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Schlagwort: Politik (Seite 1 von 10)

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste

Leipziger Messe, 1987, Franz-Josef Strauß schüttelt Erich Honecker die Hand. Die Nachricht vom Milliarden-Kredit an den wirtschaftlich in schwerer See befindlichen Staat schlug damals ein wie eine Bombe. Wie es dazu kam? Jakob Heins Roman bietet eine höchst unterhaltsame, heitere Erklärung. Cover Galiani Berlin, Bild mit Canva erstellt.

Frieden gibt es am Ende des Romans von Jakob Hein nicht, Freude und Eierkuchen hingegen schon. Grischa Tannbergs verwegene Idee löst trotz der weißen Friedenstaube auf dem Cover eben nicht einmal beinahe das von vielen ersehnte weltweite, dauerhafte Schweigen der Waffen aus. »Kunstvolles Warten« ist angesagt, ebenjene Disziplin, die der Leser bereits früh im Roman kennenlernt.

Die Handlung setzt mit dem Dienstantritt Grischas in der Staatlichen Planungskommission der DDR ein. Das ist jener Verwaltungsapparat, der für den Fünfjahresplan und damit die Ausrichtung der Planwirtschaft im real scheiternden Sozialismus zuständig war. Angeblich soll schon Georg Lichtenberg gewusst haben, dass Voraussagen schwierig seien, insbesondere wenn sie die Zukunft beträfen. Eine ganze Volkswirtschaft fünf Jahre im Voraus zu planen scheint schlichtweg größenwahnsinnig.

Auf Grischa wartet ein Arbeitsplatz, bei dem die große Herausforderung in jenem »kunstvollen Warten« besteht. Er ist für die »kleineren Bruderländer« der DDR zuständig, genauer gesagt für die DR Afghanistan. Drei Jahre zuvor waren sowjetische Truppen in das zentralasiatische Land einmarschiert, um das dortige kommunistische Regime unter Babrak Karmal vor dem Zusammenbruch zu bewahren.

Diese Abgründe werden im Buch nicht weiter erörtert. Für die Abteilung in der PlaKo, die sich um die freundschaftliche Zusammenarbeit mit diesem Bruderland kümmern soll, ist wichtiger, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zu Afghanistan eine Einbahnstraße sind: Dort wird alles gebraucht, Fahrzeuge, Maschinen, Konsumgüter, Dünger, im Gegenzug hat das Land »nichts« zu bieten. Wie die DDR-Mark ist der Afghani nicht das Papier wert, auf dem er gedruckt ist.

Das Zeug ist das reinste Devisengold, pro Gramm, das davon verloren geht, rollt hier ein Kopf.

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste

Aus dem »nichts« wird bei näherem Hinsehen ein »fast nichts«, denn Afghanistan hat immerhin »Schlafmohn und Cannabis« für den unersättlichen und zahlungskräftigen Weltmarkt zu bieten. Problematische Substanzen, ungeeignet für jede offizielle wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Afghanistan und DDR. Das sozialistische Werktätigenparadies hat laut eigenem Bekunden keinerlei Probleme mit Drogentoten (wie auch nicht mit Nazis), der Handel mit verfemten Mittelchen verbietet sich also.

Oder vielleicht doch nicht? Der Boden ist bestellt für eine groteske, aberwitzige und furchtbar komische Unternehmung, in deren Mittelpunkt ebenjenes Cannabis steht. Die Friedenstaube auf dem Cover trägt die Pflanze nicht umsonst sehr dekorativ im Schnabel. Wie immer überlebt der Plan nicht die erste Gefechts- respektive Realitätsberührung, am Ende steht kein Frieden, aber ein veritabler, rauschhafter Milliardenkredit aus dem Westen für die dem Bankrott entgegentaumelnde DDR.

Zeitgenossen hätten den Einschlag eines Kometen oder von Thors mythischem Hammer Mjöllnir kaum mit weniger Erstaunen aufgenommen, wie die Nachricht von der Offerte eines derart hohen Kredites für den ideologischen Feind jenseits des Eisernen Vorhangs – ausgerechnet durch den erklärten Kommunistenfresser Franz Joseph Strauß, für den die so genannte Entspannungspolitik der Sozialdemokraten ein blutrotes Tuch war.

