Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht. Das Bild, das der ehemalige Angehörige der SS abgibt, unterscheidet sich sehr von der Person, die mir in Romanen bzw. Graphic Novels begegnet ist.
Das Foto zeigt Eichmann in Jerusalem vor Gericht. Das ist jener Eichmann, von dem Hannah Arendt berichtet, jene Gestalt, die in der Regel mit der »Banalität des Bösen« in Verbindung gebracht wird. Tatsächlich wirkt Eichmann eher wie ein Staubsaugervertreter oder Handelsreisender in Sachen Versicherung.
Ganz anders bei Guez, der über Eichmann (aus der Sicht von Josef Mengele) im argentinischen Exil berichtet. Ein Star, der Autogramme gibt und großsprecherisch auftritt, seinen »Rang« im so genannten »Dritten Reich« wie eine Monstranz vor sich herträgt und von einem Comeback in einem »Vierten Reich« schwadroniert. Mit dem Bild, das die »Banalität des Bösen« assoziiert, passt das nicht mehr ganz zusammen.
Das gilt noch mehr für jenen Eichmann, der bei Pflüger in Richie Girl dem Leser entgegentritt. Der Autor hat in einem Nachwort zu seinem Roman die Gestaltung dieser Figur noch einmal aufgegriffen und explizit auf Ahrendt verwiesen: Von deren Vorstellung wollte er »seinen« Eichmann abheben. Das ist gelungen, Pflügers Eichmann ist eine dämonische, selbstsichere und eiskalte Figur.
Bei der Lektüre von Thomas Meyers biographischem Abriss über Hannah Arendtmusste ich wieder daran denken, wie unterschiedlich die Sicht auf einen Menschen sein kann. Im Falle Arendt hat ihr spezifischer Zugang zu dramatisch zu nennender Kritik und Anfeindungen geführt. Die Aufregung von damals glüht bis in die Gegenwart nach.
Umstritten wie kein anderes Buch von Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Die sprichwörtliche »Banalität des Bösen« ist von vielen Seiten kritisiert worden. Das schmale Buch von Thomas Meyer widmet sich vor allem den Werken Arendts, ihrem Leben und der Rezeption.
Bald ist es ein halbes Jahrhundert her, dass Hannah Arendt im Alter von 69 Jahren verstarb. Seit 1975 ist derart Epochemachendes, Disruptives und Weltumstürzendes geschehen, dass die Feststellung von Thomas Meyer wundert, Werk und Denken Arendts werde bis in die Gegenwart zitiert und zu Analysen herangezogen. War sie also am Ende eine zeitlose oder zumindest nicht auf das zwanzigste Jahrhundert beschränkte Denkerin, wie der Untertitel nahelegt?
Die Frage lässt sich nach der Lektüre des schmalen Büchleins über Arendt ebensowenig beantworten, wie die, was eigentlich jener zum geflügelten Wort gewordene Untertitel „Banalität des Bösen“ genau meint. Dazu ist – eigentlich keine Überraschung – das Studium der Werke Arendts nötig. Auch das, was die zahllosen Kritikerinnen und Kritiker geäußert haben, muss gelesen werden, um die Basis für eine Einschätzung zu legen. Den Anspruch hat ein Buch diesen Umfangs nicht.
Thomas Meyer bringt seinen Lesern den Lebensweg und die dabei entstandenen Werke Hannah Arendts näher. Dramatische Umstände, wie die Internierung in Frankreich und der Flucht vor dem Zugriff der Gestapo werden nur in einem knappen Absatz geschildert – mir ist das durch die schöne Graphic Novel Die drei Leben der Hannah Arendt von Ken Krimstein vertraut. Meyers Fokus liegt auf den Werken. Diese sind oft eng verknüpft mit dem, was die Autorin als Zeitgenossin aktiv miterlebte: Verfolgung, Flucht, Exil, Rückkehr, der Prozess gegen Eichmann in Jerusalem.
Der Name, der immer mit Hannah Arendt verbunden sein wird, ist Martin Heidegger. Recht typisch für eine untergründige, oft auch offene Frauenfeindlichkeit ist, dass in der Diskussion über Arendt immer wieder auf die intime Beziehung zwischen Lehrendem und Schülerin angespielt wird. Umgekehrt spielt das bei der Einschätzung von Heidegger keine oder nur eine untergeordnete Rolle.
