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Schlagwort: Nationalsozialismus (Seite 1 von 10)

Walter Kempowski: Alles umsonst

Die völlig unvorbereitete Flucht Anfang 1945 kostete Hunderttausende ihr Leben. Kempowski schildert eine Welt, die sich eingesponnen hat in ihre Unwirklichkeiten und die hereinbrechende Realität nur zögerlich annimmt. Das geht über die konkrete historische Situation weit hinaus. Cover btb, Bild mit Canva erstellt.

Unweit von Mitkau, einer kleinen Stadt in Ostpreußen, lag das Gut Georgenhof mit seinen alten Eichen jetzt im Winter wie eine schwarze Hallig in einem weißen Meer.

Walter Kempowski: Alles umsonst

Wer das ostpreußische Städtchen Mitkau auf einer Karte sucht, wird sie nicht finden. Walter Kempowski lässt seinen Roman Alles umsonst zum großen Teil in der Nähe einer erdachten Ortschaft spielen. Realitätsfern ist auch das in die Jahre gekommene Gut Georgenhof, in dem die Personen in Unwirklichkeiten versponnen ihre Tage verleben. Ihre letzten, denn die Handlung führt in den blutigen Januar 1945, in dem Millionen Soldaten und Zivilisten ihr Leben ließen.

Das Gut bewohnen Katharina von Globig, eine zugezogene, verträumte Schönheit, die Gutsbetrieb, Mitkau und der Region fremd geblieben ist. Sie ist verheiratet mit Eberhard von Globig, der wilhelminischem Beamtenadel entstammt und in der Wehrmacht als Offizier Dienst tut: Frankreich, Ukraine, Italien. Etappe statt Front, was sich im Raubkrieg mit wiederholt eintreffenden Paketen mit kulinarischen Köstlichkeiten niederschlägt. Trittbrett fahrende Kriegsgewinnler.

Zur Familie gehört noch das »Tantchen«, Helene Harnisch, eine Anverwandte aus Schlesien, die nach einem Bankrott im Georgenhof Unterschlupf gefunden hat und dort – gegen ein Taschengeld – defacto den Laden in Schuss hält, weil sie im Gegensatz zu Katharina nicht der Wirklichkeit entrückt ist. Sohn Peter ist ganz in seine Kindheit versponnen, seine Schwester Ida verstorben. Peter ist – wie alle anderen im Gut lebenden Menschen – isoliert, kränkelnd gehört er nicht der Hitlerjugend an; von Linientreue kann bei den von Globigs und ihrem Haushalt keine Rede sein.

Kriegsbedingt arbeiten Wladimir, ein Pole, Anna und Vera, zwei von Eberhard selbst angeworbene Ukrainerinnen, auf dem Hof. In einem nahegelegenen, ehemaligen Gasthof hausen zur Zwangsarbeit verpflichtete Europäer verschiedener Herkunft, Kriegsgefangene und Zivilisten. Regelmäßiger Gast im Georgenhof ist Lehrer Dr. Wagner, der sich um Peter kümmert, so lange die Schule für Flüchtlinge zweckentfremdet und geschlossen ist.

Auf der Straße fuhr ein einzelnes Auto in Richtung Mitkau rasch vorüber, dann folgten andere und schließlich Lastwagen, auch Panzer, einer hinter dem anderen, die Glasperlen der Lampe klirrten. Dann trat Stille ein.

Walter Kempowski: Alles umsonst

Die Erzählung setzt am 8. Januar 1945 ein, vier Tage vor Beginn der Großoffensive der Roten Armee, die innerhalb von drei Wochen von der Weichsel bis an die Oder vorrücken sollte. Noch herrscht die Ruhe vor dem Sturm, die niemandem recht geheuer ist, und trotzdem außer vereinzelten besorgniserregenden Gedanken keinerlei Vorbereitungen auf eine Flucht hervorruft. Dabei haben die von Bewohner des Guts schon eine Reisebescheinigung und könnten jederzeit aufbrechen, wo andere endlos auf die Genehmigung warten mussten, die – wenn überhaupt – kam, als es zu spät war.

Besucher kommen ins Haus, ein Ökonom, eine Geigerin, ein Wehrmachtssoldat, Flüchtlinge aus dem Baltikum und dem Osten Ostpreußens; sie erzählen, oft Lügen, machen Andeutungen über die im Osten begangenen Verbrechen, Andeutungen die im Hause von Globig niemand versteht. Die Gäste nehmen Essen und Gesellschaft gern an, sie übernachten dort, stehlen und machen sich wieder von dannen.

