Schriftsteller - Buchblogger

Kategorie: Buchvorstellung (Seite 1 von 29)

Thomas Meyer: Hannah Arendt

Umstritten wie kein anderes Buch von Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Die sprichwörtliche »Banalität des Bösen« ist von vielen Seiten kritisiert worden. Das schmale Buch von Thomas Meyer widmet sich vor allem den Werken Arendts, ihrem Leben und der Rezeption.

Bald ist es ein halbes Jahrhundert her, dass Hannah Arendt im Alter von 69 Jahren verstarb. Seit 1975 ist derart Epochemachendes, Disruptives und Weltumstürzendes geschehen, dass die Feststellung von Thomas Meyer wundert, Werk und Denken Arendts werde bis in die Gegenwart zitiert und zu Analysen herangezogen. War sie also am Ende eine zeitlose oder zumindest nicht auf das zwanzigste Jahrhundert beschränkte Denkerin, wie der Untertitel nahelegt?

Die Frage lässt sich nach der Lektüre des schmalen Büchleins über Arendt ebensowenig beantworten, wie die, was eigentlich jener zum geflügelten Wort gewordene Untertitel „Banalität des Bösen“ genau meint. Dazu ist – eigentlich keine Überraschung – das Studium der Werke Arendts nötig. Auch das, was die zahllosen Kritikerinnen und Kritiker geäußert haben, muss gelesen werden, um die Basis für eine Einschätzung zu legen. Den Anspruch hat ein Buch diesen Umfangs nicht.

Thomas Meyer bringt seinen Lesern den Lebensweg und die dabei entstandenen Werke Hannah Arendts näher. Dramatische Umstände, wie die Internierung in Frankreich und der Flucht vor dem Zugriff der Gestapo werden nur in einem knappen Absatz geschildert – mir ist das durch die schöne Graphic Novel Die drei Leben der Hannah Arendt von Ken Krimstein vertraut. Meyers Fokus liegt auf den Werken. Diese sind oft eng verknüpft mit dem, was die Autorin als Zeitgenossin aktiv miterlebte: Verfolgung, Flucht, Exil, Rückkehr, der Prozess gegen Eichmann in Jerusalem.

Der Name, der immer mit Hannah Arendt verbunden sein wird, ist Martin Heidegger. Recht typisch für eine untergründige, oft auch offene Frauenfeindlichkeit ist, dass in der Diskussion über Arendt immer wieder auf die intime Beziehung zwischen Lehrendem und Schülerin angespielt wird. Umgekehrt spielt das bei der Einschätzung von Heidegger keine oder nur eine untergeordnete Rolle.

Dabei ist das intellektuelle und persönliche Verhältnis durchaus ein interessantes Thema, wie Meyer zeigt, denn Arendt hat nach 1945 keine eindeutige Haltung zu Heidegger eingenommen. Das mag in der Gegenwart, in der Haltung zeigen oft eine größere Rolle als inhaltliche Stichhaltigkeit zugesprochen wird, noch mehr verwundern und Kritik herausfordern.

Man kann sagen, dass Arendts ganzes Denken ihrer bewussten Zeitgenossenschaft entstammt.

Thomas Meyer: Hannah Arendt

Während der Lektüre von Hannah Arendt wird klar, wie vielfältig (und unbekannt) das Werk der Denkerin ist. Weber schildert die Entwicklung von Person und Denken parallel zu den Veröffentlichungen. Der Liebesbegriff bei Augustinus steht am Anfang und ist insofern bezeichnend, dass eine wiederkehrende Kritik an Arendt ihre vorgebliche Fokussierung auf die Antike beinhaltet.

Arendts nächstes Werk war eine Biographie zu Rahel Varnhagen. Während der Arbeit entwickelte sich die Autorin nach eigener Einschätzung zu einem „jüdisch-politisch denkenden Menschen“. Bemerkenswert ist, dass sie Juden als aktiv „Handelnde“ in der Geschichte und nicht bloße Opfer betrachtet.

In diese Zeit fällt auch die Genese des spezifischen Tons von Hannah Arendt, der von einer spektakulär empfundenen Kompromisslosigkeit geprägt ist. Ihre Kritiker sahen das als „abfällig“ und „lieblos“, die Zitate zeigen eine beeindruckend gradlinige Ausdrucksweise. Die Autorin nahm an der Biographie, die kurz vor der Machtübergabe an Hitler fertiggestellt wurde, nach dem Krieg keine Änderungen vor.

Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich mit dem zentralen und bekanntesten Werk Arendts: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Wie bei den anderen, noch folgenden (Vita activa, Über die Revolution, Eichmann in Jerusalem, Macht und Gewalt) bietet Thomas Meyers Buch einen kurzen Abriss über den Inhalt sowie die Rezeption. Es ist ein naturgemäß flüchtiges Kennenlernen, wie eine Art kommentierter Fahrplan, der einen Eindruck gibt und zum Selbstlesen animiert.

Mag sein, dass Arendt Analyse heute „völlig falsch“ erscheint, so wäre das Gegenteil angesichts der mittlerweile zu einem Gebirge angewachsenen Fachliteratur zu dem Thema auch ein Wunder. Meyer sieht in Arendt eine Wegbereiterin für die Forschungen auf dem Gebiet in den folgenden Jahrzehnten.

Angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen stellt sich ohnehin die Frage, ob Naserümpfen wirklich angebracht ist, denn auch die „richtigen“ Erkenntnisse scheinen wenig geholfen zu haben, der Rückkehr des Totalitarismus einen Riegel vorzuschieben. Denn Ausschwitz und die Shoah waren einmalig, aber:

Was geschehen ist, hat die Menschheit insgesamt verändert, als Riss oder Zivilisationsbruch. Die Verbrechen leben als Möglichkeit fort. 

Thomas Meyer: Hannah Arendt

Das Zitat ist ein ebenso schönes wie beunruhigendes Beispiel dafür, wie anregend die Lektüre von Thomas Meyers Hannah Arendt ist.

Rezensionsexemplar

Thomas Meyer: Hannah Arendt
Die Denkerin des 20. Jahrhunderts
C.H.Beck 2025
Taschenbuch 128 Seiten
ISBN: 978-3-40683083-9

Richard Powers: Das grosse Spiel

Den vielversprechenden Ansatz kann der Roman nicht erfüllen. Cover Penguin, Bild mit Canva erstellt.

Durchaus vielversprechend beginnt der Roman Das große Spiel von Richard Powers. Der Leser reist nach Makatea im Pazifik, einem der zahllosen kleinen Eilande im größten Ozean der Erde. Makatea gehört zu den von Frankreich kolonisierten Gebieten, auf der Insel wurde über Jahre hinweg Salpeter abgebaut, die Mine hinterließ Narben, wenig Wohlstand und eine große Stille.

Für die wenigen verbliebenen Menschen auf Makatea hat der Rohstoff-Abbau nichts gebracht, eine globale Konstante auf der Welt, in der Konzerne den Rahm abschöpfen, verschwinden und die Folgen den Bewohnern überlassen. Die Insel wirkt wie ein zerschundenes Idyll, das wieder in den Fokus finanzkräftiger Unternehmen gerät. Statt Rohstoff-Raubbau geht es um etwas anderes, sehr Modernes. Für die Einwohner stellt sich die Frage, ob sie den Versprechungen Glauben schenken wollen oder nicht.

Was wie ein politisch angehauchter Roman beginnt und ökologische sowie hochtechnologische Aspekte zu berühren scheint, entfernt sich über lange Zeit von der Insel und erzählt erinnernd die Geschichte einer Freundschaft. Rafi und Todd tragen schwer an den Verletzungen, die ihnen in ihrer Kindheit zugefügt wurden. Auf dem langen Weg durch die sozialen Klüfte und Bildungslabyrinthe der USA freunden sie sich an. Die Leidenschaft für Spiele, Schach, Go und andere führt sie zusammen.

Schon recht früh im Roman ist klar, dass beide unterschiedliche Wege im Leben gegangen sind. Todd ist steinreicher Tech-Unternehmer, er erzählt einem (zunächst unbekannten) Zuhörer von seinem dahinwelkendem Leben; Rafi findet der Leser auf Makatea wieder, dort ist er mit Ina liiert, jener Frau, die aus der Zweier-Freundschaft eine kompliziertere mit drei Ecken macht.

Durch alle Gänge schienen die Maschinen mich anzubrüllen: Tu etwas! Mach etwas Großartiges mit mir!

Richard Powers: Das große Spiel

Powers hat durch diese Erzählstruktur in seinem Roman formal und inhaltlich das Spielfeld gewechselt, von Dame zu Mühle etwa. Für Schach oder Go reicht das Erzählte nicht, es bleibt viel zu oberflächlich. Das spürt der Leser besonders bei den Kapiteln, die von Evelyne Beaulieu handeln. Bis zum Ende ist unklar, was sie eigentlich darstellen soll, Figur und Leben bleiben unscharf.