Dabei ist das intellektuelle und persönliche Verhältnis durchaus ein interessantes Thema, wie Meyer zeigt, denn Arendt hat nach 1945 keine eindeutige Haltung zu Heidegger eingenommen. Das mag in der Gegenwart, in der Haltung zeigen oft eine größere Rolle als inhaltliche Stichhaltigkeit zugesprochen wird, noch mehr verwundern und Kritik herausfordern.
Man kann sagen, dass Arendts ganzes Denken ihrer bewussten Zeitgenossenschaft entstammt.
Thomas Meyer: Hannah Arendt
Während der Lektüre von Hannah Arendt wird klar, wie vielfältig (und unbekannt) das Werk der Denkerin ist. Weber schildert die Entwicklung von Person und Denken parallel zu den Veröffentlichungen. Der Liebesbegriff bei Augustinus steht am Anfang und ist insofern bezeichnend, dass eine wiederkehrende Kritik an Arendt ihre vorgebliche Fokussierung auf die Antike beinhaltet.
Arendts nächstes Werk war eine Biographie zu Rahel Varnhagen. Während der Arbeit entwickelte sich die Autorin nach eigener Einschätzung zu einem „jüdisch-politisch denkenden Menschen“. Bemerkenswert ist, dass sie Juden als aktiv „Handelnde“ in der Geschichte und nicht bloße Opfer betrachtet.
In diese Zeit fällt auch die Genese des spezifischen Tons von Hannah Arendt, der von einer spektakulär empfundenen Kompromisslosigkeit geprägt ist. Ihre Kritiker sahen das als „abfällig“ und „lieblos“, die Zitate zeigen eine beeindruckend gradlinige Ausdrucksweise. Die Autorin nahm an der Biographie, die kurz vor der Machtübergabe an Hitler fertiggestellt wurde, nach dem Krieg keine Änderungen vor.
Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich mit dem zentralen und bekanntesten Werk Arendts: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Wie bei den anderen, noch folgenden (Vita activa, Über die Revolution, Eichmann in Jerusalem, Macht und Gewalt) bietet Thomas Meyers Buch einen kurzen Abriss über den Inhalt sowie die Rezeption. Es ist ein naturgemäß flüchtiges Kennenlernen, wie eine Art kommentierter Fahrplan, der einen Eindruck gibt und zum Selbstlesen animiert.
Mag sein, dass Arendt Analyse heute „völlig falsch“ erscheint, so wäre das Gegenteil angesichts der mittlerweile zu einem Gebirge angewachsenen Fachliteratur zu dem Thema auch ein Wunder. Meyer sieht in Arendt eine Wegbereiterin für die Forschungen auf dem Gebiet in den folgenden Jahrzehnten.
Angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen stellt sich ohnehin die Frage, ob Naserümpfen wirklich angebracht ist, denn auch die „richtigen“ Erkenntnisse scheinen wenig geholfen zu haben, der Rückkehr des Totalitarismus einen Riegel vorzuschieben. Denn Ausschwitz und die Shoah waren einmalig, aber:
Was geschehen ist, hat die Menschheit insgesamt verändert, als Riss oder Zivilisationsbruch. Die Verbrechen leben als Möglichkeit fort.
Thomas Meyer: Hannah Arendt
Das Zitat ist ein ebenso schönes wie beunruhigendes Beispiel dafür, wie anregend die Lektüre von Thomas Meyers Hannah Arendt ist.
Rezensionsexemplar
Thomas Meyer: Hannah Arendt Die Denkerin des 20. Jahrhunderts C.H.Beck 2025 Taschenbuch 128 Seiten ISBN: 978-3-40683083-9
Ein imposantes und aussagekräftiges Coverbild ziert die Graphic Novel, die sich mit der blutigen Agonie des so genannten „Dritten Reichs“ auseinandersetzt.