»Was? Der Strauß?«, fragte Grischa.

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste

Die Frage nach dem Motiv für diese merkwürdige Tat ist eine Leerstelle, ein gefundenes Fressen für Autor Jakob Hein und seine Leser. Er lässt Grischa ans Werk gehen. Zum Entsetzen seines Vorgesetzten ist der eifrige Jung-Aktivist nicht mit »kunstvollem Warten« zufrieden, sondern recherchiert, überdenkt und entwickelt eine tatsächlich verwegene Idee, um den Handel mit Afghanistan in Schwung zu bringen.

Medizinalhanf heißt das Mittel, das kaum weniger als ein Wunder vollbringen soll: den Bauern im Bruderland Afghanistan ein geregeltes Einkommen  bieten und der DDR dringend benötigte Devisen  beschaffen. Im Gegensatz zu Heroin oder Kokain rangiert Cannabis in den Amtsstuben des Sozialismus  auf dem Niveau von Alltagsdrogen á la Alkohol und Tabak. Man kann es also an der Grenze an Westler verticken. Das Drama nimmt seinen Verlauf, ein Wind des Wandels weht durch einen Grenzübergang und droht zu einem veritablen Sturm zu werden, der in Bayern auf einem verschwiegenen Bauernhof glücklich abgewendet wird.

Ist Jakob Heins Roman ein Märchen, geschichtsklitternd obendrein? Nein. Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste erzählt unter dem Deckmäntelchen grotesker Heiterkeit eine Geschichte von Subversion, er lässt seine Helden auf ihre Weise aus überkommenen, verkrusteten und gerontokratischen Zuständen ausbrechen. Vielleicht ist der Roman in diesem Sinne auch ein Handzettel für die nähere Zukunft?

Ganz großartig ist der Ansatz, den subversiven Impuls aus gutem Willen und staatskonformen Handeln mitten aus dem Herzstück des Staates DDR heraus entstehen zu lassen. Der aufgeplusterte Sozialismus entpuppt sich als völlig ruchlos nach dem Rettungsanker westlicher Devisen grabschender Moloch, der alle Werte längst verraten hat. Enttarnt wird er ausgerechnet durch einen, der an die Ideale geglaubt hat – oder hätte glauben können – und mit naivem Gutwillen die lächelnde Maske vom monströsen Antlitz reißt.

[Rezensionsexemplar]

Jakob Hein: Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste
Galiani, Berlin 2025
Gebunden, 256 Seiten
ISBN: 978-3-86971-316-8

Thomas Medicus: Klaus Mann

Das Zitat ist Programm: Die Todessehnsucht war (neben Drogensucht) jahrelanger Begleiter des ruhelosen Schriftstellers Klaus Mann. Sein natürliches Habitat war die Großstadt, er lebte ohne festen Wohnsitz in Hotels, Pensionen und bei Freunden. Cover Rowohlt Berlin, Bild mit Canva erstellt.

Zwei überväterliche Großschriftsteller an einem Tag, das war wohl zu viel für den ewigen Sohn.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Todessehnsucht und Drogenmissbrauch gehörten zu den Wegbegleitern von Klaus Mann. Die Biographie von Thomas Medicus beginnt folgerichtig mit dem Ende, dem Suizid am 21. Mai 1949. Es war nicht der erste Anlauf, dem Leben mit einem Freitod ein Ende zu setzen, gar nicht zu reden von den zahllosen Gedanken an den Tod, der ewigen Sehnsucht nach dem Tod.

In seinen 42 Lebensjahren zwischen 1906 und 1949 erlebte Klaus Mann die dramatischen Brüche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1914, 1918 und insbesondere 1923 prägten ihn, der damit zur so genannten Kriegsjugendgeneration zählt. Die ihnen attestierten Attribute, Härte, Kühle, Verschlossenheit, Durchsetzungsfähigkeit waren Klaus Mann aber völlig fremd.