Die Leute auf dem Gut leben unter einem Damoklesschwert, das sie zur Kenntnis nehmen könnten; sie tun es nicht, auch wenn sie mit der Nase darauf gestoßen werden. Der Kontrast zwischen der lebensbedrohlichen Lage und der hauseigenen Unwirklichkeit lässt sich weder mit Dummheit, Propaganda noch Angst vor dem NS-Terror erklären, die Ignoranz ist etwas, das weit über die konkrete Situation hinausreicht.

Menschliches Verdrängen im Angesicht einer überwältigenden Katastrophe ist wahrlich ein grundlegendes Phänomen. Ausnahmen bestätigen die Regel, Hannah Ahrendt etwa, die 1940 beim Herannahen der Wehrmacht Chaos und Anarchie unter den französischen Behörden nutzte, um sich von ihrem Internierungslager zu entfernen. Viele andere blieben, warteten ab und starben.

›Sofort die Sachen packen und auf und davon! Ja? Wegfahren, alles stehen und liegen lassen … Gleich morgen früh! … Die Russen kommen!‹

Walter Kempowski: Alles umsonst

Der Leser des Romans weiß, was kommen, was über die Menschen hereinbrechen wird. Immer wieder wird daran erinnert, im Nebensatz, wie willkürlich eingestreut. Ein Fliegeralarm. Zur Front rollende Panzer. Eilig zurückgenommene Front-Lazarette. Gerüchte. Nebensächlichkeiten, beunruhigend, aber auch nur am Rande des vorwärts wälzenden Erzählstroms, den Erinnerungen, Gedanken und Beschäftigungen der Figuren.

Von einer Handlung kann man eigentlich nicht sprechen, eher von Nicht-Handeln. Für einen Leser wie mich ist diese Form hintergründiger Spannung kaum erträglich. Immer wieder möchte man den Personen zurufen, sie aufrütteln, aus ihrem Dornröschenschlaf der unbedarften Weltabgewandtheit wecken. Ein sinnloses Unterfangen, wie man weiß und Autor Kempowski perfide vorführt: Offene Warnungen führen zu groteskem Verhalten.

Erst einmal abwarten; nichts werde so heiß gegessen …; jemand werde schon sagen, was zu tun sei …; Ob man die Vorhänge waschen sollte, alles gründlich saubermachen, bevor man geht? So in etwa sind die grotesk anmutenden Gedankengänge, auch nach der zweiten, dritten Warnung und Ermunterung, schnellstmöglich das Weite zu suchen, sich in Sicherheit zu bringen. Für den Leser frappierend, denn er ahnt schon – nein, er weiß, dass kein gutes Ende naht. Der Titel des Romans, Alles umsonst, sollte unbedingt ernstgenommen werden.

Und der Mann in seinem Versteck dachte an die dunklen Tage, die vor ihm lagen. es war ja eigentlich ganz ausgeschlossen, daß er es schaffen würde.

Walter Kempowski: Alles umsonst

Auf kunstvolle Weise hat Kempowski das Schicksal seiner Figuren mit dem anderer verwoben. Da wären die Ukrainerinnen, Wladimir und die vielen fremden Arbeiter, die Gegenstand von vielen versteckten, subtilen und ganz offenen rassistischen Äußerungen sind, hinter denen sich das Grauen der völkischen Ideologie und des Vernichtungskrieges wie ein gewaltiger Schatten erhebt. Andeutungen reichen, um den Abgrund des Zivilisationsbruchs zu zeigen.

Doch wird ausgerechnet Katharina, die Weltfremde, vom Pastor Mitkaus um eine Gefälligkeit gebeten: Sie sollte für eine Nacht einen vor dem Regime Fliehenden aufnehmen. Als sie den warnenden Anruf ihres Ehemannes entgegennimmt, befindet sich dieser Mann gerade in ihrer Obhut. Beide Schicksalslinien kreuzen sich in dieser ebenso grotesken wie dramatischen Situation, das Leben ist aus mehreren Richtungen bedroht, gerade im Januar 1945, Gestapo, SS und Feldpolizei kennen keine Gnade.

