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Schlagwort: Kommunismus (Seite 1 von 4)

Leonardo Padura: Anständige Leute

Kuba im Ausnahmezustand: 2016 besucht US-Präsident Barack Obama die Insel, auch die Rolling Stones haben sich angekündigt. Die Polizei ist überlastet, Mario Conde soll aushelfen, einen Mord aufzuklären. Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.

Mario Conde nimmt im Erzähluniversum von Leonardo Padura eine ganz besondere Stellung ein. Im Havanna-Quartett ist Conde als Ermittler der kubanischen Polizei tätig, gibt diese Tätigkeit im letzten Band jedoch auf. Er begegnet dem Leser in zahlreichen späteren Romanen wieder, als Buchhändler etwa, vor allem jedoch als ein Bewohner der Insel Kuba, der versucht, am Leben zu bleiben und irgendwann einen Zugang zum Schreiben zu finden. Selbst in jenen Erzählwerken, die nichts mit Conde zu tun haben, wird er wenigstens erwähnt, sogar im Opus Magnum Paduras, Der Mann, der Hunde liebte.

Der Leser von Paduras Romanen erlebt einen wesentlichen Teil der jüngeren Geschichte Kubas an der Seite Mario Condes mit, unternimmt jedoch immer wieder weite Ausflüge in die Vergangenheit. Die Insel in der Karibik ist auf überraschend vielfältige Weise direkt oder indirekt mit der Geschichte anderer Welt-Regionen verbunden. So lebt und stirbt der Mörder Leo Trotzkis dort; Hemingway war dort, natürlich, aber auch zeitlich und räumlich weit auseinanderliegende Dinge im Erzählwerk Paduras werden motivisch miteinander verknüpft: Rembrandts Schüler in Amsterdam 1648, das Drama um jüdische Flüchtlinge auf der St. Louis 1939 und ein verschwundenes Mädchen im Jahr 2007 im Roman Ketzer

Kuba ist seit Jahrzehnten ein wenigstens autoritär geführtes Land, das den Sozialismus als ideologisches Aushängeschild führt. Leonardo Paduras Romane beschreiben viel der Lebenswirklichkeit auf Kuba, ohne politisch in dem Sinne sein zu wollen, dass sie dieser oder jener politischen Richtung, Ideologie, Partei das Wort reden. Selbstverständlich bleibt alles dennoch stets politisch. Der jeweilige Fingerzeig ist auch ohne pathetisches J´accuse …! offenkundig. Wozu auch, denn Padura hat einen ganz eigenen Weg gefunden, sich zu den Dingen zu äußern. 

Italien ist von hier aus mindestens so weit weg wie der Mond.

Leonardo Padura: Anständige Leute

Zu Beginn des Romans Anständige Leute ist Mario Condes Leben wieder einmal in Aufruhr. Seine Freundin Tamara steht davor, das Land zu verlassen, sie will nach Italien, wo Verwandte leben. Ihre Rückkehr ist ungewiss. Die Flucht aus den bedrückenden Umständen Kubas gehört auch zu den wiederkehrenden Motiven von Paduras Romanen, etwa Wie Staub im Wind. Diesmal kehren einige im Ausland lebende Kubaner zurück, darunter Freunde Condes, aber auch zwielichtige Gestalten mit unredlichen Absichten. 

Obendrein stehen große Ereignisse an, denn Barack Obama und die Rolling Stones wollen die Insel besuchen. Ich erspare mir zeitgeschichtliche Erklärungen, warum Obamas Visite eine andere Qualität hatte, als der Besuch eines deutschen Regierungschefs in Frankreich. Conde hat einen für ihn überlebenswichtigen Nebenjob angenommen, als Aufpasser in einer hippen Lokalität hat er ein Auge auf Drogenkonsum. Er wird dort Zeuge, dass Ausländer, Touristen und manche Einheimische abendlich so viel Geld auf den Kopf hauen, wie gewöhnliche Inselbewohner über Wochen zum Leben ausgeben. Kuba wandelt sich, zumindest teilweise weht eine frische Brise, und die Frage stellt sich, wie weitgehend oder dauerhaft der Wandel sein werde.

Eine kleine Pause zwischen einer dunklen und einer düsteren Zeit.

Leonardo Padura: Anständige Leute

Die Antwort, die Conde auf die Frage gibt, ist pessimistisch, in seiner Eigensicht aber realistisch. Der Grund für diese Haltung liegt in der Vergangenheit, der eigenen wie auch der weiter zurückliegenden Kubas. Folgerichtig springt die Handlung des Roman zurück in die Zeit des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, den Jahren des Befreiungskampfes und der Selbstbehauptung gegen die Spanier und die USA. Erzählt wird von einer »verrückten und schmerzhaften Zeit, die in gewisser Hinsicht immer noch anzudauern schien.«

Padura spannt den erzählerischen Bogen weit und nutzt die unerfüllten schriftstellerischen Neigungen seiner Hauptfigur, um eine Verbindung herzustellen. Conde beschäftigt sich nämlich mit den Herren Arturo Saborit und Alberto Yarini, einem Polizisten, »der sich für anständig hielt«, und einem Zuhälterkönig, der zum Mythos geworden ist. Auf Yarinis Grab liegen noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts frische Blumen, wie Conde erzählt.

Das ist nur eine Verbindung von der Gegenwart in die Vergangenheit. Yarini, der Zuhälter, will hoch hinaus in der Politik, die bereits von jenen Übeln befallen ist, die auch über einhundert Jahre später auf Kuba vorherrschen. Allgegenwärtige Korruption und Misswirtschaft, begangen auch von den Helden des Befreiungskrieges, die zu Blutsaugern an jenem Staat wurden, für den sie gekämpft hatten. Polizist Saborit ist gegen die Verlockungen keineswegs gefeit, trotz seiner Eigensicht, »anständig« zu sein.