Heute ist eine hoch interessante Graphic Novel bei mir eingetroffen, deren Titel und Cover keinen Zweifel daran lassen, um welche apokalyptisches Thema es geht. Beginnend mit dem 15. Januar 1945 werden die letzten einhundert Tage Adolf Hitlers und damit die blutige Agonie des so genannten „Dritten Reichs“ erzählt.
Die Zahl der Opfer in dieser Zeit geht in die Millionen, die Zerstörung des Reiches durch Bombardierungen und völlig sinnloser Kampfhandlungen am Boden schritt rasant voran, die Mordmaschine des Regimes lief weiter.
Es war nicht nur Hitlers Krieg, auch das Ende führten unzählige andere Männer ergeben weiter, gegen alle Ratio, Verstand und Einsicht – das ist eine Botschaft der militärgeschichtlichen Forschung. Was das für die Zivilbevölkerung hieß, schildert der brillante Roman Alles umsonst von Walter Kempowski am Beispiel Ostpreußens.
Nun bin ich sehr gespannt, wie die Graphic Novel Die letzten 100 Tage Hitlers von Pécau, Andronik, Marvic, Verney mit dem Thema umgeht. Dafür gibt es noch einen persönlichen Grund: Mein Großvater geriet in Berlin schwerverwundet am 02. Mai 1945 in Kriegsgefangenschaft.
Der Fluss spielt im brillanten Roman Grenzfahrt eine wichtige Rolle. Er trennte bis zum 22. Juni 1941 Wehrmacht und Rote Armee, ehe das apokalyptische Unternehmen »Barbarossa« seinen Anfang nahm. Cover Suhrkamp-Verlag, Bild mit Canva erstellt.
Keine eigene Geschichte, nur die der anderen. Der Russen, der Deutschen. Sie waren gekommen, hatten Schutt und Asche hinterlassen und waren wieder gegangen.
Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt
Große Teile des Romans werden aus einer mittleren Perspektive erzählt. Zwar ist der Ort in Polen gelegen, doch könnte man das alles auch auf ganz Mittelosteuropa beziehen. Dazwischen. Hier die Deutschen, dort die Sowjets, Hammer und Amboss, alle anderen dazwischen. An einem Fluss, der die beiden Gebiete trennt. Die Gegend am Fluss präsentiert als geschichtsloser Raum, den die anderen, die Russen und Deutschen, gefüllt haben.
Die Geschehnisse spielen im Spätfrühling 1941, es ist Ende Mai, Anfang Juni, der nahende Vernichtungskrieg, die große Blutmühle des 20. Jahrhunderts liegt bereits schwer in der warmen und heißen Luft. Geschütze stehen von Tarnnetzen verborgen im Garten, Panzer, Opel Blitz, Motorräder und marschierende Infanterie wirbeln Staub auf, der große Aufmarsch ist im Gange. Auf der anderen Flussseite Bunker, Wachen, Patrouillen. Nachts erhellen Leuchtraketen den dunklen Himmel.
In diesem seltsamen Zwischenraum zu dieser Zwischenzeit vor dem hereinbrechenden Verhängnis tummeln sich die unterschiedlichsten Menschen, die sich unter gewöhnlichen Umständen nie getroffen hätten. Dörfler, Bauern, Hirten; Partisanen mit großen Reden und brutalem Verhalten; Schmuggler; Fliehende, oft Juden, die nach Osten wollen; Rückkehrer aus dem Osten, weil dort auch kein Ort zum Überleben ist.
Eine der Hauptpersonen ist der Fährmann, der in dunklen Nächten sein bereits vor dem Krieg betriebenes Geschäft fortführt. Er lässt sich für das große Risiko bezahlen, ist aber ein ehrlicher Mensch, betrügt seine menschliche Fracht nicht. Er arbeitet auf dem Fluss, dem Dazwischen, pendelt und gerät auch in anderer Hinsicht zwischen die Fronten. Eine lebensbedrohliche Lage für ihn, in einer Zeit, in der das einzelne Leben seinen Wert eingebüßt hat.
Er betrachtete die Spuren der Raupe und begriff nicht, warum die Deutschen gekommen waren und warum sie weiterziehen wollten.
Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt
Erzählt wird in wechselnden Perspektiven. Die Sichtweisen sind zum Teil außergewöhnlich, wenn etwa jener hinterwäldlerische Dörfler staunend die Wehrmachts-Kolonnen betrachtet, völlig ahnungslos, woher die Deutschen kommen, was um alles in der Welt sie in seiner Heimat wollen und – ein noch größeres Rätsel – warum sich die Deutschen mit den Sowjets anlegen werden. Und ja, das fragt sich der Leser dann auch.
Stasiuk hat seinen Roman Grenzfahrt mit einer weiteren Zeitebene versehen, in der der Ich-Erzähler mit seinem Vater in ebenjener Gegend sich aufhält, Jahrzehnte später, wenn das große Vergessen alles in den Abgrund zieht, was damals dort geschehen ist. Die Spuren sind rar, das Bedürfnis des Ich-Erzählers, etwas über die Zeit zu erfahren, viel größer als die Neigung des Zeugen, davon zu berichten.
Eine magische Passage erzählt von einem Foto, das der Erzähler betrachtet. Ein „Bild aus jener Zeit“. Er beschreibt die Personen, die zu sehen sind, wohin sie schauen. Sie sehen Dinge, die man auf dem Foto nicht sieht, die aber trotzdem da sind. Der Ich-Erzähler weiß, dass vor dem Foto-Betrachter ein Fenster ist, eine Tür, er kennt das Haus, hat früher aus dem Fenster geschaut. Trotzdem wusste der Ich-Erzähler lange nicht, was von der Landschaft, die er gesehen hat, noch verborgen ist.
Es kann sein, dass gut fünfzig Kilometer weiter schon die Feuer von Treblinka brennen.
Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt
Darüber wurde nicht gesprochen, nicht mit den Kindern. Der Erzähler hat seiner Großmutter zugesehen, wie sie ohne Licht in der Nacht die Kühe gemolken hat. Weiße Milch, ein ganzer Eimer voll aus dieser „tiefsten Finsternis“, die „tiefer als die Nacht selbst“ war. Wer denkt hier nicht an Celans berühmte Gedichtzeile aus der Todesfuge? Schwarze Milch der Frühe. Stasiuk hat seine Grenzfahrt auch zu einer Reise in poetische Bilder gemacht, die – passend zu dem, was in der Vergangenheit geschah – grundlegende Fragen der menschlichen Existenz berühren.
Heroisch ist nichts in diesem Roman. Das gilt auch für die Gruppe an Partisanen, die in der Gegend herumstreift und im Grunde genommen die Bevölkerung drangsaliert. Für den Kriegsverlauf hat das wirre Hin und Her keinerlei Bedeutung, manchmal wirkt die Gruppe wie Schuljungen, die Partisanen spielen. Sie zählen Wehrmachtsfahrzeuge und streiten sich, ob bestimmte Fahrzeuge Panzer sind oder nicht. Nie werden diese Informationen irgendwohin weitergeleitet.
Stasiuk lässt ihre Handlungen brutal, von großen, hohlen Worten umhallt und mit fürchterlichen Folgen erscheinen. Es gibt Tote, man hängt jemanden mit erschütternder scharfrichterlicher Inkompetenz. Ein ähnliches Fiasko ist auch der Versuch, ein Schwein zu töten. Im Grunde genommen sind alle Aktionen der Partisanen sinnlos, gefährlich nur für die Zivilbevölkerung. Eine Bande, Räuber, Marodeure statt heroischer Widerständler.
Der latente Antisemitismus schlägt immer wieder durch, was zwei jüdischen Flüchtlingen fast zum Verhängnis wird. Sie kommen aus der Stadt an den Fluss, in der Hoffnung, dem sicheren Tod im Herrschaftsraum der Deutschen zu entgehen, wenn sie auf die andere Seite, zu den Sowjets gelangen. Eine Illusion, wie so vieles in Grenzfahrt. Stattdessen kumuliert die Handlung in einer schrecklichen Missetat, während die letzten Minuten vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion verrinnen.
Große europäische Literatur.
Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall Suhrkamp 2023 Gebunden, 368 Seiten ISBN: 978-3-518-43126-9
Das Entsetzen über die deutsche Besatzungspolitik in Polen ergriff Hosenfeld bereits wenige Wochen nach dem militärischen Sieg. Dennoch brauchte es noch einige Zeit, ehe sich ganz vom Regime distanzierte und die heraufdämmernde Niederlage mit großer Klarheit kommen sah. Cover DVA, Bild mit Canva erstellt.