Der Erzähler behauptet zwar, sie sei Forscherin, geschildert werden aber Tauchgänge, die sich (und den Leser) in glanzvollen  Schilderungen erschöpfen. Man soll staunen, nicht lernen. In einem Abschnitt wird Evelyne von zwei Tauchern begleitet, die sie (!) für ein Magazin ablichten sollen, während ein Schiffsfriedhof mit den Hinterlassenschaften einer Seeschlacht im Zweiten Weltkrieg besichtigt wird. Sie ist eine Art Tauch-Barbie im Unterwasserparadies.

In pathetischen Worten wird die Wunderwelt auf den zerstörten Schiffen und ihren Maschinen geschildert, Gehaltvolles erfährt man hier nicht und sonst nur enttäuschend wenig. Das gilt nicht nur für die „Forschungen“, auch die Unternehmungen, an denen sie teilnimmt, werden in derart überschwänglichen Worten weichgezeichnet, dass die Glaubwürdigkeit leidet. Die groteske Ehe, mit Kindern, die dem Zerrbild von Fernsehwerbung näher als dem Leben sind, verstärken das Bild: Evelyne ist eine in Unwirklichkeiten versponnene Kunstfigur, die seltsam leer und leblos bleibt.

Es gab Fakten zum selber Verdrehen.

Richard Powers: Das große Spiel

Das wirkt auf die bildstarke Sprache von Powers zurück, die angesichts fehlender Substanz in allen Erzählsträngen oft überzogen wirkt. Anfangs ist die sprachliche Gestaltungskraft des Autors beeindruckend, doch verhält es sich damit wie mit den Luftnummern einer Flugshow: Auch die schönsten Loopings, die atemberaubendsten Kunststücke ermatten auf die Dauer. Das gilt insbesondere für die Unterwasserszenen und jene wiederkehrenden Aufzählungen, die ermüden.

Das Finale fügt sich in das skizzierte Bild ein. Es verbietet sich, hier etwas über die sich abrupt wendende Handlung zu verraten. Alles in allem ist Das große Spiel ein enttäuschender Roman, der den vielversprechenden Ansätzen nicht gerecht wird. Obendrein wirkt der Schluss, insbesondere der Twist, konstruiert und aufgesetzt. Die »Gute-Nacht-Geschichte« ventiliert eine fragwürdige Weltsicht, bei der zu hoffen bleibt, dass sie als Märchen gelesen wird, denn weder Gott noch Super-KI werden die Menschheit retten. Das müssen wir schon selbst tun.

Richard Powers: Das große Spiel
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Penguin 2024
Hardcover 512 Seiten
ISBN: 978-3-32860371-9

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste

Leipziger Messe, 1987, Franz-Josef Strauß schüttelt Erich Honecker die Hand. Die Nachricht vom Milliarden-Kredit an den wirtschaftlich in schwerer See befindlichen Staat schlug damals ein wie eine Bombe. Wie es dazu kam? Jakob Heins Roman bietet eine höchst unterhaltsame, heitere Erklärung. Cover Galiani Berlin, Bild mit Canva erstellt.

Frieden gibt es am Ende des Romans von Jakob Hein nicht, Freude und Eierkuchen hingegen schon. Grischa Tannbergs verwegene Idee löst trotz der weißen Friedenstaube auf dem Cover eben nicht einmal beinahe das von vielen ersehnte weltweite, dauerhafte Schweigen der Waffen aus. »Kunstvolles Warten« ist angesagt, ebenjene Disziplin, die der Leser bereits früh im Roman kennenlernt.

Die Handlung setzt mit dem Dienstantritt Grischas in der Staatlichen Planungskommission der DDR ein. Das ist jener Verwaltungsapparat, der für den Fünfjahresplan und damit die Ausrichtung der Planwirtschaft im real scheiternden Sozialismus zuständig war. Angeblich soll schon Georg Lichtenberg gewusst haben, dass Voraussagen schwierig seien, insbesondere wenn sie die Zukunft beträfen. Eine ganze Volkswirtschaft fünf Jahre im Voraus zu planen scheint schlichtweg größenwahnsinnig.