Die Parallelen zu den sozialistischen Revolutionären Kubas des 20. Jahrhunderts liegen auf der Hand, die Vergangenheit ist ein Schwarzer Spiegel für die Gegenwart. Man kann das sehen, etwa am Nebeneinander von bitterster Armut und Reichtum in Gestalt von Häusern und Wohnungen. Für das Kuba Mario Condes gilt, was Arturo Saborit in einen Erinnerungen über die eigene Zeit zu berichten wusste. 

Sein Heimatland bestand in Wirklichkeit aus mehreren Ländern, deren Lebensqualität sich stark voneinander unterschied.

Leonardo Padura: Anständige Leute

Das wiederum ist mit den Idealen der kommunistischen oder sozialistischen Ideologie unvereinbar, die Gleichheit, Progressivität und Überlegenheit postuliert. Und doch ist genau das Realität, was angeblich überwunden sein sollte. Paduras Anständige Leute wirf also die ganz große Frage auf, ob es überhaupt so etwas wie einen Fortschritt gibt oder ob (auf Kuba) alles im Kern nicht so geblieben ist, wie es lange vor der Revolution schon war. Die schamlose Selbstbereicherung der Herrschenden auf Kosten des Gemeinwesens ist nur eine Facette, die Abgründe reichen tiefer.

Ein Toter namens Reynardo Quevedo bringt die Handlung in Gang, denn die Suche nach dem Mörder ist selbstverständlich mit dessen Vergangenheit und der Kubas eng verschlungen. Mario Conde wird von seinem alten Kollegen Manolo um Mithilfe bei der Aufklärung gebeten, weil die Sicherheitsorgane wegen des Besuchs von Obama bis an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit beansprucht sind. Conde springt in die Bresche und dringt auf der Suche nach dem Täter immer weiter vor, mitten hinein in die – pardon – »Scheiße«.

Das also war der Bluthund, den die, die im Land das Sagen hatten, zur Aufrechterhaltung der ideologischen Reinheit auf die Bewohner der kubanischen Republik der Künste angesetzt hatten.

Leonardo Padura: Anständige Leute

Der ermordete und verstümmelte Quevedo war als »Zensor« oder »Großinquisitor« des Castro-Regimes tätig. Er verfolgte von der Leitlinie abweichende Künstler, stellte sie kalt, demütigte sie und trieb sie sogar in den Tod. Dabei presste er den von ihm Gegängelten ihre Werke ab und häufte ein kleines Vermögen an, denn die Kunst der Verfolgten war – außerhalb Kubas – harte Devisen wert. Gleichzeitig wurde er vom Regime mit Privilegien und Ehren bedacht, äußerliche Loyalität ist nämlich die wichtigste Währung des Totalitarismus.

Quevedo besitzt eine teure Wohnung mitten im Elend des Sozialismus, er hat die »Sonderperiode« (ein verharmlosender Begriff für Knappheit und Hunger) überstanden und lebt gut, trotz der Unfähigkeit des Staates, die Bevölkerung auch nur mit dem Nötigsten zu versorgen und den Verfall der Infrastruktur zu stoppen. Im eigenen Haushalt wird die Bedienstete zwar »Genossin« geheißen, obschon sie nichts anderes als eine Dienerin ist.

Bigotterie und Doppelzüngigkeit gehen noch ein Stück weiter. Totalitäre Regime, auch wenn sie sich progressiv oder sozialistisch oder kommunistisch nennen, sind oft homophob. Schon in seinem Roman Labyrinth der Masken hat Padura das Motiv aufgegriffen. In Anständige Leute nimmt er mehrfach darauf Bezug, eines der Opfer Quevedos, ein Theaterautor namens Marqués, spielte in Labyrinth der Masken eine wichtige Rolle.

Bring den Rum, verdammt, das muss gefeiert werden. Sie haben das Arschloch umgelegt!

Leonardo Padura: Anständige Leute

Angesichts der Schandtaten Quevedos ist diese Reaktion nicht weiter überraschend, eher die Offenheit, mit der die Freude über den Tod des ehemals Mächtigen geäußert wird, denn das Herausposaunen der Zufriedenheit über das gewaltsame Ableben des verhassten Apparatschiks macht verdächtig. Es ist naheliegend, dass die Tat aus dem Motiv der Rache ausgeführt wurde, in dieser Richtung ermittelt Conde selbstverständlich. 

Spätestens an diesem Punkt stellt sich ihm und dem Leser die Frage nach der moralischen Bewertung der Mordtat. Ein zutiefst unanständiger Zeitgenosse, der durch seine Tätigkeit das Leben von Künstlern ausgelöscht hat, indem er ihnen die Möglichkeit nahm, ihre Kunst auszuüben und dem Leben den Sinn, die Grundlage raubte,  wurde das Opfer einer Gewalttat.   Möchte man eigentlich, dass der Mörder gefunden wird?

Anständige Leute ist weniger die Auseinandersetzung mit der Frage, ob man in einem unanständigen, autoritären, menschenverachtenden Unrechtsstaat anständig sein kann oder – etwas weiter gefasst: ob das in einem schwierigen politischen und gesellschaftlichen Umfeld überhaupt möglich ist. Padura zielt eher auf eine Konfrontation des Lesers mit dem Wort »anständig« und seinem Gebrauch ab.

Im lexikalischen Sinne meint »Anstand« ein gutes, vielleicht schickliches Benehmen, mit dem man keinen Anstoß bei anderen erregt. Anstand ist also relativ, abhängig davon, wer das Verhalten eines Menschen wertet. Das gilt für alle Menschen, Gesellschaften und Institutionen, insbesondere jene, die auf einer totalitären Ideologie fußen.

