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Schlagwort: Faschismus (Seite 1 von 4)

Timothy Snyder: Über Freiheit

Gefängnisse in den USA sind Teil der Unfreiheit, so Timothy Snyder in seinem ebenso bereichernden wie herausfordernden Buch, das dem Leser reichlich Anlass zum Nachdenken bietet. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Die Maschinen (d.h. Algorithmen) sperren uns in festere Schubladen: ethnische Herkunft, Geschlecht, Einkommen, Wohnort; sie definieren uns durch unsere wahrscheinlichsten Zustände, durch das, was wir online oder unter Überwachung tun, nicht durch das, was wir auf Berggipfeln oder unter Wasser oder bei lauter Musik oder in unseren Träumen tun.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Es gibt Bücher, an denen führt kein Weg vorbei. Timothy Snyders Über Freiheit gehört für mich dazu. Seit der amerikanische Historiker sein Buch Bloodlands veröffentlicht hat, lasse ich mir gern vom ihm die Welt und seine Sicht darauf erklären. Bloodlands hat meine Perspektive auf Gegenwart und Geschichte derart nachhaltig und tiefgreifend verändert, wie es bei Büchern selten der Fall ist (Ganz normale Männer von Christopher Browning wäre ein anderes Beispiel), dass ich immer sehr gespannt bin, wenn etwas Neues von ihm veröffentlicht wird.

Über Freiheit  wäre ein Buch, das man FDP-Anhängern ganz dringend zur Lektüre empfehlen würde. Deren immer und überall postuliertes »Freiheit« ist hohl wie eine leere Dose, reduziert auf Fingerhutgröße und wird dem Begriff nicht gerecht. Die formelhafte Aushöhlung des Wortes wird in Über Freiheit schön aufgezeigt. Wie umfassend und durchaus vielschichtig »Freiheit« ist, zeigt sich schon auf den ersten Seiten des Buches. Auch wird deutlich, dass Synder es sich und seinen Lesern nicht leicht machen will.

Grundsätzlich ist man gut beraten, bei allem Gedankengut, das aus den USA über den Atlantik herüberschwappt, der Verlockung zu widerstehen, das eins zu ein auf Deutschland und Europa zu übertragen. Ein herrliches Beispiel ist die These, es gebe keinen Rassismus gegen Weiße. Selbst in den USA darf das bezweifelt werden, in Europa ist es schlichtweg falsch und zwar auf allen Bedeutungsebenen. Man braucht dazu nicht einmal den berüchtigten »Generalplan Ost« zu exhumieren, es reicht ein Blick auf das, was über die Ukraine und ihre Bewohner gesagt wird. Aus Russland, aber auch aus dem Westen, kommt eine Menge Rassismus, offenem und verdecktem.

Freiheit kann nicht gegeben werden. Sie ist kein Erbe. […] In dem Moment, in dem wir glauben, das Freiheit gegeben ist, ist sie weg.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Diese Vorsicht ist auch für Über Freiheit von Timothy Snyder angebracht. Wenn dort beispielsweise etwas über das wirtschaftliche und soziale System gesagt wird, meint es vor allem das der USA, nicht aber das der Europäischen Union und erst recht nicht das einzelner europäischer Staaten mit ihren vielfältigen Eigenheiten. Selbstverständlich gibt es globale Einflüsse, die besonders von den USA beeinflusst werden. Trotzdem gibt es dramatische Unterschiede und die sollte man immer im Hinterkopf haben.

Man sollte sich also einerseits davor hüten, die Kritik unreflektiert zu übertragen, andererseits auch keine Kritik am Buch selbst üben, weil das der eigenen Sicht des spezifisch deutschen respektive europäischen Systems widerspricht. Sonst landet man zwangsläufig bei Plattitüden auf der Ebene von »Kapitalismuskritik« oder »Globalisierungskritik«. Man sollte das ernst nehmen, denn nicht umsonst sagt Snyder sagt selbst über sein Vorhaben:

Ich wurde gefragt, wie ein besseres Amerika aussehen könnte. Dies hier ist meine Antwort.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Snyder beginnt sein Buch aber mit einer europäischen Perspektive. Das Vorwort von Über Freiheit ist im Zug von Kyjiw nach Westen geschrieben worden. Das ist in mehrfacher Hinsicht symbolträchtig, denn in der Ukraine entscheidet sich tatsächlich das Schicksal der gesamten Welt für die kommenden Jahre, eventuell Jahrzehnte. Hält die Ukraine dem russländischen Angriffskrieg stand, hält vor allem der Westen dem seit Jahren von Russland geführten hybriden Krieg gegen sein demokratisches und offenes System stand, dann wird vielleicht Schlimmeres abgewendet werden können. Ein Angriff Chinas auf Taiwan etwa, dessen Folgen derart dramatisch sein würden, dass die Turbulenzen aus dem Krieg Russlands recht bescheiden erscheinen mögen.

In der Ukraine wurden von der russländischen Armee im Jahr 2022 Gebiete besetzt und im gleichen Jahr von ukrainischen Streitkräften »befreit«. Snyder erzählt von Marija, einer 85 Jahre alten Dame, die in einer Notunterkunft bei Psad-Pokrovske lebt, nachdem die Invasoren vertrieben wurden.  Der Ort wurde befreit, sie wurde befreit – doch ist sie auch frei? Synder verneint. Er hält den Begriff »Befreiung« für irreführend, »Deokkupation«, wie ihn die Ukrainer gebrauchen, erscheint ihm passender. Denn so erst könnte man die Frage stellen, was eigentlich nötig ist, um »frei« zu sein. Konkret: Was fehlt Marija zur »Freiheit«?