Auf Grischa wartet ein Arbeitsplatz, bei dem die große Herausforderung in jenem »kunstvollen Warten« besteht. Er ist für die »kleineren Bruderländer« der DDR zuständig, genauer gesagt für die DR Afghanistan. Drei Jahre zuvor waren sowjetische Truppen in das zentralasiatische Land einmarschiert, um das dortige kommunistische Regime unter Babrak Karmal vor dem Zusammenbruch zu bewahren.

Diese Abgründe werden im Buch nicht weiter erörtert. Für die Abteilung in der PlaKo, die sich um die freundschaftliche Zusammenarbeit mit diesem Bruderland kümmern soll, ist wichtiger, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zu Afghanistan eine Einbahnstraße sind: Dort wird alles gebraucht, Fahrzeuge, Maschinen, Konsumgüter, Dünger, im Gegenzug hat das Land »nichts« zu bieten. Wie die DDR-Mark ist der Afghani nicht das Papier wert, auf dem er gedruckt ist.

Das Zeug ist das reinste Devisengold, pro Gramm, das davon verloren geht, rollt hier ein Kopf.

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste

Aus dem »nichts« wird bei näherem Hinsehen ein »fast nichts«, denn Afghanistan hat immerhin »Schlafmohn und Cannabis« für den unersättlichen und zahlungskräftigen Weltmarkt zu bieten. Problematische Substanzen, ungeeignet für jede offizielle wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Afghanistan und DDR. Das sozialistische Werktätigenparadies hat laut eigenem Bekunden keinerlei Probleme mit Drogentoten (wie auch nicht mit Nazis), der Handel mit verfemten Mittelchen verbietet sich also.

Oder vielleicht doch nicht? Der Boden ist bestellt für eine groteske, aberwitzige und furchtbar komische Unternehmung, in deren Mittelpunkt ebenjenes Cannabis steht. Die Friedenstaube auf dem Cover trägt die Pflanze nicht umsonst sehr dekorativ im Schnabel. Wie immer überlebt der Plan nicht die erste Gefechts- respektive Realitätsberührung, am Ende steht kein Frieden, aber ein veritabler, rauschhafter Milliardenkredit aus dem Westen für die dem Bankrott entgegentaumelnde DDR.

Zeitgenossen hätten den Einschlag eines Kometen oder von Thors mythischem Hammer Mjöllnir kaum mit weniger Erstaunen aufgenommen, wie die Nachricht von der Offerte eines derart hohen Kredites für den ideologischen Feind jenseits des Eisernen Vorhangs – ausgerechnet durch den erklärten Kommunistenfresser Franz Joseph Strauß, für den die so genannte Entspannungspolitik der Sozialdemokraten ein blutrotes Tuch war.

»Was? Der Strauß?«, fragte Grischa.

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste

Die Frage nach dem Motiv für diese merkwürdige Tat ist eine Leerstelle, ein gefundenes Fressen für Autor Jakob Hein und seine Leser. Er lässt Grischa ans Werk gehen. Zum Entsetzen seines Vorgesetzten ist der eifrige Jung-Aktivist nicht mit »kunstvollem Warten« zufrieden, sondern recherchiert, überdenkt und entwickelt eine tatsächlich verwegene Idee, um den Handel mit Afghanistan in Schwung zu bringen.

Medizinalhanf heißt das Mittel, das kaum weniger als ein Wunder vollbringen soll: den Bauern im Bruderland Afghanistan ein geregeltes Einkommen  bieten und der DDR dringend benötigte Devisen  beschaffen. Im Gegensatz zu Heroin oder Kokain rangiert Cannabis in den Amtsstuben des Sozialismus  auf dem Niveau von Alltagsdrogen á la Alkohol und Tabak. Man kann es also an der Grenze an Westler verticken. Das Drama nimmt seinen Verlauf, ein Wind des Wandels weht durch einen Grenzübergang und droht zu einem veritablen Sturm zu werden, der in Bayern auf einem verschwiegenen Bauernhof glücklich abgewendet wird.

Ist Jakob Heins Roman ein Märchen, geschichtsklitternd obendrein? Nein. Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste erzählt unter dem Deckmäntelchen grotesker Heiterkeit eine Geschichte von Subversion, er lässt seine Helden auf ihre Weise aus überkommenen, verkrusteten und gerontokratischen Zuständen ausbrechen. Vielleicht ist der Roman in diesem Sinne auch ein Handzettel für die nähere Zukunft?

