem Leseweg habe ich sehr viele großartige Romane und Sachbücher lesen dürfen, von denen ich gern erzählen möchte. Das ist ein Grund, warum ich blogge.