Das sind keine Menschen, nicht einmal Tiere, das sind Teufel. (28.12. 1943 über die SS, Gestapo)
Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten
Der Film Der Pianist von Roman Polanski hat den deutschen Hauptmann Wilm Hosenfeld bekannt gemacht. Der 2002 erschienene Streifen über den polnischen Pianisten und Komponisten Władysław Szpilman erzählt dessen Schicksal während der deutschen Okkupation Polens zwischen 1939 und 1944. Hosenfeld hat Szpilman das Leben gerettet, eine entscheidende, aber für den gesamten Weg des Verfolgten durch die schreckliche Zeit eben auch nur eine Episode.
Polanski hat den Fokus auf die Opfer gelegt, sein herausragender Film ist für mich noch erschütternder gewesen als Schindlers Liste von Steven Spielberg von 1993. Er ist in gewisser Hinsicht schlichter, geradliniger und stiller als das amerikanische Pendant, die völlige Unerbittlichkeit des Kriegsgeschehens und Besatzungsregimes wirkt unmittelbarer. Am Ende nennt der Film noch den Namen des Retters und sagt, man wisse nicht mehr über ihn als seinen Tod im sowjetischen Kriegsgefangenschaft.
Das Buch »Ich versuche jeden zu retten« zeigt, dass dies eine unkorrekte Information ist, was aber selbstverständlich völlig legitim ist: Polanskis Anliegen war wie gesagt das der Opfer, nicht das eines untypischen Deutschen. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen geben eine Menge über den Person namens Wilm Hosenfeld preis, ein spektakulärer Einblick in das Leben, Denken und Fühlen eines Mannes, der ebenso Teil der Nationalsozialistischen Welt war wie sich davon abhob. Die Widersprüchlichkeit ist atemberaubend, das zeigen auch nachfolgende Zitate:
Goebbels ist ein großartiger Volksredner. Er überzeugt […] (10.03.1936)
Oder warum wird keine öffentliche Abstimmung im ganzen Reich durchgeführt? Allgemeine, geheime, freie Wahl. (30.04.1936)
Die Partei arbeitet mit Lüge, Verdrehung und Verleumdung, und wo das nicht genügt, mit Terror. (05.05.1936)
Wieder ergreift mich das Erlebnis der großen Gemeinschaft, in das wir marschieren. Es ist wie im Krieg. (12.09.1936)
Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten
Die zeitliche Dichte der Äußerungen, die zugleich eine große Nähe und Distanz zum Regime ausdrücken, Bewunderung und offene Kritik, verblüfft. Die Forderung Hosenfelds nach Wahlen (zu der Frage der Schulform) sticht besonders heraus. Wie viele andere patriotisch gesinnte Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges mit konservativer Haltung war auch Hosenfeld gegen den Versailler Vertrag eingestellt und stand der Weimarer Republik bestenfalls reserviert gegenüber.
Sein schneller Eintritt in die SA, die positiven Äußerungen zu Hitlers Erfolgen auf internationaler Ebene und die Erleichterung über die Auflösung der Bestimmungen des Friedensvertrages, der auch von Hosenfeld als Diktat angesehen wurde, unterstreichen die Affinität zum NS-Regime. Ausgerechnet eine demokratisches Instrument zu fordern, wenn die Herrschenden etwas durchsetzen, was dem Tagebuchschreiber nicht passt, wirkt kurios.
Und doch ist es ein Fingerzeig, dass in diktatorischen Systemen Kritik an bestimmten Umständen nicht zu verwechseln ist mit grundlegender Kritik am System selbst. Im Gegenteil: Das zeitlich letzte Zitat zeigt, wie sehr sich Hosenfeld 1936 trotz recht scharfer Kritik an einer Maßnahme des Regimes als Teil der großen Gemeinschaft fühlt.