Freiheit ist nicht nur die Abwesenheit des Bösen, sondern auch die Anwesenheit des Guten.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Snyders Mission ist, dem allzu oft gebrauchten, missbrauchten Wort »Freiheit« wieder Leben einzuhauchen, der bloßen Hülle ein Wesen zu geben. Er will den Begriff definieren. Seine amerikanischen (!) Landsleute gebrauchten den Begriff oft als Abwesenheit von etwas, von Besatzung, Unterdrückung, einer Regierung. Das nennt er »negative Freiheit«, der eine »positive Freiheit« gegenüberstellt. Das Begriffspaar wirkt zunächst schematisch und auch konturlos, die Beispiele aber, wie zum Beispiel Ukrainer Freiheit definieren, beinhalten allesamt etwas Positives.

In der Ukraine betrachten laut Snyder die Menschen Städte und Orte erst dann als befreit, wenn der Bahnverkehr wieder funktioniert. (Im Gegensatz sind die Ansiedlungen, die von russländischen Soldaten »befreit« wurden, zerstört.) Die Struktur ist also wiederhergestellt, doch muss sie erst gefüllt werden, um von Freiheit zu sprechen. Die Möglichkeit zur Mobilität ist ein zentraler Punkt für Freiheit, doch muss der Mensch sie auch selbst nutzen, um Freiheit zu erlangen. Sie ist weder einfach so da noch dauert sie an oder kann vererbt werden. Umgekehrt kann eine Voraussetzung für Freiheit bzw. Unfreiheit sehr wohl vererbt werden, Vermögen bzw. vererbte Armut.

Auf insgesamt sechs Feldern versucht sich Snyder dem Phänomen Freiheit anzunähern: Souveränität, Unberechenbarkeit, Mobilität, Faktizität, Solidarität und Regierung. Die Auswahl überrascht vielleicht, damit hätte das Buch den Punkt der »Unberechenbarkeit« schon mal erfüllt. Doch das ist nur die Form, die grobe Struktur, die Snyder mit durchaus verblüffendem Inhalt füllt. Der Autor mutet seinen Lesern einiges zu, etwa die nicht ganz einfache Unterscheidung zwischen »Körper« und »Leib«, bei der er auf die deutsche Philosophin Edith Stein und die französische Philosophin Simone Weil zurückgreift. Er wendet sich Politik-Bereichen zu, die von Macho-Politikern gern als »Gedöns« abgetan wurden und werden.

Eine Gesellschaft, der die Freiheit am Herzen liegt, würde diese Menschen [Care-Tätigkeiten wie Erzieherinnen, Lehrer, Pflegerinnen] mit Respekt behandeln und sie ordentlich bezahlen.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Für Snyder ist essentiell, dass Freiheit aus dem Menschen heraus erwächst und in die Welt hineinwirkt. Das Individuum ist dabei nie allein, isoliert, keine »Ich-AG«, sondern gerade in den ersten Lebensjahren auf andere zwingend angewiesen. Erst in der Verbindung zu anderen wird die Voraussetzung geschaffen, Freiheit und damit Autonomie entstehen zu lassen. Isolierte Kinder, wie sie die Realität tatsächlich kennt, können sich nicht entwickeln und auch nicht frei sein.

Snyders Ansatz ist auf den Menschen zugeschnitten und sehr persönlich ausgestaltet, zunächst spielen »große Politik« oder gar »Geopolitik« gar keine Rolle. Das politische System kommt dabei aber nicht zu kurz, wie der Rückgriff auf Václav Havel zeigt. Das Kapitel heißt »Unberechenbarkeit« und beschäftigt sich mit der Tyrannei durch Berechenbarkeit. Statt der bis 1968 bekannten brutalen Unterdrückung mit militärischen Mitteln setzten die Regime unter dem roten Banner des Kommunismus in der Zeit danach auf Bildschirme.

Wichtig ist dabei, dass diese Form der Unfreiheit nichts mehr mit der Ideologie von Marx, Engels, Lenin oder anderen kommunistischen Denkern zu tun hatte, sondern mit Breshnews Ziel, das seit 1945 bestehende Imperium zu erhalten. Die Bildschirme dienten demzufolge nicht dazu, sozialistische Ideen zu verbreiten, sondern die Konformitäts-Formeln zu streuen und den Zuschauern einzureden, es gäbe nur diese eine und sonst keine Form der politisch-sozialen Ordnung.

In den Führungszirkeln der Sowjetunion nach 1968 glaubte niemand mehr an Sozialismus, in den Rängen der Partei und ihrer Formationen sicher auch viele nicht. Lippenbekenntnisse statt Überzeugung dürften vielleicht auch für die Mehrheit der Menschen das Wesen ihres politischen Lebens gewesen sein. Allerdings hat Zustimmung und Nachbeten einen Haken, nämlich dass diese auf eine Form reduzierte, entleerte Normalität auf den Menschen rückkoppelt.

Sie [die Normalisierung] ist die Gewohnheit, das zu sagen (und dann zu denken), was notwendig erscheint, während man implizit (und dann explizit) übereinstimmt, dass nichts wirklich wichtig ist.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Das ist frappierend. Wenn nichts wichtig ist, dann ist alles egal und implizit durch fehlende Werte auch erlaubt. Das ist der Kern der Putin-Propaganda, die im Grunde genommen keine echte Propaganda mehr ist, sondern eine Weiterentwicklung. »Alles ist Scheiße« steht am Ende einer immer widersprüchlicher, einander letztlich ausschließender Flut von Informations-Müll, der »Lügenkaskaden« (Anne Applebaum). Ohne jeden moralischen Maßstab lässt sich alles rechtfertigen, der Zwang zur Rechtfertigung entfällt.