Die Tragödie nimmt ihren Verlauf. Auch als an der Front tausende von Geschützen die Erde im Umkreis von vielen Kilometern zum Beben bringen, können sich die Bewohner des Georgenhofs nicht aufraffen. Die »Flucht« beginnt zur Unzeit, als die rasch vordringenden Sowjets den Weg ins Reich nach Westen bereits abgeschnitten haben. Nur das zugefrorene Haff und der Abtransport über See bieten noch seidenfadene Hoffnung.

Am Straßenrand lagen Tote, manche saßen erstarrt an einem Chausseebaum; Greise, die nicht mehr weitergekonnt hatten, und kleine Kinder.

Walter Kempowski: Alles umsonst

Kempowski schildert die ungeheuerlichen Umstände dieser überstürzten Flucht, das massenhafte Sterben mit unpathetischen, oft lakonischen Worten. Die ungezählten Toten sind Nebensächlichkeiten am Wegesrand, wie ein Echo der vorher nebensächlichen Frontgeräusche. Manche sind erfroren oder an Erschöpfung gestorben, andere wurden erhängt, weil sie angeblich Deserteure, Plünderer, Feiglinge wären.

Gelegentlich blitzt das Motiv der aus Russland durch Ostpreußen zurückflutenden Trümmer von Napoleons Grande Armée im Jahr 1812 auf. 1945 nimmt der Untergang apokalyptische Dimensionen an, eine Götterdämmerung ohne jedes schwülstige Pathos, wie ihn Nationalsozialisten jahrelang heraufbeschworen hatten. Der Tod kommt so gnadenlos und unspektakulär, im Halbsatz, im Nebensatz sterben Kempowskis Figuren.

Von der »Volksgemeinschaft«, einem weiteren wirklichkeitsfernen Propagandastück, ist nichts zu merken. Jeder ist sich selbst der Nächste. Das gilt auch für »Oberwart« Drygalski, einen stramm linientreuen Nachbarn der von Globigs, der schneidig seine Anweisungen mit einem »zoffort!« würzt. Er lässt seine Frau zurück und macht sich vor der herannahenden Front zurück. Eine wunderbare Figur, die den Leser vom ersten Augenblick an abstößt und über viele Kapitel enerviert. Ganz am Ende des Romans macht ausgerechnet Drygalski eine spontane, völlig unvermutete Tat – und der Leser taumelt schweratmend aus der Handlung.

Walter Kempowski: Alles umsonst
btb Verlag 2006
Taschenbuch 384 Seiten
ISBN: 978-3-442-73736-7

Neue Lektüre Januar 2025

Zufällig habe ich im Buchladen das gerade erschienene Buch von Robert Habeck, Den Bach rauf, entdeckt und gekauft, um es noch rechtzeitig vor der Bundestagswahl im Februar lesen und besprechen zu können. An meiner Wahlentscheidung wird es nichts mehr ändern, doch lasse ich mir gern die Welt erklären.

Der Zweite Weltkrieg beschäftigt mich seit meiner Jugend. Ich habe viele Bücher, Romane und Sachbücher, über die Kriegszeit gelesen. In meinem Regal warten allerdings noch zwölf Bände aus der Reihe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Es ist immer schwierig, für derart ausführliche Bücher die Zeit zu finden – also fange ich mit dem vorletzten (!) Teil an. Ich lese diesen auch nicht von vorn, sondern beginne mit dem Großangriff der Roten Armee im Osten am 12. Januar 1945. Warum? Weil ich gerade den brillanten Roman Alles umsonst von Walter Kempowski gelesen habe, der genau zu dieser Zeit spielt.

Mit Leo Perutz geht es in die Endphase der Österreich-Ungarischen Monarchie. Ein Rachefeldzug wird in diesem Roman mit dem recht merkwürdigen Titel Wohin rollst du, Äpfelchen … erzählt. Klingt ausgesprochen interessant. Die beiden Bücher von Perutz, die ich bereits gelesen habe, waren großartig. Eine Kurzbesprechung von Der Meister des jüngsten Tages habe ich auf diesem Blog veröffentlicht.

Aktuelle Lektüre: Thomas Medicus, Klaus Mann

Ein bewegtes, wenn nicht getriebenes Leben führte der Schriftsteller und Publizist Klaus Mann.