Anstand ist in diesem Fall häufig eine Form des Konformismus, der völlig unmenschliche, ungesetzliche und sogar gegen die eigenen Regeln verstoßende Handlungen aber durchaus duldet, so lange der äußere Schein gewahrt werden kann. Quevedo ist in dieser Hinsicht ein Idealtyp dieses »Anstands«, innerhalb »des finsteren Innenlebens einer inquisitorischen Welt.«

Für viele Künstler war diese Zeit wie ein Aufenthalt in der Hölle, aus der oftmals jede Erlösung zu spät kam.

Leonardo Padura: Anständige Leute

So folgt der Leser also der Handlung in diesem wunderbaren Roman, der auf beiden Zeitebenen unterhaltend, spannend und wendungsreich ist, auch was die Auflösung des Falles oder der Fälle anbelangt. Denn auch in der Vergangenheit, also der Gegenwart von Saborit und Yarini, beschäftigt ein gruseliger Mord mit einer verstümmelten Leiche die Zeitgenossen und die professionellen Ermittler. Auch das ist eines der vielen verbindenden Motive über die Jahrzehnte hinweg.

Rezensionsexemplar.

Leonardo Padura: Anständige Leute
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Unionsverlag 2024
Gebunden 400 Seiten
ISBN: 978-3-293-00621-8

Richter / Kretschmer: Die Sieben Leben des Stefan Heym

Ein bewegtes Leben voller radikaler Wendungen und Brüche, immer politisch und historisch sowie literarisch hochproduktiv. Cover C.Bertelsmann, Bild mit Canva erstellt.

Es dürfte nicht allzu oft vorkommen, dass ein Gedicht Gegenstand einer Debatte im Landtag wird. Stefan Heym alias Helmut Flieg ist dieses Kunststück gelungen, es hat ihm allerdings weder Ruhm noch Ehre eingetragen. 1931 hat er ein Poem unter dem Titel Exportgeschäft veröffentlicht, das in der »Chemnitzer Volksstimme« abgedruckt wurde. Dafür hat er ein Honorar von dreißig Reichsmark erhalten und ist von der Schule geflogen.

Die »Sektion Chemnitz Mitte der NSDAP« forderte den Verweis des Schülers, die bedrückenden Illustrationen unterstreichen, wie sehr die Gedicht-Zeilen Empörung und Wut in bestimmten Kreisen hervorriefen: Aufgestachelte Leser, Schulpersonal und Schüler, die den »Schmierfink« körperlich traktierten, wobei es wenig hilfreich war, dass Helmut Flieg als Jude galt.

Ich benutze diese leicht gewundene Formulierung, um deutlich zu machen, dass »Jude« in den 1930er Jahren auch eine Zuschreibung von außen auf Menschen war, die gar keine Juden sein wollten bzw. im Leben nicht darauf gekommen wären, »jüdischer Abstammung« zu sein oder als »Jude« zu gelten. Die Nationalsozialisten haben viele Menschen erst zu Juden gemacht und – ganz wichtig – darauf reduziert. Helmut Fliegs Judentum ist eher weltlicher Natur gewesen.

Die Eltern bzw. der Familienrat, dem der Betroffene selbst gar nicht angehörte, beschlossen, dass der junge Dichter nicht auf der Schule und nicht in Chemnitz bleiben könne; das bildete den Auftakt zur ersten Flucht Fliegs / Heyms, diesmal noch innerhalb Deutschlands: Er zog nach Berlin. Mit dabei eine Schreibmaschine, die er für das Honorar gekauft hatte, und die ihm über viele Jahrzehnte während aller folgenden Fluchten treu blieb.

Wir exportieren! Wir exportieren!
Wir machen Export in Offizieren!
Wir machen Export! Wir machen Export!
Das Kriegsspiel ist ein gesunder Sport!

Der Anfang von Helmut Fliegs Gedicht: Exportgeschäft

Der Auslöser für das Spektakel, das Gedicht Exportgeschäft, ist in Die Sieben leben des Stefan Heym abgedruckt, wie viele andere auch. Sie sind für sich genommen nicht unbedingt Gipfelstürmer der Poesie, beeindrucken aber dennoch, weil sie großartig zu den Illustrationen passen und diese zu ihnen. Wenn Flieg einige Dutzende Seiten später Deutschland verlassen und nach Prag fliehen muss, sind die gedichteten Zeilen ganz wunderbare Spiegel seines Inneren.

Flieg / Heym ist immer politisch gewesen, so auch bei seiner literarischen Feuertaufe: Exportgeschäft befasst sich mit der militärischen Zusammenarbeit des Deutschen Reichs und Chinas, das neben Waffen, Ausrüstung und Ausbildung auch den »Export« von Offizieren vorsah. Das ist übrigens der Grund dafür, warum chinesische Soldaten auf Bilder aus dieser Zeit oder in Filmen wie John Rabe irritierenderweise Wehrmachtsstahlhelme tragen. In den 1930er Jahren hat Hitler entschieden, statt auf China lieber auf Japan zu setzen.

Chinesische Soldaten mit deutschen Stahlhelmen.

Kurz nach der Machtübertragung an Adolf Hitler floh Helmut Flieg nach Prag, unter dramatischen und prekären Umständen. Dort wird er zu Stefan Heym, ein Deckname zunächst, dann ein Pseudonym und wohl auch eine neue Identität. Es ist erstaunlich, wie sehr das Leben von Flieg / Heym mit den politisch-historischen Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts verknüpft ist und genau darin liegt ein ganz großer Vorzug dieser wunderbaren Graphic Novel.

Didaktisch ist das Buch sehr gut aufgebaut, der Leser ist (dank erklärender Kästchen, einem Zeitstrahl mit Ortsangabe) gut orientiert. Das Buch wirkt dabei sehr ausgewogen, erfreulicherweise wird der nämliche Anteil rechtsradikaler Serben an dem Weg in den Ersten Weltkrieg, wie ihn Christopher Clark in Die Schlafwandler herausgearbeitet hat, genannt, statt nur von deutscher Kriegsschuld zu schwadronieren.