Über die Bildschirme heute flimmern nicht nur die TV-Programme wie zur Zeit von Václav Havel, auf den Nutzer stürzt eine unüberschaubare, überwältigende Flut an Informationen ein. Zu allem Gesagten kommt noch die rein quantitative Überforderung hinzu, mit der Folge, dass viele Zeitgenossen nicht mehr mit, sondern im Internet »leben« oder wie Snyder sagt: »im Bildschirm«.

Hinter dem, was wir sehen, stehen Algorithmen, die berechnen und berechenbar machen, was der Nutzer sieht; damit wird der Mensch berechenbar und verliert seine Freiheit, wenn man der Analyse von Snyder folgt. Die so genannten Sozialen Medien buhlen um Aufmerksamkeit, um Zeit und bedienen sich dabei jener Tricks, durch die einer Sucht verstärkt werden. Wie alle anderen Süchte ist das eine kurzzeitig bequeme Form, den Herausforderungen des wirklichen Lebens auszuweichen, eine dicke, dichte Schutzschicht zwischen sich und die Welt zu packen, wie es eine von OxyContin abhängige Künstlerin in Imperium der Schmerzen von Patrick Radden Keefe formulierte.

Berichten zufolge soll Mark Zuckerberg die frühen Nutzer von Facebook als »dumb fucks« bezeichnet haben, weil diese voller Vertrauen zu seiner Plattform gewesen seien. Das kann man als sprachliche Entgleisung eines überheblichen CEO sehen, man kann aber darin auch den Keim einer Entmenschlichung derjenigen sehen, die an die Versprechungen einer schönen, neuen Welt geglaubt haben. Das geschah ausgerechnet durch jenen, der das „Soziale“ Medium erschaffen hat und damit Geld scheffelt. Entwürdigungen dieser Art standen oft am Anfang von Entrechtung und Gewalt, der brutalen Form von Unfreiheit in Lagerwelten.

Freie Menschen sind berechenbar für sich selbst, aber unberechenbar für Machthaber und Maschinen.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Spätestens an diesem Punkt muss man als Leser doch innehalten und sich selbst, sein alltägliches Verhalten reflektieren. Den eigenen Umgang mit den Sozialen Medien, das Verhältnis von Bildschirmleben zu »Real Life«, bis hin zur Manipulierbarkeit. Bücher wie Über Freiheit sind in diesem Sinne unbequem gefährlich, denn sie können zu beunruhigenden Fragestellungen an sich selbst führen. Für mich  ist das eines der ganz großen Komplimente, die man einem Werk machen kann, und die Basis für eine dringliche Leseempfehlung.

[Rezensionsexemplar]

Timothy Snyder: Über Freiheit
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
C.H.Beck 2024
Gebunden, 410 Seiten
ISBN: 978-3-406-82140-0

Andreas Pflüger: Ritchie Girl

Ein intensiv erzählter Roman über die Nachwehen des Zweiten Weltkrieges. Cover Suhrkamp, Bild mit Canva erstellt.

Bei der Lektüre des Roman Ritchie Girl von Andreas Pflüger hat mich manchmal erstaunt, wie sehr dieser Roman von der Gegenwart zu erzählen scheint. Seit Russland seinen genozidalem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, gehen sie doch wieder um, die »Geister der Vergangenheit«, die gar nicht mehr so geisterhaft ihr blutiges Handwerk betreiben.

Im Gegensatz zum Vernichtungskrieg der Wehrmacht findet dieser vor aller Augen statt, für jeden unübersehbar. Umso bitterer, dass »Wegschauen, Schulterzucken« wieder in Mode sind, ebenso die larmoyante Kriegsmüdigkeit, das Folgen von Lügen und Propaganda – aus vielerlei Gründen. Wer sich fragt, die »das« damals geschehen konnte, bekommt Antworten präsentiert, die sehr unbequem und ernüchternd sind.

Das wirkt zurück auf die Betrachtung der Nazi-Zeit und auch zu dem, was Pflüger in seinem Roman vor dem Leser mit hoher Erzählintensität ausbreitet. Die Geschichte entfaltet sich aus der Sicht einer US-Amerikanerin namens Paula Bloom, die gegen Kriegsende nach ihrer Zeit im Camp Ritchie nach Europa zurückkehrt. Sehr intensiv erfährt der Leser das Grauen des Krieges auf den ersten Seiten, der gruseligen Überfahrt folgen grausame Eindrücke hinter der nach Norden vorrückenden Front in Italien.

Paula hat eine ungewöhnliche Biographie. Sie ist die Tochter eines Amerikaners, der in Berlin während 1930er Jahre lebte und arbeitete. Für US-Firmen, die mit deutschen Unternehmen gute Geschäfte machten, auch mit den später berüchtigten IG Farben. Moral stand hinten an, wie heute, wenn Sanktionen gegenüber Russland umgangen werden und Hochtechnologie aus dem Westen dem Aggressor ermöglicht, Krieg zu führen.

In Italien macht Paula als Übersetzerin Bekanntschaft mit einem SS-Offizier und begegnet Georg wieder, einem deutschen Offizier, an den sie ihr Herz verloren hat. Eine wildbewegte Geschichte entspannt sich, denn noch vor der Kapitulation der Deutschen wetterleuchtet der Kalte Krieg am Horizont, neue Bündnisse entstehen, Feinde, auch hochbelastete Täter aus dem Vernichtungskrieg werden wieder interessant.