Von Klaus Mann habe ich alle Romane (vor langer Zeit) gelesen, dazu die beiden autobiographischen Schriften.

Die ausführliche Biographie lese ich mit großer Spannung, denn Mann ist (wie man schon in den ersten Kapiteln erfährt) tatsächlich ein Kind dieser Zeit, der Weimarer Republik (Höhenrausch von Harald Jähner nimmt nicht umsonst direkt Bezug auf Klaus Mann) und des Exils (auch bei Uwe Wittstocks Februar 33 und Marseille 1940 ist Klaus Mann prominent vertreten).

Literarisch war die Weimarer Republik wohl bis heute die beste Zeit deutschsprachiger Fiktion, politisch atemberaubend umwälzend.

Thomas Medicus, Klaus Mann ist erste Buch meines Lesevorhabens 12 für 2025.

Lesevorhaben Wiedergelesen – 4 für 2025

Vier der vielen Bücher aus meinem Regal, die ich bereits kenne, aber unbedingt noch einmal lesen und hier auf dem Blog vorstellen will.

Auch in meinem Regal stehen viele Bücher, die ich gern noch einmal lesen und auf meinem Blog vorstellen möchte. 2024 habe ich das genau einmal gemacht, mehr zufällig, weil ich auf die Umsetzung des genialen Romans Die Straße als Graphic Novel Die Strasse gestoßen bin.

Die Konkurrenz ist groß, Rezensionsexemplare, Geschenke, Spontankäufe (trotz Buchkaufdiät), Buchleihen (Stadtbiliotheken sind ein gefährlicher Ort!) und die vielen Bücher, die bereits gekauft wurden und endlich gelesen werden wollen, rangeln um das knappste aller Güter im menschlichen Leben: Zeit.

So also eine kleine extrinsische Motivation: 4rereadsfür2025. Für jedes Quartal eins, das dürfte zu schaffen sein. Und die Vorfreude ist riesig, denn die vier Bücher sind groß. Historisch-politisch, versteht sich.

Walter Kempowski: Alles umsonst
»Zoffort!« zu lesen, denn es spielt im Januar 1945, im Osten Deutschlands, über dem sich der Sturm der Vernichtung zusammenbraut – perfekt als Januar-Lektüre 2025

Gerd Ledig: Die Stalinorgel
Für mich der beste Frontkriegsroman, den ich kenne. Er schildert die Kämpfe 1942 vor Leningrad und zeichnet in einer Szene ein geniales Bild einer demoralisierten Wehrmacht

Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes
Ein Ausflug nach Rom. Derart sarkastisch und bissig, dass ich das Büchlein zum drittel Mal lese; der Autor begegnet Papst Benedikt in einer evangelischen Kirche, kurz vor dessen Rücktritt

Robert Harris: Vaterland
Das Büchlein wurde bereits mehrfach gelesen, nicht nur von mir. Brillant in einen Thriller gegossene historische Dystopie um den verschwiegenen Holocaust in einer Welt, in der Hitler den Krieg gewonnen hat

Volker Kutscher: Rath

Ein furioser Abschluss der großartigen Romanreihe um Gereon Rath. Volker Kutscher spielt sämtliche Stärken noch einmal gekonnt aus, ein kleiner Wermutstropfen trübt das rundum positive Bild kaum. Cover Piper Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Zum Zeitpunkt, da die Handlung des Romans Rath anhebt, war es noch ein Jahr hin, dass der deutsche Wehrmachtsoffizier Wilm Hosenfeld angesichts der unmenschlichen Behandlung von Polen und Juden seine Uniform in Fetzen reißen wollte. Drei Jahre fehlten noch zum »Holocaust mit Kugeln«, der hunderttausende Opfer forderte. Und es blieben noch vier Jahre bis in den Gaskammern Millionen starben.

Der Zivilisationsbruch durch die Kulturnation Deutschland kam nicht aus heiterem Himmel. Wer die Romane Volker Kutschers um den Kriminalkommissar Gereon Rath liest, erlebt hautnah, wie das Gift nationalsozialistischer Ideologie in den Jahren vor und nach 1933 immer tiefer in die Gesellschaft und ihre Institutionen einsickerte, sie durchdrang und schließlich mit millionenfacher bereitwilliger Beihilfe in Krieg und Massenmord führte.