Auch die fürchterlichen Abgründe in Stalins Reich bleiben nicht unerwähnt. Das ist in vielfacher Hinsicht wichtig, weil linke Intellektuelle in Westeuropa lange an einem Phantombild der Sowjetunion festhielten, Arbeitslager (Gulag), Massentötung, Erschießungen und gezielte Hungernöte mit Millionen Toten (Holodomor, Ascharschylyq) sowie die aggressive, militärische Expansion einfach ignorierten.

Die Nase rümpfen muss ich allerdings bei der Erwähnung des späteren Korea-Krieges, hier wird der Eindruck vermittelt, der ginge allein auf die USA zurück, denen auch noch die Brutalität des Krieges und die zivilen Kriegsopfer zugeschrieben werden – was tatsächlich Unfug ist. Die Autoren haben ihren Band so gestaltet, dass sie vor allem Heyms Texte sprechen lassen – möglicherweise hätte hier deutlicher werden müssen, dass es sich um die spezifische Sicht des Autors handelt.

Nachdem die USA in Korea einen für Stefan Heym unerträglichen und brutalen Krieg mit Millionen ziviler Opfer geführt hatten […], [gab] er sein Reserveoffizierspatent und seinen  Orden mit der Begründung zurück, dass dieser durch den ungerechten Krieg gegen das koreanisch Volk entehrt worden sei.

Richter / Kretschmer: Die Sieben Leben des Stefan Heym

Konsequent ist allerdings, dass Heym trotz seiner US-Staatsbürgerschaft, der Ablehnung, die ihm in Europa, namentlich Prag, Warschau und Moskau entgegengeschlagen ist, seine militärische Auszeichnung zurückgab. Diese Unangepasstheit setzte ihn zwischen alle Stühle, mit einer bemerkenswerten Beharrlichkeit hat der Autor an jedem Ort der Welt gegen das aufbegehrt, was ihm an den Lebensverhältnissen misshagte, sei es in den USA, sei es in der DDR.

So entstand ein Lebensweg, der bereits 1945 mit derart vielen dramatischen Wendungen versehen war, dass der Titel Die sieben Leben des Stefan Heym mehr als berechtigt erscheint. Es handelt sich tatsächlich um eine Novel, denn oft kommen Teile seines Werkes zu Wort, was in Kombination mit den wirklich großartigen Illustrationen einen Einblick in das Denken des Autors erlaubt.

Mir hat das Bild auf dem Cover besonders gut gefallen. Es wirkt, als stellte es den Einzelnen im (Mahl)Strom der Geschichte dar. Das mag etwas arg pathetisch klingen, doch trifft es das Leben des Schriftstellers recht gut, denn bei allem Engagement, bei allem Aufbegehren und Kämpfen, waren die Umstände immer mächtiger.

[Rezensionsexemplar]

Richter / Kretschmer: Die Sieben Leben des Stefan Heym
C.Bertelsmann 2024
Graphic Novel
Hardcover, 280 Seiten
ISBN: 978-3-570-10471-2

Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären

Ein schlichtes Cover eines Buches, das sich einem dramatischen Thema widmet. Cover Penguin-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Das Sachbuch Die Verlockung des Autoritären von Anne Applebaum ist ein Augenöffner. Jahrzehnte habe ich eine überregionale Tageszeitung mit hohem eigenen Anspruch gelesen und durch die Lektüre historisch-politischer Bücher ergänzt, das Zeitgeschehen aufmerksam verfolgt und darüber hinaus mit Analysen vertieft. Trotzdem sind einige Entwicklungen an mir vorübergegangen.

Spätestens mit dem Brexit, der für mich völlig überraschend kam, und der Wahl Donald Trumps war klar, dass etwas nicht stimmte, etwas, das von den mir zugänglichen Informationen und Analysen nicht ausreichend durchleuchtet wurde. Es gab schon vorher Warnsignale: Die Erwartungen an das Wahlverhalten wichen von den tatsächlichen Ergebnissen auch in Deutschland immer weiter ab, offenkundig verhielten sich viele Wähler unvorhersehbar.

Warum war das so? Wie konnte eine Entscheidung von derart gewaltiger Tragweite (Brexit) verloren gehen?  Wie konnte in den USA eine Gestalt á la Donald Trump gewählt werden? Woher kam der scheinbar plötzlich anschwellende Rechtpopulismus, woher Parteien wie Vox in Spanien? Eine Wirtschaftskrise á la 1929 stand als Erklärung nicht zur Verfügung, anders als etwa Reichskanzler Brüning hatten die Staaten auf die schwere Finanz- und Eurokrise angemessen reagiert, zudem waren die Sozialsysteme nicht dysfunktional.

Unter den passenden Bedingungen kann sich jede Gesellschaft von der Demokratie abwenden. Und wenn man überhaupt etwas aus der Geschichte lernen kann, dann vielleicht, dass alle unsere Gesellschaften dies früher oder später einmal tun werden.

Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären

Die Antworten, die mir präsentiert wurden, griffen zu kurz, sie berührten die Ursachen nur und waren fragmentiert. Ja, es wurde darauf hingewiesen, dass die Brexiteers auf unlautere Mittel zurückgegriffen hatten, vor und insbesondere nach der Wahl ein politische Klima geschürt, gelogen, aufgehetzt und auch Gesetze gebrochen. Aber wie weit das ging und welche konkreten Mittel verwendet wurden, ist mir erst durch Die Verlockung des Autoritären begreiflich geworden.

Ein Punkt ist sicherlich, dass ich erst 2020 mit der Nutzung der so genannten Sozialen Medien begonnen habe und seitdem aus eigener Erfahrung einige bekannte Mechanismen der Manipulation selbst kennengelernt habe und richtig begreifen konnte. Vielleicht ging das den Journalisten meiner überregionalen Zeitung ja auch so, vielleicht haben sie die Tragweite auch unterschätzt – Mutmaßungen, die bei der Lektüre von Die Verlockung des Autoritären unweigerlich aufkommen.