Die Widersprüchlichkeit gleichzeitiger Entwicklungen, der Nürnberger Prozess und der Rückgriff auf deutsches Personal, die oft zynisch erscheint, durchzieht den gesamten Roman wie ein Bittermandelaroma. Paula wird auf einen aus Österreich stammenden Juden angesetzt, der als Top-Spion der Nazis galt. Sie soll ihm auf den Zahn fühlen, herausfinden, ob dieser Johann Kupfer lügt oder ein wertvoller Geheimdienstmann sein könnte.

Die Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht verwickelt, eine einfache Haltung einzunehmen ist für die handelnden Personen unmöglich, wie Paula zu spüren bekommt. Ihre eigene Vergangenheit, das erstickende Gefühl von Schuld wegen ihres Vaters und einer jüdischen Freundin, aber auch ihre noch immer glimmenden Gefühle gegenüber Georg holen sie ein. Ganz nebenbei erzählt Ritchie Girl auch von dem starken Gefälle zwischen Männern und Frauen in dieser Zeit, der latente und strukturelle Rassismus der US-Streitkräfte wird auch nicht verschwiegen.

Der Roman ist sehr unterhaltsam und spannend zu lesen, man fliegt durch die Seiten, vor allem, wenn die Zeitgeschichte und die handelnden Personen bekannt sind. Denn das Personentableau ist üppig geraten, der Erzählstil wirkt manchmal etwas flüchtig und ruppig, was allerdings der Handlungsdynamik sehr zugute kommt.

Beindruckend und erschütternd sind und bleiben die fürchterlichen Wechselfälle des Lebens unter der Knute von SS, Wehrmacht und Kollaborateuren während des Krieges; ebenso das, was Entnazifizierung genannt wurde, aber in vielerlei Hinsicht nicht war. Mit dem Ende konnte ich hingegen nur wenig anfangen, einige Dinge, wie das Schicksal Georgs und Kupfers, wirken inkonsequent. Das ist gemessen am gesamten Roman letztlich eine Petitesse.

Andreas Pflüger: Ritchie Girl
Suhrkamp 2022
Taschenbuch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-518-47267-5

Richter / Kretschmer: Die Sieben Leben des Stefan Heym

Ein bewegtes Leben voller radikaler Wendungen und Brüche, immer politisch und historisch sowie literarisch hochproduktiv. Cover C.Bertelsmann, Bild mit Canva erstellt.

Es dürfte nicht allzu oft vorkommen, dass ein Gedicht Gegenstand einer Debatte im Landtag wird. Stefan Heym alias Helmut Flieg ist dieses Kunststück gelungen, es hat ihm allerdings weder Ruhm noch Ehre eingetragen. 1931 hat er ein Poem unter dem Titel Exportgeschäft veröffentlicht, das in der »Chemnitzer Volksstimme« abgedruckt wurde. Dafür hat er ein Honorar von dreißig Reichsmark erhalten und ist von der Schule geflogen.

Die »Sektion Chemnitz Mitte der NSDAP« forderte den Verweis des Schülers, die bedrückenden Illustrationen unterstreichen, wie sehr die Gedicht-Zeilen Empörung und Wut in bestimmten Kreisen hervorriefen: Aufgestachelte Leser, Schulpersonal und Schüler, die den »Schmierfink« körperlich traktierten, wobei es wenig hilfreich war, dass Helmut Flieg als Jude galt.

Ich benutze diese leicht gewundene Formulierung, um deutlich zu machen, dass »Jude« in den 1930er Jahren auch eine Zuschreibung von außen auf Menschen war, die gar keine Juden sein wollten bzw. im Leben nicht darauf gekommen wären, »jüdischer Abstammung« zu sein oder als »Jude« zu gelten. Die Nationalsozialisten haben viele Menschen erst zu Juden gemacht und – ganz wichtig – darauf reduziert. Helmut Fliegs Judentum ist eher weltlicher Natur gewesen.

Die Eltern bzw. der Familienrat, dem der Betroffene selbst gar nicht angehörte, beschlossen, dass der junge Dichter nicht auf der Schule und nicht in Chemnitz bleiben könne; das bildete den Auftakt zur ersten Flucht Fliegs / Heyms, diesmal noch innerhalb Deutschlands: Er zog nach Berlin. Mit dabei eine Schreibmaschine, die er für das Honorar gekauft hatte, und die ihm über viele Jahrzehnte während aller folgenden Fluchten treu blieb.

Wir exportieren! Wir exportieren!
Wir machen Export in Offizieren!
Wir machen Export! Wir machen Export!
Das Kriegsspiel ist ein gesunder Sport!

Der Anfang von Helmut Fliegs Gedicht: Exportgeschäft

Der Auslöser für das Spektakel, das Gedicht Exportgeschäft, ist in Die Sieben leben des Stefan Heym abgedruckt, wie viele andere auch. Sie sind für sich genommen nicht unbedingt Gipfelstürmer der Poesie, beeindrucken aber dennoch, weil sie großartig zu den Illustrationen passen und diese zu ihnen. Wenn Flieg einige Dutzende Seiten später Deutschland verlassen und nach Prag fliehen muss, sind die gedichteten Zeilen ganz wunderbare Spiegel seines Inneren.

