Es hatte mit einem Mord begonnen. Und es war nun eine Kettenreaktion daraus geworden, als habe ein Mord den nächsten nach sich gezogen.
Tony Hillerman: Stunde der Skinwalker
Gute Romane müssen keine Spoiler fürchten. Ihre Qualität sorgt dafür, dass man sie nochmals lesen kann, auch wenn die reine Handlungsspannung durch die erste Lektüre verflogen ist. Das gilt selbstverständlich auch für Krimis. Hier sind eindeutig jene Kriminalromane im Vorteil, die mehr als einen Fall und seine Auflösung zu bieten haben. Ein schönes Beispiel ist die Buchreihe über die Navajo-Police von Tony Hillerman. Insofern wäre es kein Problem, wenn ich an dieser Stelle einiges verraten würden, was sich in Stunde der Skinwalker zuträgt.
In diesem Fall wäre mir das selbst unrecht, also versuche ich mich um allzu verräterische Formulierungen herumzudrücken. Nein, es geht mir nicht um die sehr spannende Auflösung der verwickelten Fälle, die im Zentrum der Ermittlungen stehen, sondern um den Anfang des sechsten Teils der Buchreihe. Schon im ersten Kapitel gibt es eine Überraschung und damit ist nicht die Katze gemeint, die nachts in den Wohnwagen von Jim Chee schlüpft.
Die Katze ist dem Navajo-Polizisten zugelaufen oder präziser: Sie lebt in der Nachbarschaft und betritt Chees Behausung nur, um Futter und Wasser zu bekommen. Mitten in der Nacht jedoch ist die Katze ein seltener Gast, was die Frage aufwirft, wodurch sie aufgeschreckt worden sein könnte. Hunde? Kojoten? Oder doch etwas anderes?
Was lauerte dort draußen?
Tony Hillerman: Stunde der Skinwalker
Die Gedanken Chees kreisen in dieser nacht noch um andere Dinge. Mary Landons Rückkehr steht bevor, der er mit großer Vorfreude entgegensieht. Weniger erfreulich ist allerdings die Aussicht auf den folgenden Tag, an dem Chee mit einem FBI-Mann namens Jay Kennedy zu einem Verdächtigen namens Roosevelt Bistie aufbrechen muss, der möglicherweise einen Mord begangen hat.
Diese Tat wird bei Joe Leaphorn mit einer Nadel markiert, braun mit weißem Kopf. Eine ausladende Karte ziert das Arbeitszimmer des Ermittlers, den die Leser aus den ersten beiden Bänden der Navajo-Police-Reihe kennen. Leaphorn hat eine unüberschaubare Anzahl an Fällen auf dieser Karte mit farblich verschiedenen Nadeln markiert und mit kryptischen Zeichen versieht, die ihm Auskunft darüber geben, was dort geschehen ist.
Die Karte bildet also in gewisser Hinsicht einen Teil des sozialen Lebens im Navajo-Reservat ab. Morde finden vor allem in dessen Randbereichen statt, wo es Berührungen zu der Welt der Weißen gibt. Gewalt im Reservat geschieht eher zufällig, oft im Zusammenhang mit Alkohol und Verzweiflung. Und doch gibt es drei Nadeln mit ungelösten Morden auf dieser Karte, einer davon ist jener, zu dem Jim Chee aufbricht, um einen Verdächtigen zu verhören.
Allen bei der Navajo-Police kannten Leaphorns Karte als Ausdruck seiner Verschrobenheit.
Tony Hillerman: Stunde der Skinwalker
In Stunde der Skinwalker ermitteln Chee und Leaphorn erstmals gemeinsam. Ich war vor der Lektüre ausgesprochen gespannt, wie der Autor Tony Hillerman das Aufeinandertreffen der beiden bewerkstelligen würde. Wie es sich für einen guten Autor gehört, hat er die Annäherung sehr geschickt inszeniert.
Auch der sechste Teil ist von Mythos und Mystik der indianischen Gemeinschaften geprägt. Das zeigt allein der Titel, der von Skinwalkern spricht. Hexer mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten, die man nicht mit denen Europas gleichsetzen sollte, treiben also ihr Unwesen. Die Navajo reden nicht gern über Hexer, das gilt auch für jene der indianischen Gemeinschaft, die eigentlich bereits mit einem Fuß oder mehr in der Welt der Weißen stehen.
Wer über derartigen (Aber-)Glauben mild-herablassend lächelt, sollte sich für einen Moment vor Augen führen, was in der »aufgeklärten« Welt mit Begriffen wie »schwarze Katze«, »Freitag der Dreizehnte« verbunden ist oder über Corona-Viren bzw. Impfungen kursiert. So kann man es ruhig wertfrei hinnehmen, wenn Leaphorn verstimmt ist über Scherze, die mit Hexerei in Verbindung stehen.
Streibs Frotzeleien störten Leaphorn nicht, Witze über Hexerei dagegen schon.