Ganz großartig ist der Ansatz, den subversiven Impuls aus gutem Willen und staatskonformen Handeln mitten aus dem Herzstück des Staates DDR heraus entstehen zu lassen. Der aufgeplusterte Sozialismus entpuppt sich als völlig ruchlos nach dem Rettungsanker westlicher Devisen grabschender Moloch, der alle Werte längst verraten hat. Enttarnt wird er ausgerechnet durch einen, der an die Ideale geglaubt hat – oder hätte glauben können – und mit naivem Gutwillen die lächelnde Maske vom monströsen Antlitz reißt.

[Rezensionsexemplar]

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste
Galiani, Berlin 2025
Gebunden, 256 Seiten
ISBN: 978-3-86971-316-8

Martin Pfaffenzeller, Eva-Maria Schnurr (Hg.): Die letzten Tage von Pompeji

Nach diesem Buch steht ein Besuch in Pompeji recht weit oben auf der Liste. Das Komendium ist ein wunderbarer Streifzug durch die Lebens- und Alltagswelten der Menschen, die in Pompeji lebten und starben. Wissenschaftliche Fragestellungen, etwa über die Aussagekraft von archäologischen Funden, kommen nicht zu kurz.

Wie lebten sie eigentlich, die Leute von Pompeji? Wie starben sie? Diesen Fragen geht das Kompendium Die letzten Tage von Pompeji von Martin Pfaffenzeller und Eva-Maria Schnurr (Hg.) in vielen kurzen Beiträgen nach. Nebenbei werden noch wichtigere Fragen aufgeworfen. Woher stammt eigentlich unser Wissen? Wie glaubwürdig ist die Überlieferung? Und noch wichtiger: Was davon ist wirklich Wissen, was Vermutung, was Konsens, was umstritten?

Die Fragen beginnen damit, was eigentlich in Pompeji und Umgebung, einschließlich Herculaneum geschah. Klar ist, dass der Vesuv ausbrach, vermutlich im Oktober 79 n. Chr. In einem Beitrag versucht Martin Pfaffenzeller die letzten Stunden eines Pompejaners nachzuzeichnen, der (zu) lange ausgeharrt hatte, ehe er am 25. Oktober zu fliehen versuchte und dabei von der Glutlawine des Vulkans überrollt wurde.

Die Umstände müssen apokalyptisch gewesen sein. Der Fliehende konnte sein Haus nicht mehr auf gewöhnlichem Wege verlassen, denn in der Gasse davor lagen Bimssteinchen in einer nahezu zwei Meter hohen Schicht. Ein beherzter Sprung aus dem Fenster wurde nötig, die Flucht geriet zum mühsamen Vorankämpfen in der Dunkelheit, ehe den Pompejianer an einer Kreuzung der Tod – vermutlich durch Ersticken in den heißen Aschewolken – ereilte.

Der Mann, der wohl zwischen 30 und 40 Jahre alt war, hätte auch schon vorher sterben können. Viele Bewohner der Stadt wurden von den Dächern ihrer eigenen oder fremden Häuser erschlagen, als diese unter dem Druck der Bimssteinmassen nachgaben. Eine Flucht war jedoch ebenso möglich, allerdings bald nur noch zu Fuß: Westliche Winde blockierten die Abfahrt von Schiffen, Bimsstein den Fluss Sarno.

Sie [die Glutlawine] bewegte sich so schnell, dass sie für die gut zehn Kilometer vom Vesuv nach Pompeji nur etwas länger als eine Minute brauchte.

Martin Pfaffenzeller, Eva-Maria Schnurr (Hg.): Die letzten Tage von Pompeji

Besonders gelungen ist die knappe Spurensuche, an deren Ende das Datum der Katastrophe steht. Lange ist man vom 24. August 79 n. Chr. ausgegangen, doch legen Feuerschalen in den Häusern sowie dort aufgefundene Granatäpfel einen Tag im Herbst nahe. Aufschluss gibt ein Holzkohle-Graffito, das informiert, an einem 17. Oktober wären Öle aus der Vorratskammer entnommen worden. Gewöhnlich wäre der Schriftzug rasch verschwunden, er muss also kurz vor dem Desaster verfasst worden sein, zumal im ebenfalls zerstörten Herculaneum eine ähnliche Inschrift aufgefunden wurde.