Die Romanreihe endet in jenem Moment, in dem der Zivilisationsbruch für alle Welt sichtbar wurde. Zielstrebig steuert die Handlung von Rath auf den 9. November 1938 zu. Die »Reichspogromnacht« fegte die letzten Zweifel an der gnadenlosen Exekution der antisemitischen Ideologie des NS-Regimes beiseite, es war der Schritt von Ausgrenzung und Ausschreitungen zur systematischen Gewaltanwendung jenes entrechteten Teil der Bevölkerung Deutschlands, der von den Machthabern als »jüdisch« angesehen wurden.

Literatur, die sich auf das Feld der Politik begibt, droht immer von dieser verschlungen zu werden.

Leonardo Padura, Das Meer der Illusionen

Volker Kutscher webt auf brillante Weise dieses historisch-politische Motiv in die Romanhandlung ein. Das ist ein Glanzpunkt von Rath, denn Kutscher gelingt das Kunststück, politisch zu schreiben, ohne den Roman von der Politik verschlingen zu lassen. Seine Figuren erleben, was es heißt, in dieser Zeit existieren zu müssen. Überleben ist keine Selbstverständlichkeit. Die Szenen, die den 9. November 1938 erzählen, sind von mitreißender Dichte. Die Atmosphäre erfasst den Leser und lässt ihn nicht wieder los.

Die Erschütterung des Pogroms, das zügellose Treiben der Nazis, das Verhalten der nicht-jüdischen Nachbarn, die völlige Recht- und Schutzlosigkeit der Opfer erleben gleich mehrere Personen am eigenen Leibe, die während der Handlung mit Gereon, Charlotte und anderen bekannten Personen zu tun hatten. Was über die als jüdisch geltende Bevölkerung hereinbrach, war bis dahin eher aus dem Osten Europas bekannt; die Illusion der jüdischen Integration in Deutschland seit Friedrich dem Großen verflüchtigte sich endgültig.

Der Herbst 1938 war auch in anderer Hinsicht disruptiv, was Kutscher zum Vorteil der dynamischen Romanhandlung nebenbei abhandelt. Aus München dringt während der Handlung immer wieder der ferne Donner eines heraufziehenden Krieges. Das Unheil kann gerade noch abgewendet werden, die in Verruf geratene Appeasement-Politik führte zu einer Übereinkunft auf dem Rücken der Tschechoslowakei. Damit liefen Putsch-Pläne des deutschen Militärs ins Leere, ein noch größeres Unheil, das in einem Halbsatz durchschimmert. Mehr braucht es auch nicht.

›Hilft ja alles nix. Am Ende entscheidet Hitler darüber, ob er Kriech will oder nit.‹

Volker Kutscher: Rath

Wie aber beendet man eine Buchreihe an einem nachtschwarzen Zeitpunkt? Ein Happy End verbietet sich. Volker Kutscher hat in einem Interview mit der FAZ einen interessanten Hinweis auf seine Überlegungen gegeben. Ein mögliches Final-Szenario wäre gewesen, dass die Familie Rath (Gereon, Charlotte, Friedrich) in Prag ist, wohin sie zwischenzeitlich tatsächlich flüchten wollte. Man sitzt um einen Tisch und draußen marschiert im März 1939 die Wehrmacht ein, hinter den Truppen folgen SS und Gestapo.

Kutscher hat sich für ein anderes, spektakuläres Ende entschieden, was mir außerordentlich gut gefallen hat. Der Leser schaut einigen lose im Wind der Geschichte baumelnden Erzählfäden hinterher, im Grunde genommen weiß man bei keiner der überlebenden Personen, wie es mit ihnen weitergehen wird. Das ist ein angemessener Umgang mit einem historischen Stoff, denn Geschichte ist immer offen. Nur rückwärtsgewandte Propheten behaupten anderes.

Die Wirkung des Endes wird verstärkt durch die dramatische Zuspitzung der Handlungsstränge. Das letzte Drittel des Romans liest man wie im Rausch, ein Pageturner, befeuert von voranjagender Spannung. Die vielfältigen Konflikte der vorangegangenen Bücher steuern auf eine »Lösung« zu, vor allem die Verwicklungen um Rath-Tornow-Gräf und Charly-Rademann-Fritze finden ihr überraschendes Ende.