Gerade in den zwanziger Jahren lebte der Sohn des berühmten Thomas Mann und Neffe von Heinrich Mann auf schnellem, großem Fuß, sein natürlicher Lebensraum war die Großstadt, Theater, Amüsement, Clubs, Partys, Ausschweifungen, Sex, Alkohol, später immer mehr Drogen. Auftritte vor Publikum, auf der Bühne als Schauspieler oder Autor, der Hang zur Selbstinszenierung. Ein Dandy in perfekt sitzenden Anzügen, der sich bald als Dauerbewohner von Pensionen und Hotels durchs Leben schlug, immer in Geldnöten, oft alimentiert von seiner Mutter.

Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war eine Epoche auf Messers Schneide. Es gibt Menschen, die ein Zeitalter deshalb verkörpern, weil sie dessen Höhen und Tiefen, Irrrungen und Wirrungen, vor allem Gefährdungen bis in die letzte Faser durchleben wie durchleiden. Klaus Mann ist so eine Symbolfigur.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Klaus Mann war hochsensibel, sehr verletzlich, fiel als Homosexueller aus dem gesellschaftlich als Norm akzeptierten Rahmen, insbesondere, weil er – anders als sein Vater – aus seinen homoerotischen Neigungen keinen Hehl machte. Zudem stand er als ewiger Sohn unter immensem Druck, ein Wettlauf als Schriftsteller mit dem übermächtigen Vater, den er nicht gewinnen konnte.

Dabei schrieb Klaus Mann mit großer Leichtigkeit und immenser Geschwindigkeit seine Werke. Biograph Medicus verweist darauf, dass die Detailarbeit, das prüfende Feilen und Durchforsten der Bücher, nicht zu den Stärken des Autors gehörten. Ihnen haftet oft etwas Flüchtiges an. Stoffe wie Alexander oder Sinfonie Pathetique sind weder bis ins Detail durchrecherchiert noch loten sie musikalische Tiefen aus. Sie haben eine stark autobiographische Note. 

Neben den Romanen und autobiographischen Texten schrieb Klaus Mann Bühnenstücke, Kurzprosa, Lyrik, aber auch Beiträge für Zeitungen, Journale, Anthologien, gemeinsam mit seiner Schwester Erika auch Reise- und Kriegsberichte. Er versuchte sich auch als Herausgeber. Obendrein gibt es unveröffentlichte Texte, etwa eine Biographie zu Horst Wessel – ein erstaunliches Projekt von Klaus Mann.

Seine anwachsende Liebe zu Frankreich bildete den Kern seiner Entwicklung zum kosmopolitischen Intellektuellen. Dass Klaus Mann 1933 nicht eine Sekunde zögerte, dem nationalsozialistischen Deutschland den Rücken zu kehren, hatte auch damit zu tun.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Der schwerwiegendste Bruch folgte 1933 mit dem Machtantritt Adolf Hitlers. Aus dem freiwilligen Vagabunden wurde ein Exilant. Es war ein dramatischer Unterschied, auch wenn sich äußerlich das Umherziehen kaum änderte und Klaus Mann in Frankreich einen Ort hatte, an dem er sich – soweit möglich – wohlfühlte. Doch die Entwurzelung traf ihn schwer, er konnte nicht nach Deutschland zurück, das Gefühl des Ausgestoßenseins traf ihn wie alle anderen Exilanten.

Zu den Gefährdungen und Wirrungen der 1930er Jahre gehört das Drama, dass mit der stalinistischen Sowjetunion eine zweite, auf einer Vernichtungsideologie basierende Diktatur in Europa ihr blutiges Haupt erhob. Die Todfeindschaft zum Nationalsozialismus war das einzige Pfund, mit dem Stalins Reich wuchern konnte – bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1939, der unter den ohnehin zerstrittenen Emigranten die bestehenden Gräben zu offner Feindschaft und Hass vertiefte.

Klaus Mann war kein Kommunist, eher ein idealistischer Schwärmer. Als Homosexueller gehörte er zu einer von den Linken wie den Rechten angefeindeten Gruppe; Bertholt Brecht hat sich in dieser Hinsicht mit bemerkenswert schäbigen Äußerungen hervorgetan.