Flieg / Heym ist immer politisch gewesen, so auch bei seiner literarischen Feuertaufe: Exportgeschäft befasst sich mit der militärischen Zusammenarbeit des Deutschen Reichs und Chinas, das neben Waffen, Ausrüstung und Ausbildung auch den »Export« von Offizieren vorsah. Das ist übrigens der Grund dafür, warum chinesische Soldaten auf Bilder aus dieser Zeit oder in Filmen wie John Rabe irritierenderweise Wehrmachtsstahlhelme tragen. In den 1930er Jahren hat Hitler entschieden, statt auf China lieber auf Japan zu setzen.

Chinesische Soldaten mit deutschen Stahlhelmen.

Kurz nach der Machtübertragung an Adolf Hitler floh Helmut Flieg nach Prag, unter dramatischen und prekären Umständen. Dort wird er zu Stefan Heym, ein Deckname zunächst, dann ein Pseudonym und wohl auch eine neue Identität. Es ist erstaunlich, wie sehr das Leben von Flieg / Heym mit den politisch-historischen Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts verknüpft ist und genau darin liegt ein ganz großer Vorzug dieser wunderbaren Graphic Novel.

Didaktisch ist das Buch sehr gut aufgebaut, der Leser ist (dank erklärender Kästchen, einem Zeitstrahl mit Ortsangabe) gut orientiert. Das Buch wirkt dabei sehr ausgewogen, erfreulicherweise wird der nämliche Anteil rechtsradikaler Serben an dem Weg in den Ersten Weltkrieg, wie ihn Christopher Clark in Die Schlafwandler herausgearbeitet hat, genannt, statt nur von deutscher Kriegsschuld zu schwadronieren.

Auch die fürchterlichen Abgründe in Stalins Reich bleiben nicht unerwähnt. Das ist in vielfacher Hinsicht wichtig, weil linke Intellektuelle in Westeuropa lange an einem Phantombild der Sowjetunion festhielten, Arbeitslager (Gulag), Massentötung, Erschießungen und gezielte Hungernöte mit Millionen Toten (Holodomor, Ascharschylyq) sowie die aggressive, militärische Expansion einfach ignorierten.

Die Nase rümpfen muss ich allerdings bei der Erwähnung des späteren Korea-Krieges, hier wird der Eindruck vermittelt, der ginge allein auf die USA zurück, denen auch noch die Brutalität des Krieges und die zivilen Kriegsopfer zugeschrieben werden – was tatsächlich Unfug ist. Die Autoren haben ihren Band so gestaltet, dass sie vor allem Heyms Texte sprechen lassen – möglicherweise hätte hier deutlicher werden müssen, dass es sich um die spezifische Sicht des Autors handelt.

Nachdem die USA in Korea einen für Stefan Heym unerträglichen und brutalen Krieg mit Millionen ziviler Opfer geführt hatten […], [gab] er sein Reserveoffizierspatent und seinen  Orden mit der Begründung zurück, dass dieser durch den ungerechten Krieg gegen das koreanisch Volk entehrt worden sei.

Richter / Kretschmer: Die Sieben Leben des Stefan Heym

Konsequent ist allerdings, dass Heym trotz seiner US-Staatsbürgerschaft, der Ablehnung, die ihm in Europa, namentlich Prag, Warschau und Moskau entgegengeschlagen ist, seine militärische Auszeichnung zurückgab. Diese Unangepasstheit setzte ihn zwischen alle Stühle, mit einer bemerkenswerten Beharrlichkeit hat der Autor an jedem Ort der Welt gegen das aufbegehrt, was ihm an den Lebensverhältnissen misshagte, sei es in den USA, sei es in der DDR.

So entstand ein Lebensweg, der bereits 1945 mit derart vielen dramatischen Wendungen versehen war, dass der Titel Die sieben Leben des Stefan Heym mehr als berechtigt erscheint. Es handelt sich tatsächlich um eine Novel, denn oft kommen Teile seines Werkes zu Wort, was in Kombination mit den wirklich großartigen Illustrationen einen Einblick in das Denken des Autors erlaubt.

Mir hat das Bild auf dem Cover besonders gut gefallen. Es wirkt, als stellte es den Einzelnen im (Mahl)Strom der Geschichte dar. Das mag etwas arg pathetisch klingen, doch trifft es das Leben des Schriftstellers recht gut, denn bei allem Engagement, bei allem Aufbegehren und Kämpfen, waren die Umstände immer mächtiger.

[Rezensionsexemplar]

Richter / Kretschmer: Die Sieben Leben des Stefan Heym
C.Bertelsmann 2024
Graphic Novel
Hardcover, 280 Seiten
ISBN: 978-3-570-10471-2

Volker Kutscher: Marlow

Ein großartiger Kriminalroman vor einer bedrückenden historischen Kulisse ist Volker Kutscher mit »Marlow« gelungen, dem siebten Fall von Gereon Rath. Cover Piper, Bild mit Canva erstellt.

Den Lesern der Romanreihe um den Kriminalkommissar Gereon Rath ist der Name Marlow natürlich bekannt. Dr. M, Unterweltboss in Berlin, undurchsichtig, durchtrieben, gnaden- und gewissenlos agierend, wobei er sich korrupter Polizisten bedient, um seine Ziele zu erreichen. Eines seiner besonderen Kennzeichen ist jener Chinese, der ihm als Chauffeur dient.

Wenn der siebte Teil der Reihe nun den Namen des Gangsters als Titel trägt, weckt das einige Erwartungen. Aus dem Vorgängerband klingt noch das Echo der Ereignisse nach, die Rath an und über seine Grenzen gebracht haben, ein erbarmungsloses und brutales Machtspiel hat ihn in die Enge getrieben, aus der er nur mit Mühe herausgekommen ist.