Der letzte Satz bezieht sich auf die Stimmung im Kaiserreich 1914, als es tatsächlich zu einer recht lange andauernden inneren Ruhe kam. Die Weimarer Republik galt dagegen als zerrissen, ein Kritik-Motiv, das die Nazis geschickt mit ihrer Volksgemeinschafts-Propaganda bedienten. In Kriegszeiten kommt Hosenfeld darauf oft mit kritischen Worten zurück.
Trotzdem zeigen einige von Hosenfelds Bemerkungen, wie wenig er tatsächlich Teil der »großen Gemeinschaft« war, sondern eher isoliert. Die Gemeinschaftsabende der SA und anderer Verbände ödeten ihn fürchterlich an, das Beifallsgebrüll, die Bierseligkeit und schulter- und sprücheklopfende Kameradschaft war ihm zuwider. Es wirkt, als wäre das Zitat vom September 1936, das Erleben einer »Gemeinschaft« nicht mehr als ein frommer Wunsch.
Die Juden haben nichts zu lachen, mich empört die rohe Behandlung. (16.09.1939)
Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten
Besonders schwere Irritationen ergaben sich für Hosenfeld, je weiter sich Hitlers Herrschaft etablierte und der Antisemitismus Teil der Lebensrealität wurde. Dem stand Hosenfeld ablehnend gegenüber, was auch für die rassistische Weltanschauung des Nationalsozialismus galt. Nach Kriegsausbruch wurde er in Polen Zeuge, wie Juden und die polnische Zivilbevölkerung misshandelt wurden, was ihn empörte und zu offenem Widerspruch herausforderte.
Besonders interessant sind die Passagen, in denen Hosenfeld von den Schwierigkeiten berichtet, die große Masse an gefangenen polnischen Soldaten halbwegs menschlich zu behandeln. Obgleich ihm daran lag, diese mit Nahrungsmitteln, Unterkünften, Medikamenten usw. zu versorgen und er alle Anstrengungen unternahm, war es im Chaos der ersten Tage faktisch unmöglich, das zu bewerkstelligen.
Natürlich ist Vorsicht geboten, aber Hosenfelds Haltung zu den Polen, auf die er mit einer gewissen paternalistischen und sehr deutschen Kultur-Überheblichkeit blickte, war geprägt von Achtung, Respekt und Menschlichkeit. Er meinte beispielsweise, die polnische Nation wäre verloren, das polnische Volk werde bestehen; ihm gefiel etwa die nationalstolze polnische Hilfskraft mit ihrer unverhohlenen Ablehnung gegenüber den Deutschen.
Wie gern bin ich Soldat gewesen, aber heute möchte ich den grauen Rock in Fetzen reißen. (10.11.1939)
Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten
Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass innerhalb einiger Monate die Stimmung Hosenfelds ins Negative kippte. Die Zustände im besetzten Polen, die Gewalttaten gegenüber der Zivilbevölkerung, die so genannten Umsiedlungen, die mitleidlos umgesetzt wurden und für großes Leid sorgten, haben ihn erschüttert. Aber Führerglaube und die Empfänglichkeit gegenüber der Propaganda blieben trotzdem!
Schon für die letzten Friedensmonate wirkt die Naivität Hosenfelds oft erstaunlich. Er ging der Propaganda buchstäblich auf den Leim. Ein Grund lag sicher in der Ablehnung des Versailler Vertrages, der die außenpolitischen Maßnahmen Hitlers als große Erfolge erscheinen ließ. Das öffnete der völlig falschen Ansicht, Hitler stehe zum Frieden, Tür und Tor. Noch drei Tage vor Kriegsausbruch dachte Hosenfeld, Hitler werde »jede Verhandlungsmöglichkeit ergreifen«.
Hosenfeld rechtfertigte den Krieg gegen Polen in einigen Schreiben. Auch als er bereits harsche Kritik am Besatzungsregime äußerte, stand er dem Krieg an sich und seinen propagandistisch orchestrierten Motiven aufgeschlossen gegenüber.
Das Leben des Soldaten Wilm Hosenfeld ist geprägt von seiner grundsätzlichen Offenheit gegenüber den Umständen und Menschen, seinem tiefen katholischen Glauben, der unstillbaren Sehnsucht nach seinem Zuhause, seiner Frau und seinen Kindern. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Briefe, auch die Unzufriedenheit mit seiner eigenen Situation und dem Versuch, sich irgendwie einzurichten.