Das Beispiel zeigt, wie in dem Kompendium Pompeji versucht wird, Erkenntnisse über das Leben in der Stadt und die Quellen auf ihre Stichhaltigkeit zu hinterfragen. Naturgemäß sind es archäologische Funde, die Auskunft geben oder eben auch verweigern bzw. verzerren oder gar verfälschen. Ein schönes Beispiel ist der Beitrag über die Ökonomie Pompejis. Gewöhnlich wird von der erstaunlichen wirtschaftlichen Potenz der Stadt gesprochen. Als Beleg gelten etwa die Amphoren mit dem Stempel eines pompejanischen Fabrikanten, die in Südfrankreich oder nördlich der Alpen aufgefunden wurden.

Jens-Arne Dickmann, der Autor des Beitrags, verweist darauf, dass einzelne Funde nur eine sehr begrenzte Aussagekraft haben. Zwar wurden auch Fragmente von Weinamphoren mit dem Stempel eines weiteren Pompejianers in Karthago gefunden, doch wurden Amphoren auch wiederverwendet – mit ganz anderen Inhaltsstoffen. Dickmann hält es für angemessener, von einzelnen wirtschaftlich potenten Personen aus Pompeji zu sprechen, wenn es um als typisch geltende Produkte aus der Stadt geht, als von der der Stadt an sich.

Generalisierende Aussagen sind ohnehin schwierig, wie ein weiteres Beispiel zeigt. So wurden hunderte von tabernas, also Ladengeschäfte ausgegraben, die oft Menschen auch als einfache Unterkunft dienten. Auch aus diesem Grund haben wohl wesentlich mehr Menschen in der vollgestopften Stadt gewohnt, als lange angenommen. Viele dieser Ausgrabungen wurden wenig sorgfältig durchgeführt, man kann über das Gewerbe in der jeweiligen taberna oft nichts mehr sagen.

Bei festen Einbauten für die Verarbeitung von Waren oder Wasserversorgung liegt die Sache anders, diese sind zumeist vorhanden. Das handelt es sich häufig um textilverarbeitende Werkstätten, woraus geschlossen wurde, Pompeji wäre ein Zentrum der Wollverarbeitung gewesen. Ein Kurzschluss angesichts hunderter Länden, in denen möglicherweise etwas anders hergestellt oder weiterverarbeitet wurde. Beispielsweise gibt es Hinweise, dass Parfüme eine große Rolle spielten. Gärtnereien für die Zuchtblumen, deren Blüten in Öl gebunden wurden, sind bezeugt, wie auch die Verarbeitung selbst.

Ihr Begehren ausleben durften vor allem männliche Vollbürger, für die Objekte ihres Begehrens – Frauen, Jünglinge oder auch männliche Sklaven – blieb nur eine passive Rolle.

Martin Pfaffenzeller, Eva-Maria Schnurr (Hg.): Die letzten Tage von Pompeji

Die vielen, bunten Facetten des Zusammenlebens in Pompeji spiegeln sich in der Vielfalt der Themen von Die letzten Tage von Pompeji. Wie das Zitat zeigt, wäre es ebenfalls ein Kurzschluss von den zahllosen erotischen Wanddarstellungen und Gegenständen auf eine freizügige Sexualmoral zu schließen. Im Gegenteil: Für Frauen, insbesondere der Oberschicht, galt es Züchtigkeit und einen guten Ruf zu wahren. Prostitution einfacher Frauen gab es hingegen zuhauf.

Wie das Leben der einflussreichen Bürger aussah, lässt manchmal staunen. Die Mannwerdung eines Heranwachsenden wird von seinen Eltern mit stolzen 6.840 Gästen begangen – rund ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Speis, Trank, Unterhaltung, Gladiatorenspiele mit mehr als 400 Gladiatoren (gewöhnlich kämpften 20 bis 30) machten aus dem Event eine Demonstration von Macht, Reichtum und Einfluss.

Doch auch im Kleineren gibt es Spektakuläres zu entdecken. Die Fluchtäfelchen etwa oder auch die Frage, wie es um die Lesefähigkeit der Bevölkerung Pompejis bestellt war. Wozu wären Graffiti gut gewesen, wenn niemand sie lesen, also verstehen konnte? Wie also lernte das man ohne öffentliche Schulen? Blutige (Hooligan-?) Krawalle im Stadion, Zoff beim Zocken in der Taverne, gefährlicher Mief in Bedürfnisanstalten, Heilkunst, Saufkunst, Kochkunst – es gibt in Die letzten Tage von Pompeji eine Menge Wissenswertes auf informative und unterhaltsame Weise zu entdecken.