Rath hat beruflich und privat Federn gelassen und feststellen müssen, dass seine Beziehungen zur Unterwelt mindestens ebenso problematisch sind wie die neuen Spielregeln unter dem Hitler-Regime. Andere kommen mit den politischen Umwälzungen unter den Nazis besser zurecht. Johann Marlow beispielsweise scheint tatsächlich noch nicht aus dem Spiel zu sein.

Ist er auch nicht, so viel darf an dieser Stelle wohl verraten werden. Um den Namen „Marlow“ hat Kutscher eine wirklich schöne Geschichte gesponnen, die zurückreicht in den Ersten Weltkrieg und die koloniale Zeit davor, als Deutschland in Afrika, dem Pazifik und eben auch China koloniale Gebiete besaß. Der Chinese in Marlows Fahrdienst ist nicht vom Himmel gefallen, das „Doktor“ vor dem »M« auch nicht.

Bei den Sanitätern kennt man den Tod nur als den der anderen.

Volker Kutscher: Marlow

Jeder habe seine Geschichte, heißt es immer, wenn es darum geht, eine Erklärung für Verhaltensweisen von Menschen zu finden. Das gilt auch für Romanfiguren wie Marlow, dessen Härte auf Zeiten zurückgeht, die im historischen Bewusstsein der Gegenwart gar keine Rolle mehr spielen. Wer weiß denn noch, wie deutsche Freikorps im Baltikum nach 1918 wüteten?

Es gehört zu den wunderbaren Eigenschaften der Romane um Gereon Rath, dass der Leser immer wieder mit diesen halb vergessenen historischen Umständen konfrontiert wird, ohne dass der Kriminalroman zu einer drögen Geschichtsstunde ausartet. Marlow erzählt davon, wie jemand in der Schmiede aus Krieg, Landsknechtdasein, grausamer Disziplin und emotionaler Kälte zu einem brutalen Ganoven wird.

Aus den vielschichtigen Spiel und Gegenspiel des Vorgängerbandes Lunapark ist die Hauptfigur Rath nicht unbeschadet hervorgegangen, das gilt auch für seine Frau Charlotte und in gewisser Hinsicht auch für ihren Pflegesohn Friedrich. Erfreulicherweise ist es Kutscher gelungen, das fortzuschreiben.

Ein subalterner Kollege blafft Rath ungewohnt offen wegen seiner Art an, seine Sekretärin sagt ihm daraufhin die Meinung, was bislang vor allem seine eigene Frau getan hat. Das setzt sich in Marlow auch fort, allerdings nimmt die Schärfe zu. Deutschland ist ein Unrechtsstaat, gelenkt von Verbrechern, viele suchen das Weite, andere beginnen, die Möglichkeit zu erwägen, um der sich ausbreitenden Dunkelheit zu entfliehen.

Einer musste es Ihnen ja mal sagen.

Volker Kutscher: Marlow

Rath wird am Anfang der Erzählung zu einem Verkehrsunfall gerufen, eigentlich ein Fall für weniger qualifiziertes Polizeipersonal, doch ein Unfallzeuge behauptet, es habe ein Mordversuch auf ihn stattgefunden. Zur Klärung wird der in Ungnade gefallene Kommissar Rath ausgewählt, eine undankbare Aufgabe.

Dank leichtfertiger Neugier unterläuft ihm jedoch ein Lapsus, denn der angebliche Unfall war keiner, wie der Leser schon im Prolog erfährt, aber auch nicht der vom übereifrigen Zeugen vermutete Mordanschlag, sondern eine gezielte Tötung. Ein Zufallsfund brisanter Dokumente im schrottreifen Auto bringt Rath in eine unschöne Lage, die er zunächst einmal mit einem Trick bereinigen kann.

Ein Irrtum, wie sich zeigt, denn der Kommissar wird immer tiefer in eine lebensgefährliche Auseinandersetzung zwischen Himmlers SS / SD und Göring verwickelt. Bei der Ausschaltung der SA zogen die Kontrahenten noch an einem Strang, doch im NS-Deutschland kämpfen die Ränge hinter Hitler um die Macht, ein Konflikt der neuen Eliten, der ohne jede Gnade mit größter Rücksichtslosigkeit geführt wird.

Die erste Ahnung, etwas falsch gemacht zu haben, überkam ihn, als er den Aufdruck »Geheime Reichssache« auf den beiden Aktenmappen las, die er aus dem braunen Umschlag zog.

Volker Kutscher: Marlow

Rath versucht auch hier lange Zeit, sich durchzulavieren, was jedoch schwieriger wird, weil die Skrupellosigkeit seiner Gegenspieler die Spielräume schrumpfen lässt. Nolens volens muss er  nach Nürnberg fahren, der Stadt der Reichsparteitage und pompösen Aufmärsche, um eine haarsträubende Wiederbeschaffung der Akten durchzuführen, notdürftig getarnt vom Besuch seines Sohnes Friedrich, der mit der Hitlerjugend dorthin marschiert ist.

Dabei macht Rath eine erschütternde Erfahrung, als er Zeuge wird, wie Hitler im Auto an Spalier stehenden Volksmassen vorüberfährt und alles in ekstatischen Jubel ausbricht – der eigentlich unpolitische Kommissar wird davon mitgerissen. Eine gespenstische Szene, die so gut gelungen ist, dass der Leser den gewaltigen Sog zu spüren glaubt, dem sich der Protagonist nicht entziehen kann.