Hitler hat selten eine so überzeugende Rede gehalten wie die vom 9. November. Er ist doch ein fabelhafter Mensch. (15. 11. 1940)
Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten
Hosenfeld war als Offizier – selbstverständlich – am Kriegsgeschehen und den außenpolitischen Aktivitäten in Europa interessiert. Er gab Kommentare ab, mit denen er zunächst oft völlig falsch lag. Das ist insofern sehr interessant, weil ein Zivilist wie Hermann Stresau in seinen Tagebüchern Als lebe man unter Vorbehalt neben einigen Irrtümern oft verblüffend stimmige Einschätzungen zu der Entwicklung abgab. Im Verlauf des Krieges wurden die Einschätzungen Hosenfelds viel realistischer, etwa 1942, als er die Chancen der neuen Ost-Offensive bemerkenswert illusionslos sah.
Die Kriegserklärung an die USA im Dezember wertete der Autor glockenklar als Menetekel für eine Niederlage Deutschlands. Er sprach von »Untergangsstimmung« und, dass er »in einer Ecke sitzen und die Wand anstieren« könne. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Begründung: Bei einer Einigkeit wie 1914 wäre es seiner Ansicht nach vielleicht möglich, zu bestehen; doch bestehe diese Einigkeit im NS-Deutschland nicht.
Verblüffend klar hob sich diese Meinung von der NS-Propaganda einer »Volksgemeinschaft« ab. Hosenfeld empfand diese angebliche Gemeinschaft nie , im Gegenteil machte er an vielen einzelnen Stellen klare Brüche aus. Wie das nachfolgende Zitat zeigt, übte er auf spektakuläre Weise Kritik am System, denn der Begriff »Abschaum« umfasst die Partei und ihre Gliederungen sowie sämtliche Formationen, die nicht an der Front kämpfen.
Amerika im Krieg mit der Achse. Die neue Welt hat den vorigen Krieg entschieden. Sie wird ihn auch diesesmal zu unserm Unglück entscheiden. […] Dieser Krieg ist für D[eutschland] eine gewaltige Gegenauslese: Die besten Männer bleiben auf dem Schlachtfeld, der Abschaum wird erhalten; damit wird das Gegenteil erreicht, was der Nationalsozialismus mit seiner Rassenlehre erreichen wollte. (Dezember 1941)
Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten
Nicht minder überraschend sind die zum Teil absurd naiv wirkenden Ansichten, etwa, dass die Geschichte »eben doch von einzelnen Genies gemacht« werde. Damit meinte er auch Hitler, obwohl Hosenfeld sehr genau wusste, was im Schatten dieses »Genies« an Verbrechen verübt wurde. Auschwitz war etwa im April 1942 bereits bekannt als »ein gefürchtetes Lager im Osten«, in dem die Gestapo die Menschen zu Tode quäle oder sie im Schnellverfahren in »Gaszellen« mit Gas töte.
Er wusste von den Foltermethoden, wusste von den vielen Unschuldigen, die dem ausgesetzt sind, wusste von der sinnlosen, kontraproduktiven Gewalt der Besatzungsmacht in Polen, mit der die Einheimischen immer stärker in den gewaltsamen Widerstand getrieben werden. In einem Tagebucheintrag am 17. April 1942 führte Hosenfeld eine Reihe von recht aktuellen Vorgängen in Warschau auf, die verdeutlichen, wie verheerend das alltägliche Wirken der Deutschen in Polen war.
Seine allgemein pessimistische Einschätzung gipfelte in einem hoffnungslosen Blick auf die militärische Lage, überhaupt erweist sich Hosenfeld zunehmend als realistisch, was die Kriegsaussichten anbelangt. Für den Leser erscheint es rätselhaft, warum Hosenfeld trotz derartiger Einsichten von Hitler als »Genie« spricht. Wenn dieser die Weltgeschichte bestimmte, wäre er eben für die von Hosenfeld beklagten Zustände verantwortlich und nicht nur der »Abschaum«, der sein Unwesen treibt. Auch dieser faktisch unauflösliche Widerspruch erscheint lehrreich.