War das Phänomen überhaupt in vollem Ausmaß begreiflich? Viele Dinge schienen sich aus dem Nichts zu entwickeln, dabei haben sie einen langen Vorlauf gehabt und sich in einem Maße und Tempo (man könnte fast den »Blitzkrieg« als Begriff exhumieren) entwickelt, das vielleicht auch für kluge Beobachter wirklich unverständlich war.

Die Vernetzung von moderner Technologie, politischem Interesse sowie jener Gefühlslage in manchen gesellschaftlichen Kreisen, ausgeschlossen und zurückgesetzt zu sein, mit dem ruchlosen Gegenangriff autoritärer Regime á la Russland und China auf kommunikativem, technologischem Feld  war zumindest für mich in dem Ausmaß überraschend.

Ein gravierender Fehler war sicherlich, 1989 an einen Sieg und einen Automatismus zu glauben, der die Welt demokratischer machen würde, quasi von allein. Es gab auf dem langen Weg in die Finsternis, die nun herandräut, einige Momente des Lichts, etwa das Friedensabkommen um Nordirland, mit dem ein Schlusspunkt, ein vorläufiger Schlusspunkt unter einen Alptraum gesetzt wurde. Dem optimistischen Glauben an ein fortschreitendes Ausgreifen dessen, was ich als »Freien Westen« begreife, habe ich allzu gern nachgegeben.

Anne Applebaum liefert eine Menge Hinweise, die Antworten und weitergehende Fragen liefern. Ist dem Homo Sapiens überhaupt zu trauen? Die klugen Schöpfer der amerikanischen Verfassung, attestierten dem Menschen üble Grundneigungen, aus denen heraus immer wieder die Gefahr entspringen könnte, dass freie Gesellschaften den Weg zur Tyrannei beschreiten. Nach 1990 gab es auch Ansätze, doch haben sie sich als zu schwach erwiesen, um Putin, Orban, Kaczyński, Trump, Bolsonaro, Maduro und viele mehr zu verhindern.

Bei dieser Veränderung ging es nicht darum, den Staatsapparat zu optimieren, sondern ihn auf Parteilinie zu bringen und die Gerichte gefügig zu machen.

Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären

Warum das so ist und wie sich die Entwicklung vollzogen hat, werde ich hier nicht im Detail aufführen. Dazu lese man dieses vorzügliche Buch einer in Amerika geborenen, seit 1988 in Polen lebenden, polyglotten und scharf analysierenden Autorin. Deutschland kommt in dem Buch nicht vor, es konzentriert sich auf Polen, Ungarn, England und die USA, mit einigen Abstechern nach Spanien (sehr spannend!), Italien und Frankreich.

Für deutsche Leser ist das durchaus ein Glücksfall, sofern man nicht alles in Form von weichgekochtem politischen Haferbrei verköstigen möchte. So kann man selbst überlegen, welche der genannten Faktoren, Entwicklungen, Entscheidungen und Zufälle zu dem Aufstieg der autoritären Rechten und Linken kommen konnte. Tatsächlich lässt sich einiges ablesen, übertragen und den Leser schaudern.

2010 waren weder die Tories noch die US-Republikaner so radikal dem Brexit- und MAGA-Abgrund verfallen, wie in der Gegenwart. Die CDU/CSU und die FDP waren es bis 2021 auch nicht; seitdem gibt es in diesen Parteien Entwicklungen, die Sorgen bereiten. Eines jedenfalls hat den anderen Parteien nicht geholfen, nämlich dass die Mehrheit das so nicht wollte, zum Beispiel einen harten Brexit. Eine Lehre aus Die Verlockung des Autoritären ist, dass es für eine Katastrophe keine Mehrheit, sondern nur eine zu allem entschlossene Minderheit braucht.

Sehr spannend sind die Erklärungsansätze, derer sich Applebaum bedient. Grundsätzlich verortet sich Autoritarismus unabhängig von politischen Schubladen á la »rechts« und »links«; es handelt sich um Menschen, die »grundsätzlich antipluralistisch« denken, die keine »Komplexität aushalten«. Linke Ideologen des Totalitarismus finden sich nach Applebaum vor allem an Unis, Rechte hingegen in Regierungen. Das mag man mit Blick auf Cuba, Venezuela, Lulas Brasilien, Parteien wie Die Linke und BSW nicht recht unterstützen, zumal die Autorin selbst auf haarsträubende Ansichten linker Totalitärer in der Labour Party verweist.

Das Konzept der »clercs«, intellektueller Ideenspender in totalitären Ideologien,  ist hoch spannend, Applebaum beleuchtet das Treiben derartiger Gestalten in der Gegenwart. Ein zentraler Punkt ist auch Lenin und sein 1917 entstandener Mechanismus des Machterhalts, der Links und Rechts verbindet, denn es handelt sich nicht um eine Ideologie, sondern um eine Organisationsform.

Neu im 21. Jahrhundert ist der Wechsel von der großen (Bolschewiki / Nazis) zur mittelgroßen Lüge: Obama wäre nicht in den USA geboren, George Soros wäre ein Verschwörer, der den Austausch der autochthonen Bevölkerung durch eine muslimische betreibe usw. Auf dieser Basis können Menschen ein Bekenntnis abgeben und in den totalitären Kreis eintreten oder werden ausgegrenzt. Einleuchtend ist auch das Konzept des »restaurativen Nostalgikers«, jenes Phänotyps in England, der als Minderheit das ganze Land in das Brexit-Desaster führte.

Ursachen waren auch keine mystischen ›Geister aus der Vergangenheit‹, sondern die konkreten Taten von Menschen, denen die bestehende Demokratie missfiel.

Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären

Schließlich widmet sich Applebaum auch den Werkzeugen und Mechaniken in einer Weise, die ebenso erhellend wie erschreckend ist. Lügenkaskaden etwa, die ohne Konsequenzen bleiben; oder jene groteske Ablösung von Wirklichkeit und Ideologie, wenn ausgerechnet Putins Russland als »gottgefälliges Land« besungen wird, wenn also die Realität keine Rolle mehr spielt. Wer wüsste nicht aus dem Stand einige Beispiele dafür zu nennen?

Um zum Anfang dieses Textes zurückzukehren: Welche Rolle nimmt die etablierte Presse in diesem Spiel ein, was ist mit dem Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk? Werden sie ihrer Aufgabe als Korrektiv gerecht oder lassen sie sich dank selbstgefälliger Eigensicht instrumentalisieren und am Nasenring durch die Manege ziehen? Zweifel sind erlaubt. Das Konzept der »Neutralität« und »Ausgewogenheit« der ÖRR wird überwiegend rechnerisch befriedigt und gibt antidemokratischen oder sachlich abwegigen Propagandisten eine Plattform.

Eine Grenze ist auch dann überschritten, wenn eine große, überregionale Tageszeitung im Vorfeld einer Bundestagswahl »Werbung« abdruckt, die nichts als politische Hetze darstellt. Dann ist die Zeitung allen Beteuerungen zum Trotz zum Teil jenes antidemokratischen Treibens geworden, an dessen Ende die Dämmerung der Demokratie und der Schritt in den Totalitarismus stehen kann.

[Rezensionsexemplar]

Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären
Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Pantheon Verlag 2022
Klappenbroschur 208 Seiten
ISBN: 978-3-570-55459-3

Leonardo Padura: Das Meer der Illusionen

Der letzte und beste Teil des Havanna-Quartetts um Teniente Mario Conde. Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.

Während der Lektüre habe ich mir oft die Frage gestellt, warum dieser Kriminalroman so viel charmanter, tiefgründiger und unterhaltsamer ist als seine deutschen Pendants, die ich zuletzt gelesen habe. Eine Antwort darauf ist, dass es sich gar nicht um einen Krimi handelt, obwohl die Hauptfigur Teniente Mario Conde als Polizist arbeitet und einen Mordfall aufzuklären hat. Das Meer der Illusionen ist vor allem Literatur, die sich mit grundlegenden Fragen des Lebens befasst.

Ein Toter wird aus dem Meer gefischt, er wurde mit einem Schlag auf den Kopf getötet und obendrein kastriert. Bei dem Mann handelt es sich um einen Rückkehrer, einst ein hohes Tier der kubanischen Elite hat er sich bei einem Aufenthalt in Spanien abgesetzt und der Insel eigentlich für immer den Rücken gekehrt. Eine der wesentlichen Fragen, denen der Ermittler Conde nachgehen muss, ist das Motiv der Rückkehr nach Kuba, eine sehr ungewöhnliche Handlungsweise.

Kuba ist ein Land, das – im Gegensatz zum Mauer- und Todeszaun-Staat DDR – eine natürliche Umzäunung hat: das Meer. Trotz gewaltiger Gefahren machten und machen sich Menschen auf, um die Insel zu verlassen, alle in irgendeiner Form von der Idee beflügelt, es anderswo besser zu treffen als im nicht enden wollenden Mangel. Wie bereits der Buchtitel andeutet, trifft diese Absicht auf Hindernisse, die nicht einfach und manchmal auch gar nicht überwindbar sind.

Das Motiv des Fortgehens durchzieht mehr oder weniger intensiv alle Romane Paduras, kein Wunder, ist es doch ein ganz wesentliches Element des Lebens auf Kuba, spätestens seit der Revolution. Diese hat viele Begüterte aus dem Land getrieben, selbstverständlich konnten diese nicht alles mitnehmen in ihr neues Leben; umfangreiche Enteignungen folgten und da autoritäre Regimes generell anfällig für Korruption sind, tat sich ein weites, kriminelles Feld auf.

Meine Geschichte beginnt auch vor langer Zeit, aber ich kann sie euch erst jetzt erzählen … weil ich nämlich heute bei der Arbeit gesagt habe, dass ich aus Kuba fortgehe.

Leonardo Padura: Das Meer der Illusionen

Leonardo Padura benutzt die Form des Kriminalromans, um seinen eigenen thematischen Interessen nachzugehen: die Schilderung des kubanischen Lebens. Er erlaubt sich stilistische Brüche, Monolog-Passagen, in denen er Personen ausführlich zu Wort kommen lässt. Eine Wortmeldung wirkt wie eine Art Treibanker in der Geschichte der Insel Kuba, die ins 16. Jahrhundert, eigentlich sogar noch einmal eintausend Jahre weiter zurückreicht, in die Zeit des alten China.

Wie das mit dem Kuba Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zusammenhängt, macht deutlich, dass die Insel in der Karibik vielfältig mit der Welt verwoben war, ist und immer sein wird. Kuba gehörte zum spanischen Weltreich, wie ganz Süd- und Mittelamerika, aber auch die Philippinen; Orte, die wichtige Bestandteile im globalen Handel darstellten, eine Art Lieferkette, um die spanische Krone mit dem dringend benötigten Gold und Silber zu versorgen.

Dieser Ausflug in die Geschichte es so typisch für Paduras Romane, in denen Geschichte und Gegenwart unlösbar miteinander verschlungen sind. Das ist auch – gewollt oder nicht – ein Gegenbild zur isolierten Insel unter der Fuchtel der ewigen Castro-Diktatur. Der Monolog-Treibanker liefert dem Roman und der Auflösung des Mordfalles die nötige Tiefe – und das wäre der zweite Grund, warum Paduras Kriminal-Romane so gut erscheinen: Tiefe wird nicht vorgeschützt, sie ist tatsächlich da, für den Leser spürbar.