Eine Reise in die Sowjetunion brachte Ernüchterung, die Klaus Mann im Tagebuch klar äußerte; öffentlich blieb er indifferent, obwohl Andre Gide, sein großer Leuchtstern unter den Denkern, mit bemerkenswerter Klarheit die Abgründe von Stalins Reich beschrieb. Familie ging vor Politik. Wegen Heinrich Manns (zutiefst naiver, von Stalins Schergen ausgenutzter) kritikloser Haltung gegenüber der stalinistischen Sowjetunion unterließ Klaus Mann ein klares Statement.

Was erste Jahrzehnte später zu den Grundelementen der Kritik am real existierenden Sozialismus gehörte, formulierte Gide bereits 1936/37 mit großer Klarheit.

Thomas Medicus: Klaus Mann

Einige Jahre später ergab sich für Klaus Mann daraus eine erhebliche Gefährdung. Als die USA nach langer Neutralität durch die Kriegserklärung Deutschlands und Italiens endlich gegen Hitlerdeutschland militärisch vorgingen, wollte er seinen Beitrag leisten. Aus körperlichen und vor allem politischen Gründen wurde er zweimal ausgemustert, vom FBI mehrfach durchleuchtet, verhört und nachtragenden Antikommunisten denunziert.

Klaus Mann befand sich in einer dramatischen Krise, hinter ihm lag ein demütigendes Scheitern mit seiner Zeitschrift Decision, hinzu kamen persönliche Rückschläge, Erkrankunge, die übermächtige Drogensucht und die immer stärker werdenden Todessehnsucht. Seine Schwester Erika ging zunehmend eigene Wege, die gefühlte Isolation wurde stärker, der Hemmschuh zum Suizid fiel weg. Die Teilnahme am Kampf gegen Deutschland sollte für einige Zeit zum Rettungsanker werden.

Klaus Mann erhielt in Uniform Aufschub. Er wurde amerikanischer Staatsbürger und Teil der US-Streitkräfte. Seine Kriegszeit verbrachte er in Nordafrika und Italien, direkt nach der Kapitulation der Wehrmacht fuhr er nach München, in die zertrümmerte Heimat, zu dem ebenfalls halb zerstörten Wohnhaus der Eltern. Es gebe keine Rückkehr, konstatierte Klaus Mann – man kann sich ausmalen, was diese Erkenntnis beim Strauchelnden auslöste.

Die Biographie ist das erste Buch aus meinem Lesevorhaben 12für2025

Thomas Medicus: Klaus Mann
Ein Leben
Rowohlt Berlin 2024
Gebunden 544 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0154-7

Robert Habeck: Den Bach rauf

Das Zitat habe ich bewusst ausgewählt, denn verweist auf den zentralen Aspekt für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands in den kommenden Jahren. Viele kluge und nachdenklich machende Beobachtungen gibt es in dem Buch von Robert Habeck zu lesen. Cover Kiepenheuer & Witsch, Bild mit Canva erstellt.

Ich nenne Heimat das Land, dessen Problem mich direkt angehen.

Robert Habeck: Den Bach rauf

Oft musste ich während der Lektüre von Den Bach rauf an Ilko-Sascha Kolwalczuks Freiheitsschock denken. Demokratie und Freiheit sind anstrengend. Bequem kann man es auch in einer Diktatur wie der DDR haben, denn dort wird einem vorgegaukelt, alles werde für einen geregelt. Das funktioniert, bis die Realität die Propaganda überholt, bis alles „den Bach runter“ gegangen ist.

Robert Habecks Schrift Den Bach rauf zielt auf diesen Punkt: Teilhabe. Das meint nicht, auf dem Sofa sitzend und binge-scrollend durch die Dopamin-Paradiese des Internets zu treiben, sondern an der Lösung von Problemen aktiv mitzuwirken. Ohne Aussicht auf Erfolg, wohlgemerkt, denn Probleme lassen sich oft nur teilweise oder auch gar nicht „lösen“, im Sinne von beseitigen.