Menschen sind widersprüchlich, inkonsequent und wechselhaft und möglicherweise gar nicht so hehr, wie oft dargestellt oder gewünscht. Hosenfeld war ein Schwärmer, ein Idealist, der seine in der osthessischen Provinz zusammengemaltes Bild an der harschen Realität zerschellen sah. Solche Wendungen vollziehen sich nur im Trivial-Roman bzw. -Film stringent, die historische (und gegenwärtige) Wirklichkeit ist anders, vielschichtiger, komplizierter, in sich durchaus gegenläufig.
Was hier in Warschau mit den Juden geschieht, das kannst du Dir nicht denken. Das ist, solange die Erde von Menschen bevölkert ist, sicher noch nicht dagewesen. Da verliert man jeden Glauben und jede Hoffnung. Wie tief sind wir gesunken. (1. August 1942 [Brief an die Ehefrau])
Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten
An manchen Stellen beklagte sich Hosenfeld über sich selbst, seine Untätigkeit, seine Ohnmacht, seine fehlende Courage. So sehr er mit sich ins Gericht ging, so wenig traf das auf die Realitäten zu. Das belegt bereits seine 1944 erfolgte Rettungstat, die Szpilman vor dem Tod bewahrte. Doch das war keineswegs die einzige Tat in dieser Weise. Wie aus dem begleitenden Text zu sehen, nutzte Hosenfeld seine Tätigkeit als Sport-Offizier, um für verschiedene Polen eine Art Schutzraum zu schaffen, die sie vor der Verfolgung bewahrte.
Es versteht sich von selbst, dass Hosenfeld davon in seinen Aufzeichnungen nichts berichtete. Das gilt erst recht für die Briefe, die der Zensur unterlagen. Zum Glück gibt es andere Quellen für dieses Wirken. Die Aufzeichnungen und Briefe zeigen eher, wer der Mensch hinter diesen Taten war. Eine unheroische Person, die den Leser mit ihren Schwankungen, Depressionen, Schwärmereien und manchmal auch hochfliegendem Pathos vor einige Zumutungen stellt.
Diese Herausforderung ist allerdings das Spektakuläre an diesem Buch. Eine historische Person tritt dem Leser in einer ganz ungewohnten Mehrdimensionalität entgegen, ohne die verzerrenden Reduzierungen und Fokussierungen. Hosenfeld war kein »Retter« per Geburt, er wurde dazu, peu á peu und aus ganz verschiedenen, durchaus widersprüchlichen Quellen gespeist.
Hosenfelds Sterben in sowjetischer Kriegsgefangenschaft ist ebenso tragisch wie passend, der rettende Deutsche wird Opfer des Stalinismus, des zweiten, menschenverachtenden Gewaltregimes des zwanzigsten Jahrhunderts. Sehr positiv an der Ausgabe sind die umfangreichen Anmerkungen, die auch Laien die Texte Hosenfelds verständlich machen, außerdem hilft der einführende Beitrag zum Leben, sich in der Fülle der Aufzeichnungen zurechtzufinden.
Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern Hrsg. von Thomas Vogel DVA 2004 Gebunden, 1.194 Seiten ISBN: 978-3-42105776-1
Eine neue Graphic Novel ist - mehr zufällig - eingetroffen. Sie befasst sich mit einem sehr spannenden Thema, auch wenn es dank Elon Musk oder der Girlie-Weltraumtouristen-Truppe immer wieder zu Irritationen kommt. Die Geschichte der Raumfahrt begleitet mich schon fast mein ganzes Leben, angefangen, als das Space-Shuttle noch als »Arbeitspferd der 80er Jahre« galt. [Rezensionsexemplar]
Verräter - Piratenbrüder Band 6 erscheint am 20. September 2025. Das eBookkann vorbestelt werden. Es wird exklusiv bei Amazon Kindle erscheinen und auch im Rahmen von Kindle Unlimited verfügbar sein.
Bücher begleiten mich schon mein ganzes Leben, auf dem Leseweg habe ich sehr viele großartige Romane und Sachbücher lesen dürfen, von denen ich gern erzählen möchte. Das ist ein Grund, warum ich blogge.