Das Meer der Illusionen vermittelt dank seiner erzählerischen Qualität eine Menge Atmosphäre. Ein Sturm rast auf Kuba zu, wie jedes Jahr im Frühling und Herbst, was Padura zu schönen, dichten Schilderungen animiert. Überhaupt stößt man immer wieder auf wunderschöne Formulierungen, wenn Conde etwa Bücher über sozialistische Ökonomie erspäht, die im Regal staubbedeckt dösen. Die für mich schönste ist eine Reminiszenz an Kafka und seine Erzählung Die Verwandlung:

El Conde zündete eine Zigarette an, nachdem er seine große Morgentasse Kaffee getrunken hatte, den einzigen Zaubertrank, mit dessen Hilfe es ihm gelang, sich von dem Käfer, der er nach jedem Aufwachen war, wieder in einen Menschen zurückzuverwandeln.

Leonardo Padura: Das Meer der Illusionen

Vor allem aber sind die Personen nicht prätentiös. Sie geben nicht nur nur vor, etwas zu sein, sie sind es. Hauptfigur Mario Conde sitzt in einem falschen Leben als Polizist fest, wäre er doch gern Schriftsteller, der etwas Untergründiges und Berührendes schreibt, eine unerfüllte Sehnsucht, fern der Verwirklichung. Sein Freundeskreis, der familiären Charakter hat, besteht aus Menschen, die jeder für sich eine sehr authentisch wirkende Geschichte hat.

Es sind Menschen, keine Figuren. »Der Dünne« etwa, ein schwer übergewichtiger Mann in einem Rollstuhl, an den er gefesselt ist, seit ihm in Afrika, in Angola eine Kugel das Rückenmark verletzt hat. Kubanische Truppen haben dort, fern der Heimat, einen brutalen Stellvertreterkrieg geführt, der lange nach dem letzten Schuss verheerende Folgen zeitigt.

Kuba ist voll von solchen Geschichten. Die verfluchte Revolution, die in Gestalt von Che Guevara noch immer in linken Kreisen auf naive Weise verherrlicht wird, folgte auf eine ebenso verfluchte Diktatur, der keineswegs weniger verfluchte politische Zustände vorangingen, dieser Umsturz ist bis in die Gegenwart bestimmend. Für jene, die auf der Insel ausharren, wie auch für alle, die gegangen sind.

Das Flucht-Motiv, das Padura in einem eigenen Roman Wie Staub im Wind noch einmal ausführlich und unter andere Vorzeichen durchdekliniert hat, spielt in Das Meer der Illusionen auch eine zentrale Rolle. Hier liegt der Schlüssel für die Lösung des Mordfalles, im Detail, aber auch allgemein, denn viele Gewalttaten auf Kuba gehen auf Folgen des Fluchtdranges zurück.

Das alles ist in diesem wundervollen „vorgeschützten“ Kriminalroman zu einer sehr lesenswerten Geschichte verdichtet worden, spannend, tiefsinnig, wendungsreich, so vertraut und gleichzeitig neu. Literatur im Gewand eines Krimis.

Leonardo Padura: Das Meer der Illusionen
Aus dem kubanischen Spanisch von Hans-Joachim Hartstein
Unionsverlag 2006
Taschenbuch 288 Seiten
ISBN 978-3-293-20374-7

Steffen Kopetzky: Damenopfer

Dieser wunderbare Roman nähert sich der historischen Person Larissa Reissner auf eine ebenso ungewöhnliche wie gelungene Weise. Cover Rowohlt Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Der König ist die wichtigste, die Dame die mächtigste Figur auf dem Schachbrett. Fällt der König, ist das Spiel unwiderruflich verloren, fällt die Dame, bedeutet das in der Regel einen fast vernichtenden Verlust für die betroffene Seite. Fast! Ein gezieltes Damenopfer kann in seltenen Fällen auch einen Sieg erzwingen. Wenn beispielsweise für die geopferte Dame ein Bauer zur gegnerischen Grundlinie vorrücken und gegen eine neue Dame eingetauscht werden kann; oder falls es gelingt, den König der Gegenseite nach dem Opfer zwingend Schachmatt zu setzen.

Das höchste und wirkungsvollste: das Damenopfer.

Steffen Kopetzky: Damenopfer

Bauer und Dame teilen sich auf dem Schachbrett das Schicksal, Figuren in einem Spiel zu sein, dessen Verlauf andere bestimmen. Das gilt auch jenseits des Schachbretts: Der Lebenspfad Larissa Reissners windet sich zwischen Revolution und bolschewistischem Putsch 1917, dem brutalen Bürgerkrieg in Russland und den Häutungen der Herrschaft Lenins hindurch und endet jäh, als sich das blutige Haupt Stalins an der Spitze jenes Staates erhebt, der das Paradies auf Erden versprach und eine nie dagewesene Hölle schuf.

Der Leser folgt in Steffen Kopetzkys Damenopfer dem Schicksal Larissa Reissners für die Jahre 1922 bis 1926, was sich beinahe wie eine Falschaussage anfühlt, denn es suggeriert eine Art voranschreitenden Pfad. Das Lesen fühlt sich aber mehr an, wie ein Gang durch Hogwarts: Die Richtung des Schreitens ändert sich wie die schwingenden Treppen der Zauberschule, während zu dem Vorübergehenden aus den an der Wand hängenden Gemälden gesprochen wird. Zeitgenossen, die auf irgendeine Weise mit Reissner zu tun hatten, kommen zu Wort, mal Ho-Chi-Minh, mal ein erlesener Kreis britischer Experten im Rahmen einer Sitzung, die Dichterin Anna Achmatowa, Leo Trotzki.