Frustration ist Teil der Teilhabe. Wer sich also darauf einlässt, wird zwangsläufig mit Misserfolgen konfrontiert. Zu den großen Vorzügen des Buches Den Bach rauf gehört die Ehrlichkeit, mit der Robert Habeck die drohende Überwältigung durch eine Springflut existenziell bedrohlicher Probleme nicht nur nennt, sondern auch zugesteht, dass Gedanken an einen Rückzug dazugehören.

Wenn die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr den Eindruck haben, dass sie auch selbst handeln können – und müssen, droht Resignation. Oder die Erwartung, dass der Staat alle Probleme löst.

Robert Habeck: Den Bach rauf

Die Erwartung, der Staat könne alle Probleme lösen, wird von anderen durchaus befeuert, Hand in Hand mit schlichten Schein-Lösungen und hausfrei gelieferten Sündenböcken, wenn es – wie zu erwarten – doch nicht klappt. In der DDR waren das „der Westen“ oder die USA, im Dritten Reich „die Juden“ oder „anglo-amerikanische Plutokratien“, heute sind es „die Ausländer“ oder „der Kapitallismus“ oder Bürgergeld-Empfänger.

Dieses Sündenbock-Muster funktioniert auch noch, wenn ganze Städte in Schutt und Asche fallen. Dolchstoß-Legenden, Lügenkaskaden und Schmutzkampagnen funktionieren ebenso, wie Anne Applebaum sagt. Ein Grund ist sicher, weil sie komplizierte, widersprüchliche Probleme verschlichten und bequeme, einfache Schein-Lösungen präsentieren.

Robert Habeck will einen anderen Weg gehen. Er möchte eigene Fehler nicht anderen aufhalsen, aus dem eigenen und fremden Scheitern lernen und unter Einschluss der Bürger herandrängende Probleme lösen. In diesem Sinne stellt er sich zur Wahl, in diesem Sinne ist auch dieses Buch verfasst, das darauf verzichten, vollendete „Lösungen“ zu präsentieren.

Aber in der (Ampel)-Regierung wurde viel Richtiges, ja Überfälliges auf den Weg gebracht.

Robert Habeck: Den Bach rauf

Fehler der Ampel-Regierung verschweigt Habeck nicht, Nachtreten findet nicht statt, auch bleibt es bei einem – sachlich völlig berechtigten – Hinweis auf die schwerwiegenden, strukturellen Mängel, die aus den sechzehn Merkel-Jahren resultieren. Draufhauen brächte – vielleicht – Stimmen, doch darum geht es in Den Bach rauf nicht.

Ein schönes Beispiel für das Zusammenwirken von Staat und Bürgern ist die Abwehr einer verheerenden Gasmangellage nach dem russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Zu den strukturellen Hinterlassenschaften der Merkel-Jahre gehörte die frappierende Abhängigkeit von billigem russländischem Gas, dem bis heute populistische Politiker auch aus Union und SPD öffentlich nachweinen, trotz des offenkundigem Erpressungspotenzials.

Eine Beteiligung der Bürger durch das Einsparen von Gas beim Heizen war zentral, um die drohende Malaise abzuwenden. Es hat funktioniert. Ein Erfolg, der heute, kaum zwei Jahre später, bei vielen in Vergessenheit geraten ist. Ein Zusammenbruch ist leicht zu erkennen, ganz anders ein abgewendetes Desaster – dazu gehört eine gewisse Anstrengung, womit wir wieder am Anfang sind.

Aber die erste digitale Revolution ist fast vollständig an Deutschland und Europa vorbeigegangen, und wenn wir nicht aufpassen, dann wird es mit der zweiten, die der künstlichen Intelligenz, ebenso laufen. Die großen Tech-Konzerne kommen alle aus den USA, China holt nun auf.

Robert Habeck: Den Bach rauf

Es wird gehandelt. Das ist die gute Nachricht. Es sind nicht alle und das ist auch nicht nötig. Nie macht sich eine Mehrheit auf den Weg, es ist immer nur eine Minderheit, die anderen warten ab und schließen sich dann dem Weg an, der sich durchsetzt. Ermutigung ist wesentlich, insbesondere, wenn sich die Auswirkungen des eigenen Handelns nicht (sofort) zeigen oder die berühmt-berüchtigten Friktionen (Clausewitz) auftreten.