Tony Hillerman: Stunde der Skinwalker
Zunächst geht es bei den Ermittlungen wenig übersinnlich, dafür rätselhaft zu. Da ist zum Beispiel der Verdächtige im Mordfall Irna Onesalt, auch Welfare Woman genannt. Nach Chees Einschätzung war sie »hart wie Sattelleder und fies wie eine Schlange«, eine einmalig unausstehliche Person. Jeder, der »je mit ihr zu tun gehabt hatte«, ist also verdächtig, den Mord begangen zu haben. Ein einleuchtendes Motiv gebe bei jedem. Schlimmer noch, dass die Mordwaffe so gängig im Reservat ist, dass faktisch jeder als Mörder infrage käme.
Doch zunächst rückt dank Chee Roosevelt Bistie im Falle eines gewissen Old Man Endocheeney in den Fokus. Gemeinsam mit FBI-Mann Kennedy befragt Chee die Tochter des Verdächtigen, ein wundervolles Spielchen, denn die junge Dame tut, als spräche sie nur Navajo und kein Englisch. Die beiden Indianer führen über den Kopf des Weißen hinweg ein spezifisches und für den Leser amüsantes Gespräch.
Kurios wird es, als der Verdächtige Bistie aufkreuzt und sich ehrlich freut, dass Endocheeney tot ist. Er habe ihm eine »verpasst« und dabei getroffen, gibt er begeistert zu. Auf Chees Nachfrage behauptet er, Endocheeney erschossen zu haben. Dummerweise ist der Ermordete mit einem Messer getötet worden. Bistie verweigert jeden Kommentar zu seinem Motiv, aus dem er den »Mistkerl« umgebracht haben will. Das beharrliche Schweigen scheint wieder mit dem unangenehmen Thema »Skinwalker« verbunden zu sein.
›Hexerei?‹, fragte er. ›Ein Skinwalker?‹
Tony Hillerman: Stunde der Skinwalker
Chee antwortete nicht. Leaphorn nippte am Kaffee. Chee zuckte die Achseln und sagte dann. ›Das wäre jedenfalls eine Erklärung dafür, warum Bistie nicht darüber reden will.‹
»Skinwalker« wie auch viele andere Aspekte der Mystik indianischer Gemeinschaften haben ganz reale Auswirkungen auf das Leben eines Navajo. Es sind diese Dinge, die Hillermans Roman so deutlich über einen reinen Krimi hinausheben. Sie sind ganz eng mit den Beweggründen für eine Tat verbunden, verschlüsseln diese und geben gleichzeitig zum Teil wenigstens die nötigen Hinweise zur Auflösung der Fälle.
Chee und Leaphorn sind aber auch in ihren persönlichen Verhältnissen mit Fragen konfrontiert, die immer wieder auf die Traditionen der Navajo zurückführen. Zwangslagen entstehen. Leaphorns Frau Emma leidet an Symptomen, die an Alzheimer erinnern. Sie verweigert den Gang zu einem Arzt der Weißen, mit Begründungen, die auf den ersten Blick ein wenig merkwürdig wirken.
Da Alzheimer zur Handlungszeit (wie auch in der Lesergegenwart des Jahres 2024) unheilbar ist, erscheint die Frage nach dem Sinn einer neurologischen Untersuchung durchaus berechtigt. Leaphorn fragt sich, ob es nicht doch besser wäre, einen traditionellen Sänger aufzusuchen. Sie brauche einen Gesang, sagt Emma, dann werde es ihr wieder besser gehen. Besser heißt nicht, was Schulmedizin mit »gesund« meint, dafür aber Lebensqualität. Sehr spannend ist auch, wie sich diese Angelegenheit letztlich auflöst.
Der Skinwalker war daran schuld. Warum er es getan hatte, lag im Dunkeln des Bösen verborgen. Darum musste der Skinwalker sterben.
Tony Hillerman: Stunde der Skinwalker
Eine Erzähllinie in Stunde der Skinwalker greift den Zusammenhang zwischen den »Hexern« und schwerwiegenden Erkrankungen auf. Hexer werden für die schwindende Gesundheit verantwortlich gemacht, ihr Tod ist das Mittel, um die Krankheit zu besiegen, auch wenn das aus rationaler Sicht eine Heilung weit außerhalb aller Möglichkeiten liegt, etwa bei einem schwerwiegenden Geburtsfehler. Für Verzweifelte kann die gewaltsame Beseitigung eines Hexers dennoch als der richtige Weg erscheinen.
Für den aufgeklärten belacani (Weißen) mag das seltsam erscheinen, auch Leaphorn hegt massive Vorbehalte gegen diese abergläubische Welt. Doch hat Hillerman auf eine brillante Weise nicht nur eine Brücke zwischen (Aber-)Glaube und Rationalität geschlagen, sondern einen Täter geschaffen, den auch ein der Aufklärung verhafteter Leser als Skinwalker, Gestaltwandler begreifen kann.
[Rezensionsexemplar]
Weitere Bücher der Reihe um die Navajo-Police:
Tanzplatz der Toten
Blinde Augen
Zeugen der Nacht
Dunkle Winde
[Rezensionsexemplar]
Tony Hillerman: Stunde der Skinwalker
Ein Fall für die Navajo-Police
Aus dem Englischen von Klaus Fröba
Nach dem Original durchgesehen und überarbeitet von Andras Hackmann
Unionsverlag 2024
Taschenbuch 256 Seiten
ISBN: 978-3-293-20958-9