Er reißt wie alle anderen den Arm in die Höhe, immer wieder, »und dann hörte er, wie das Wort »Heil!« aus seinem Mund kam.« Rath versteht die Welt und vor allem sich selbst nicht mehr. Niemand hat ihn dazu gezwungen, den blutigen Gruß zu entbieten, niemand auf ihn geachtet, denn der vorüberfahrende Hitler hat alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie ein Schwarzes Loch im Weltall alles Licht. Trotzdem hat Rath sich hinreißen lassen.

Er, Gereon Rath, der in Berlin den Deutschen Gruß verweigerte und verschlampte, wo immer das nur möglich war, stand hier in Nürnberg am Straßenrand und riss getragen von der Masse und ihrem Rhythmus in einem fort den rechten Arm hoch.

Volker Kutscher: Marlow

Der NS-Staat etabliert sich, durchdringt auf propagandistische oder gewaltsame Weise den Alltag der Deutschen, die sich ihm immer schwerer entziehen können. Das ist möglicherweise die eigentliche Geschichte, die Kutscher en passant erzählt. Dabei sind die Ereignisse schwerwiegende genug, denn auch Charlotte Rath ist als Privatermittlerin und Anwaltsgehilfin mit Fällen befasst, die von der dunklen Zeit bestimmt werden.

Vor allem aber holt Charly die eigene Vergangenheit ein, denn die ist mittelbar mit dem Fall Raths eng verwoben, aber auch mit dem, was der ehemalige Oberkommissar und jetzige Privatermittler Böhm mit sich herumträgt – die „Kellergeister“, Fälle, die Polizisten nicht wieder loslassen wollen. Alles verstrickt sich immer weiter ineinander, dank der Umstände und schrumpfenden Spielräume ist eine „Lösung“ ferner denn je.

Auch Gereon Rath hat seine Kellergeister – einer davon ist Johann Marlow, der ihn seit vielen Jahren als nützlichen Polizisten schmiert und für seine Zwecke ausnutzt; davon hat auch Rath etwas, oft war ihm der Kontakt in die Unterwelt hilfreich. Die Nazis haben eigentlich dem Verbrechen den Kampf angesagt, doch kann ein Verbrecherregime, das seine Gegner in Mafia-Manier liquidiert, ernsthaft dieses Ziel verfolgen?

Was Rath da in seinen Händen hielt, war eine akkurat auf den Bügel gehängte SS-Uniform.

Volker Kutscher: Marlow

Das ist die übergeordnete Frage, die sich bei der Lektüre immer wieder stellt. Kann man überhaupt »anständig« bleiben in einem verbrecherischen System? Kann man sich darauf zurückziehen, nur Polizist zu sein, kein Nazi? Rath hat in Nürberg eine erschütternde Antwort bekommen, aber auch Böhm, Gennert und Charlotte müssten sich diese Frage stellen. Geben sie sich nicht einer Illusion hin?

Johann Marlow jedenfalls hat einen sehr konsequenten Weg beschritten, sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren. Kurioserweise war er bereits außer Landes, doch hat er in den USA nicht reüssieren können und ist zurückgekehrt. Auf seine Weise profitiert er vom Unrechtsstaat, gewissen- und skrupellos, wie er ist. Dabei gerät er mit Gereon Rath aneinander, eine Zweckgemeinschaft zerbricht und es wird für den Protagonisten höchst bedrohlich.

Da noch drei weitere Romane folgen, ist es keine Überraschung, dass Rath am Ende davonkommt. Mit heiler Haut? Wohl kaum. Kutscher inszeniert das Finale von Marlow mit einem tollen erzählerischen Kniff, der diebische Freude aufkommen lässt, bis ganz am Ende das böse Erwachen folgt. Eigentlich möchte man nichts mehr, als sofort in den nächsten Band einzutauchen – doch das ist schon der drittletzte und der letzte lässt wohl noch auf sich warten. Also: Geduld.

Weitere Romane der Buchreihe:
Volker Kutscher: Die Akte Vaterland.
Volker Kutscher: Märzgefallene.
Volker Kutscher: Lunapark.
Volker Kutscher: Olympia.
Volker Kutscher: Transatlantik.

Volker Kutscher: Marlow
Piper Verlag 2018
Gebunden 518 Seiten
978-3492055949

Volker Kutscher: Lunapark

Berlin, 1934. Ein toter SA-Mann; Machtkampf zwischen SA und SS; »Röhm-Putsch«, es herrscht das Recht des Stärkeren. Mittendrin Gereon Rath, in einer selbst gestellten Falle. Aus diesem Gemenge kommt keiner unbeschädigt davon. Cover KiWi, Bild mit Canva erstellt.

Jenseits der Mitte des Romans hat Reinhard Heydrich seinen Auftritt und die Tonart der Erzählung ändert sich. Lunapark von Volker Kutscher rutscht wie die Gesellschaft des Deutschen Reiches 1934 und die Protagonisten immer tiefer hinein in die Dunkelheit eines zutiefst menschenverachtenden Regimes, das zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr so einfach aus dem Sattel zu heben war.

Kommissar Gereon Rath wirkt äußerlich und in seinen Handlungsmustern wie gewohnt, Extratouren ohne Rücksicht auf die Vorgesetzten, Kommunikation und Rapport werden sporadisch erledigt, hinter einer Nebelwand geht der Ermittler sehr eigene Wege, die keineswegs nur mit dem Fall zu tun haben. Seine politische Haltung irrlichtert unverändert zwischen Leichtfertigkeit und Ahnungslosigkeit. Doch etwas hat sich  grundlegend gewandelt.

Der Tote, der die Handlung in Gang bringt, ist ein SA-Mann; ein Mord, der allein deswegen schon über das hinausragt, was die Kriminalpolizei gewöhnlich zu bearbeiten hat. Doch in diesem Fall liegt der Tote zu Füßen eines Graffitis, das unverkennbar die Handschrift von Kommunisten trägt, denn es ruft zum Widerstand gegen das Nazi-Regime auf.