Ihr könnt nicht da weitermachen, wo ihr aufgehört habt. All diese Dinge sind passiert. Die haben euch verändert. Die Zeiten haben sich verändert. Und eure Ehe, wenn man das noch so nennen kann, sowieso.

Volker Kutscher: Rath

Rath wie die gesamte Buchreihe lassen viele (Neben-)Figuren nicht unberührt von dem, was ihnen widerfährt. Wenn etwa ein SA-Mann von einem Bürger zu Tode geprügelt wird, zeigt das eben auch, wie sehr die zügellose Gewalt des Regimes und seiner Formationen in die Gesellschaft zurückwirkt. Auch dort brechen die Barrieren. Die Tötung ist keine reine Rache-Szene á la Italo-Western, sondern ein Sinnbild der fortschreitenden Enthemmung, die von den Nazis auf gewöhnliche Bürger ausstrahlt.

Auch die Hauptfigur ist davon betroffen, denn die Beziehung Gereons mit Charlotte ist erodiert und brüchig. Die Flucht nach Amerika nach dem Scheintod hat die Distanz vergrößert, der Graben bleibt auch in Rath lange offen. Allein die Umstände lassen nur kurze Stelldicheins in einem Hotel in Hannover zu. Gereon ist im Rheinland untergetaucht, Charlotte wurstelt sich in Berlin als Detektivin durch, ehe die Umstände rasante Veränderungen herbeiführen.

Wie schon in Transatlantik trägt Charly die Hauptlast der Handlung, Gereon ist abgetaucht. Kutscher deutet an einer Stelle ein geradezu klassisches Handlungsmotiv an, indem er Charlotte in dramatische Schwierigkeiten geraten und Gereon zu ihrer Rettung aufbrechen lässt. Die Rettungsmission löst sich jedoch auf überraschende Weise auf und Gereons Rolle als Retter läuft ins Leere. Mich hat bei der Lektüre die Frage beschäftigt, ob eine Buchreihe, die in acht von zehn Teilen auf eine Figur zugeschnitten ist, in den letzten beiden Bänden einen so weitreichenden Schwenk weg von der Hauptfigur vollziehen sollte.

Gereon Rath schwindet bereits in Transatlantik als handelnde Figur, mehr noch in Rath. Seine Lebensweise, das unpolitische Durchwursteln mit Abstechern in die Grauzone der Legalität, war schon lange an einer Grenze angekommen, dahinter blieb nur noch eine Flucht in die USA. Das Schwinden der Person in der Handlung spiegelt die Ausweglosigkeit und mangelnde Lernfähigkeit Gereon Raths wider und ist absolut vertretbar. Die Frage sei gestattet, ob unter diesen Umständen noch die letzten beiden Bände in der Form sinnvoll sind.

Die Frage stellt sich noch aus einem anderen Grund. 

Schwerer wiegt nämlich, dass die Gegenfigur zu Gereon nicht recht glaubwürdig wirkt. Charlotte Rath war bereits in den vorangegangenen Bänden einerseits ein wenig zu tough, gleichzeitig in ihren (oft selbstschädigenden) Handlungsmustern gefangen. Das setzt sich verschärft in Rath fort. Insbesondere die hochdramatischen Ereignisse nach dem Verrat eines alten »Freundes«, den Kutscher grandios als Musterbeispiel des angepassten Karrieristen gestaltet, hinterlassen scheinbar nur zarte äußerliche Spuren. Sie tritt danach wie davor auf, was schwer zu glauben ist.

Von dieser leisen Kritik unabhängig ist Rath ein furioser und angemessen furchtbarer Abschluss einer großartigen Buchreihe. Die Ermittlungen um den »Kriminalfall« bilden wieder einen leitenden roten Faden, die Erzählung ist abermals makellos in die Zeitläufte eingewoben. Die handelnden Figuren prallen aufeinander, wirbeln umeinander, ringen miteinander, verkrallen sich ineinander und führen einen irren Tanz auf, einen Totentanz am Abgrund.

Weitere Romane der Buchreihe:
Volker Kutscher: Die Akte Vaterland
Volker Kutscher: Märzgefallene
Volker Kutscher: Lunapark
Volker Kutscher: Marlow
Volker Kutscher: Olympia
Volker Kutscher: Transatlantik

[Rezensionsexemplar]

Volker Kutscher: Rath
Piper 2024
Gebunden 624 Seiten
ISBN 978-3-492-07410-0

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