Diese Form der Installation verweigert dem Leser das gemächliche und komfortable Abtauchen in eine fiktionale Erzählwelt, immer wieder bricht der Erzählstrom, wird man herausgerissen und konfrontiert mit kommentierenden, (ab-)wertenden, bewundernden, trauernden und befremdenden Äußerungen über die Hauptfigur. Die gewinnt dabei an Gestalt, in einer Weise, wie es mit einer anderen Erzählstruktur nur sehr schwer und umständlich umzusetzen wäre.

Larissa Reissner tritt dem Leser als vielfarbig schillernde Person entgegen, Kommunistin aus bürgerlichem Hause, eine Schönheit mit französischem Parfum und Zigarren aus London, hochfliegende Ideale, eskapistischer Freiheitsdrang mit einem Hauch Femme fatale und einem scharfen Verstand  – fast das Idealbild der jungen, emanzipierten Frau der 1920er Jahre. Sie ist eine starke Frau; und sie scheitert tragisch, mit ihr auch die Revolution und ihre Ideale.

Solche Solitäre wie Larissa waren selbst am Nachthimmel Groß-Berlins selten wie schweiftragende Kometen.

Steffen Kopetzky: Damenopfer

Um Spannung im banalen Sinne geht es in Damenopfer nicht. Kopetzky verzichtet, auf was sich viele Romanschreiber frohlockend gestürzt hätten. Eine fehlgeschlagene Revolution in Deutschland, ein kommunistischer Aufstand ohne jede Aussicht auf Erfolg, Verschwörungsraunen von Verrat, zwielichtige, wetterwendische Opportunisten-Politik, die einen Pakt mit dem eigentlichen Todfeind (Reichswehr) schließt – das alles bildet den politischen Mahlstrom, der Larissa Reissners Leben umtost und sie fortreißt.

Die montierende Romanstruktur stellt zeitlich, räumlich und inhaltlich getrennte Ereignisse und Begebenheiten einander direkt gegenüber. Im ersten Kapitel, das mit der klassischen Märchenfomel »Es war einmal …« überschrieben ist, steigen 1922 ebenso kühne wie idealistische Pläne, Träume und Ambitionen in den klaren, blauen Himmel über Afghanistan auf, strahlend bunte Heißluftballons.

Ein Kapitel später wird der Leser nach dem Höhenflug in den Dreck geschleudert, ein finster-grau-trüber Februar in der real-existierenden Sowjetunion, »Totengräber« gehen ans Werk, heben das Grab aus, in dem der Leichnam der völlig unvermutet verstorbenen Heldin bestattet werden soll. Ein irrer Kontrast, angereichert durch abwegige Gedankenflüge einer Flucht von der Erde, einer unbewohnbaren, menschenunwürdigen Erde.

Also war Totengräber mit Sicherheit der falsche Name, man war doch vielmehr Geburtshelfer.

Steffen Kopetzky: Damenopfer

Die Dramaturgie der beiden Anfangskapitel ist einigermaßen gnadenlos. Afghanistan ist als Ort des Handlungsauftakts ohnehin eine Überraschung, doch klärt sich bald, warum er so gut gewählt ist. Reissner ist Teil der sowjetischen Delegation in diesem Land, das als einziges den jungen, bolschewistischen Staat anerkannt hat. Kein Wunder angesichts der herrschenden Ideologie und den Unbilden des wütenden Bürgerkrieges, in dem die westlichen Mächte kräftig mitmischen.

Die aktivistische und idealistische Larissa richtet ihren scharfen geopolitischen Blick auf den britischen Imperialismus, das globale Weltreich ist ihr ein Dorn im Auge – sie hält es für die Zwingfeste der Ausbeutung des Proletariats und will es stürzen. Dabei stößt sie auf die  Pläne eines deutschen Offiziers namens Oskar von Niedermayer, die einen Angriff auf die britische Kolonie Indien von Afghanistan aus durchspielen – ein gefundenes Fressen für Reissner, die sich alsbald auf die Suche nach dem Urheber dieses Vorhabens macht.

Man trifft sich, später, sehr viel später im Buch, um ein geheimes Projekt voranzutreiben, im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee, jenen Kräften, die knapp zwei Jahrzehnte später den blutigsten und brutalsten Krieg gegeneinander führten.

Dem geht eine lange, gewundene Annäherung voraus, die für Larissa Reissner auch eine Distanzierung von dem darstellt, was sie zunächst enthusiastisch vertreten hat. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits unendlich viel verloren, es hat sich bewahrheitet, was der spanische Schriftsteller Javier Marías in seinem Opus Magnum Dein Gesicht morgen warnend geäußert hat:

Niemand weiß je, was er in Gang setzt, unter keinen Umständen, und alles kann zu jedem beliebigen Zweck dienen, zu diesem und zum Gegenteil.

Javier Marías: Dein Gesicht Morgen

Im Spiel der Macht dienen Ideen nicht selten als Rechtfertigung unerhörter Grausamkeiten. Hätte Karl Marx ahnen können, zu was seine Ideen in den Händen Lenins und Stalins entarteten? Hätte die Afghanistan-Larissa ahnen können, wem sie in die Hände spielt, um ihr Ziel, die Niederwerfung des anglo-amerikanischen Kapitalismus und die globale Revolution zu erreichen?

Schwerwiegende Fragen, die leicht in stiefeliges Stapfen münden könnten. Steffen Kopetzky ist jedoch nicht nur ein enorm bildstarker Autor, sondern versteht es auch, seiner Sprache mit ironisch-komischen Wendungen Leichtigkeit zu verleihen. Bei aller Tragik um das Schicksal Larissa Reissners ist die Lektüre von Damenopfer ein Genuss. Ganz am Ende sorgt eine Postkarte aus dem Jahr 1948, dem Jahr der Berlin-Blockade, mit einem optimistischen Schlachtruf für einen lichten Funken im Abgrund.

[Rezensionsexemplar]

Steffen Kopetzky: Damenopfer
Rowohlt Berlin 2023
Gebunden 448 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0151-6

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