Gräf und all die anderen hier im Raum waren nicht an der Wahrheit interessiert, sondern nur daran, Kommunisten zu jagen.

Volker Kutscher: Lunapark

So treffen sich am Tatort Kripo und Gestapo – in Person von Gereon Rath und Reinhold Gräf, dem ehemaligen Kollegen, der dem Ruf der Politischen Polizei gefolgt ist und dort Karriere machen will. Rath hat in Märzgefallene bereits Bekanntschaft mit der Staatspolizei gemacht, wie der Leser weiß er um die Machenschaften dieser Behörde, deren Zuchtrute die Angst ist.

Heinrich Himmler hat den regimeinternen Machtkampf gegen Herrmann Göring gewonnen und damit begonnen, die Polizei unter seine Kontrolle zu bekommen; so wird aus der Politischen Polizei die Gestapo und so kommt Heydrich in Berlin zu seinem Auftritt. Der Leser weiß ja schon: 1934 ist das Jahr des so genannten »Röhm-Putsches«, in dessen Verlauf die SA-Führung brutal ermordet wird und unliebsame Zeitgenossen ebenfalls sterben müssen.

Kutscher hat es wieder geschafft, einen historischen Meilenstein äußerst geschickt in die Handlung einzuflechten, wie schon Preußenschlag, Reichstagsbrand und Bücherverbrennung, ohne dass der Roman zu einer drögen Geschichtsstunde verkommt; die Spannung führt den Leser am Gängelband. Der Kniff: Kutscher verwischt ebenso gekonnt wie radikal die gewohnten Grenzziehungen zwischen Recht und Unrecht, Gut und Böse.

»Rath fragte sich, wer noch alles an dieser katholisch-kommunistischen Verschwörung beteiligt sein mochte.«

Volker Kutscher: Lunapark

Lunapark geht dabei noch einen entscheidenden Schritt weiter als die vorangegangenen Teile der Romanreihe. Wer während des Lesens einmal innehält und versucht, die Handelnden, ihre Motive und Mittel nach moralischen Maßstäben zu ordnen, blickt auf ein unentwirrbares Knäuel; alles ist gründlich durcheinandergeraten. Der Versuch, nach dem Freund-Feind-Schema zu sortieren, verheddert sich hoffnungslos.

Für den notorischen Lavierer Rath immer schwerer wird, sein (Über-)Lebenskonzept erfolgreich weiterzuführen. Das liegt auch daran, dass die Hauptfigur eine unlautere Vergangenheit hat, die ihn in diesem Roman einholt, selbstverständlich eng verknüpft mit dem »Fall«, der so auch für ihn eine ganz persönliche Ebene bekommt, dazu eine lebensbedrohliche, denn der Kommissar findet sich in einer Zwickmühle wieder.

Rath antwortete mit dem schlampigen Hitlergruß, den er sich in den vergangenen Monaten angewöhnt hatte, und nuschelte sein »Heil!«

Volker Kutscher: Lunapark

Als wäre das nicht genug, geht es auch in der Familie Raths kompliziert zu: Adoptivsohn Fritze möchte zur HJ, was auf erbitterten Widerstand von Charlotte stößt, die unliebsame Bekanntschaft mit den Methoden der Nazis, namentlich der SA macht. Bruchlinien tun sich auf, das Lavieren mündet in handfesten Lügen, die üble Folgen zeitigen können. Die familiären Tischszenen sind sehr authentisch und lassen den Leser – bei allem Drama – oft schmunzeln.

Das Schmunzeln vergeht jedoch, als der Thrill seinem Scheitelpunkt entgegenstrebt. Nicht allein die haarsträubende Showdown-Szene ist dafür verantwortlich, sondern das, was dem folgt: Aus Bruchlinien werden handbreite Risse, familiär, beruflich und persönlich. Der sechste Band der Reihe entwickelt seine Protagonisten so weiter, dass der Leser gern sofort zum nächsten Teil greifen möchte – ein Vorzug, wenn man spät zur Party kommt und fast alle bereits erschienen sind.

Groß ist Lunapark aber wie die Vorgängerbände wegen der Atmosphäre. Die Bedrückung, das Ducken, heimliche Spucken, lautlos und ängstlich, während andere sich dem Regime andienen, machen einen großen Teil dessen aus, was den Leser unter Spannung setzt. 1934 ist es für fast alles zu spät, das Kind liegt im Brunnen, Recht ist nur noch das des Stärkeren; wie ein Endzeitroman warnt Lunapark auch vor dem, was (wieder) kommen könnte.

Vor allem ist Lunapark aber ein handfester Kriminalroman mit vielen überraschenden Wendungen, sehr spannenden Szenen und Schockmomenten, Spiel und Gegenspiel und Gegengegenspiel, in dem viele von gegensätzlichen Interessen getriebene Akteure in der Arena einer Millionenstadt gegeneinander antreten, über der jener Schatten immer tiefer wird, der für immer mit dem Begriff Nationalsozialismus verbunden ist.

Weitere von mir besprochene Romane der Buchreihe:
Volker Kutscher: Die Akte Vaterland.
Volker Kutscher: Märzgefallene.
Volker Kutscher: Marlow.
Volker Kutscher: Olympia.
Volker Kutscher: Transatlantik.

Volker Kutscher: Lunapark
KiWi 2018
TB 560 Seiten
ISBN: 978-3-462-05161-2

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