Rezensionsexemplar

Martin Pfaffenzeller, Eva-Maria Schnurr (Hg.): Die letzten Tage von Pompeji
So lebten die Römer im Schatten des Vulkans
Penguin Random House 2025
Taschenbuch 256 Seiten
ISBN: 978-3-328-11242-6

Rebecca Struthers: Uhrwerke

Nicht nur der Inhalt des Buches ist großartig, auch das Buch selbst wunderschön. Ich habe es gern zur Hand genommen und die Reise durch die Geschichte der Zeitmessung angetreten. Cover C.Bertelsmann, Bild mit Canva erstellt.

Es ist zutiefst paradox, dass Maria Stuarts Uhr, ein mächtiger religiöser Talisman einer katholischen Frau in einem ungastlichen protestantischen Land, sehr wahrscheinlich von einem protestantischen Kunsthandwerker in einem ebenso feindseligen katholischen Frankreich geschaffen wurde.

Rebecca Struthers: Uhrwerke

Für dieses Buch sollte man sich ein wenig Zeit nehmen. Das ist mehr als ein unbeholfener Versuch, die Buchbesprechung von Uhrwerke von Rebecca Struthers mit einem Wortspiel einzuleiten. Zeit ist die kostbarste aller Ressourcen im Leben des Menschen. Ist der Mensch frei, steht er aber unter dem Entscheidungsdruck, die Zeit, die ihm gegeben ist, sinnvoll zu füllen.

Und schwups – sind wir mitten im Thema. Auf die Frage, wie man seine Zeit »sinnvoll«  füllen kann, gab es zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Seiten recht unterschiedliche Antworten. Uhrwerke spielten dabei eine wichtige Rolle, denn die Geschichte der Zeitmessung ist eng verflochten mit den jeweiligen Zeitläuften und Weltsichten. Die wechselseitigen Einflüsse sind frappierend.

In einem der interessantesten Kapitel erzählt Rebecca Struthers, die als Uhrmacherin ihre Berufung gefunden hat, über den Einfluss, den die religiöse Einstellung auf die Gestaltung einer Uhr hatte. Puritanische Uhren zur Zeit Oliver Cromwells etwa stellten einen krassen Bruch mit den vorherigen Formuhren dar. Sie waren schlicht und bar jeglicher Verzierungen.

Diese Uhren waren ein Spiegelbild puritanischer Weltsicht, die sich auch in anderer Hinsicht niederschlug, etwa der Mode. Wichtiger noch als das Äußere ist der ideelle Wert von Zeit (und damit auch eines mechanischen Zeitmessers). Für Müßiggang war kein Platz in Gottes Welt, die geschenkte Zeit musste genutzt werden. Alles andere galt als Laster und Sünde mit Folgen im Jenseits. (Was die Herrschaften wohl zu Instagram und anderen modernen Zeit-Fallen zu sagen hätten?)

Zu den großen Stärken von Uhrwerke gehört, dass die Autorin Brücken von der Uhrmacherkunst im Laufe der Jahrhunderte zu ihrer eigenen Person schlägt. Sie schildert beispielsweise jene obskuren Schuldgefühle, wenn sie »zu wenig gearbeitet oder zu lange geschlafen« habe. Uhrwerke befasst sich also keineswegs nur mit der Mechanik, sondern auch damit, wie diese den Menschen prägen kann und das über Jahrhunderte.

When I think of all the good time that′s been wasted having good times

(Eric Burdon and the animals)

Ich musste an diese Liedzeile denken, die zwar anders gemeint sein dürfte, für mich aber genau dieses Verschwender-Gefühl ausdrückt. Das erste »good times« könnte das puritanische sein, das zweite für die verschwendeten Stunden des Müßiggangs stehen. Anregende Gedanken, denn die Frage stellt sich, ob der Geist des puritanischen Arbeitseifers in Form eines preußischen Ablegers etwa auch in mir wirkt (obendrein klischeehaft) oder nicht.

Mehrfach wird deutlich, wie sehr Begebenheiten, die Jahrhunderte zurückliegen, bis in die Gegenwart wirken. Da wären die Hugenotten, die nach endlosen Kriegen und Massakern, einem Toleranzedikt, das immer mehr aufgeweicht und schließlich 1685 brutal aufgehoben wurde, vor der Wahl standen, Katholiken zu werden oder auszuwandern.

Einige davon sind nach Preußen gezogen, die Mehrheit in die Vereinigten Niederlande, aber auch auf die britischen Inseln und die Schweiz. Zu ihnen gehörten viele Uhrmacher, die in ihrer neuen – nun, ja – Heimat ihrer Tätigkeit nachgingen. Sie spielten eine »zentrale Rolle bei der Entwicklung der britischen und Schweizer Uhrenindustrie«.

Gedankt wurde es vielen jedoch nicht, ein Schicksal, von dem bis in die Gegenwart Migranten aller Art ein Lied singen könnten. Das nachfolgende Zitat über den hugenottischen Uhrmacher David Bouguet, der aus Frankreich nach London geflohen war, verdeutlich beispielhaft die seltsame Zwitterexistenz als geachteter Könner und angefeindeter Fremdling.

In der einen Minute war er für reiche Gönner tätig, die sein Werk bewunderten, respektierten und schätzten, in der nächsten wurde er auf der Straße als „französischer Hund“ (oder übler) beschimpft.

Rebecca Struthers: Uhrwerke

Auch der hellste Stern am Firmament der Uhrmacherei, Abraham-Louis Breguet, musste Frankreich für einige Jahre verlassen. Er floh allerdings vor dem Terror unter den Jakobinern. Die Flucht gelang dem Genie unter Mithilfe von Jean-Paul Marat, dem er selbst einmal zu Hilfe geeilt war. Für einige Jahre musste der brillante Uhrmacher in der Schweiz arbeiten, ehe er zurückkehren konnte.

Brequet hat der Anfertigung von Uhren eine ganze Reihe von technologischen Impulsen gegeben. Wie groß Brequets Einfluss war, zeigt die Tatsache, dass bis heute einige von seinen Fortschritten unverändert zur Anwendung kommen. Auch beim Thema Innovation ist die Geschichte der Uhrmacherei brandaktuell.

Die ersten Uhrwerke mussten in Türmen untergebracht werden. Der Weg zur Armbanduhr mit vielen zusätzlichen Funktionen (Komplikationen) war entsprechend weit; analog ist die Entwicklung von den Computern zum Smartphone gewesen und wird auch bei weiteren technologischen Erfindungen sein – Batteriespeicher, Elektromotoren, medizinische Geräte etc.  Uhrwerke ist auch ein Anlass für ein wenig Vertrauen in die menschliche Schöpfungskraft.

Sie [die Nachbauten und Fälschungen] leisteten einen großen Beitrag dazu, dass Uhren bezahlbar wurden, und ebneten damit nachfolgenden Unternehmen den Weg, sie wirklich allen Menschen zugänglich zu machen.

Rebecca Struthers: Uhrwerke

Die Verbreitung von Uhren hat Begehrlichkeiten geweckt. Taschendiebe und Fälscher tieben ihr Unwesen. Struthers geht den Fälschungen in einem eigenen Kapitel nach und kommt zu einem recht überraschenden Ergebnis. Es ist die Schattenseite der leuchtenden Innovationen des 18. Jahrhunderts, zu denen auch die Schiffschronometer gehörten. Doch hatten die Fälschungen einen ungewollt positiven Effekt, wie das Zitat zeigt.

Uhrwerke erzählt auch von den Schattenseiten, die mit den Uhren im Frühkapitalismus Einzug hielten. Die gnadenlose Ausbeutung der Fabrikarbeiter in den Produktions-Höllen des beginnenden Industriezeitalters ab 1760 lässt schaudern. Erstaunlich auch, wie sehr die Art der Zeitmessung peu á peu die gesamte Welt strukturierte, wie sehr Moden (Radfahren!) oder Entdeckungsfahren/-flüge/-reisen auf Zeitmesser angewiesen waren. Das Schicksal der Uhrmacherei auf den britischen Inseln kann als Warnung gelesen werden – etwa für die deutsche Autoindustrie.

Bei allem anderen, was mir an Uhrwerke von Rebecca Struthers so gut gefallen hat, ist das Buch auch eine Augenweide. Zur Gestaltung kann man Verlag und Autorin nur gratulieren, wie natürlich auch zum Inhalt, der einen weiten Bogen schlägt vom ersten Zählinstrument zu Atomuhren. Wie immer nach der Lektüre eines klugen, gut informierten und schön erzählten Sachbuchs ist der Leser hinterher ein bisschen klüger. Das gilt besonders auch für Uhrwerke.

*Rezenstionsexemplar

Rebecca Struthers: Uhrwerke
Eine Uhrmacherin erzählt die Geschichte der Zeitmessung
Aus dem Englischen von Christiane Wagler
C.Bertelsmann 2024
Gebunden 336 Seiten
ISBN: 978-3-570-10549-8

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