An welchen Stellen Robert Habeck ansetzen will, um die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass Deutschland eine Zukunft hat, wird aus Den Bach rauf deutlich. Es mangelt an Investitionen, die Schuldenbremse muss renoviert und Rahmenbedingungen müssen dafür geschaffen werden, dass nicht auch die nächste digitale Erneuerungswelle an Deutschland und Europa vorübergehen.

Wird das funktionieren? Es braucht Investitionen und das Bewusstsein, dass Kredite dafür nötig sind. Dem steht der populistische Unfug der „schwäbischen Hausfrau“ und ihrer angeblichen Sparsamkeit gegenüber, was bedauerlicherweise eingängig ist.  Hoffnung gibt, dass es ist nie eine Mehrheit für eine Revolution braucht, sondern eine Minderheit. Das gilt auch für alle anderen Entwicklungen.

Demokratien können sich nicht in schläfriger Sicherheit wiegen. Auch Deutschland ist nicht die uneinnehmbare demokratische, liberale, weltoffene, unerschütterliche Bastion. Wir müssen um und für unseren Rechtsstaat kämpfen und unsere Demokratie verteidigen.

Robert Habeck: Den Bach rauf

Besonders gut haben mir die klaren Worte zum Thema Autokratie, Desinformation und die davon für die Demokratie ausgehenden Gefahren gefallen. Habeck weiß um die Achse der Autokraten, er kennt die Problematik der zersetzenden Strategie „Flood the zone with shit“ (Steve Bannon), der sich auch Teile der Union bedienen und beruft sich unter anderem auf Hannah Ahrendt, wenn es um die Frage geht, wie man sich verteidigt.

Von überwältigender Bedeutung ist das, was Habeck zu Europa sagt. In den vergangenen Jahren ist Deutschland allzu oft einen Sonderweg gegangen, Nordstream (Schröder, Merkel), zögerliche Ukraine-Unterstützung (Scholz); das aufgeregte Gewese um Stromimporte aus Europa (Gas aus Russland war demnach okay) zeigt, wie selbstvergessen mit dem größten Pfund umgegangen wird, das Deutschland hat: die EU.

Der Leser kann dem Buch Den Bach rauf trotz seines handlichen Formats eine Menge bedenkenswerter Idee und Gedanken entnehmen. Wichtig ist: Entschieden ist noch nicht, ob Deutschland den Bach rauf oder runter geht.

Robert Habeck: Den Bach rauf
Kiepenheuer&Witsch 2025
Gebunden 144 Seiten
ISBN: 978-3-462-00896-8

Lesevorhaben Wiedergelesen – 4 für 2025

Vier der vielen Bücher aus meinem Regal, die ich bereits kenne, aber unbedingt noch einmal lesen und hier auf dem Blog vorstellen will.

Auch in meinem Regal stehen viele Bücher, die ich gern noch einmal lesen und auf meinem Blog vorstellen möchte. 2024 habe ich das genau einmal gemacht, mehr zufällig, weil ich auf die Umsetzung des genialen Romans Die Straße als Graphic Novel Die Strasse gestoßen bin.

Die Konkurrenz ist groß, Rezensionsexemplare, Geschenke, Spontankäufe (trotz Buchkaufdiät), Buchleihen (Stadtbiliotheken sind ein gefährlicher Ort!) und die vielen Bücher, die bereits gekauft wurden und endlich gelesen werden wollen, rangeln um das knappste aller Güter im menschlichen Leben: Zeit.

So also eine kleine extrinsische Motivation: 4rereadsfür2025. Für jedes Quartal eins, das dürfte zu schaffen sein. Und die Vorfreude ist riesig, denn die vier Bücher sind groß. Historisch-politisch, versteht sich.

Walter Kempowski: Alles umsonst
»Zoffort!« zu lesen, denn es spielt im Januar 1945, im Osten Deutschlands, über dem sich der Sturm der Vernichtung zusammenbraut – perfekt als Januar-Lektüre 2025

Gerd Ledig: Die Stalinorgel
Für mich der beste Frontkriegsroman, den ich kenne. Er schildert die Kämpfe 1942 vor Leningrad und zeichnet in einer Szene ein geniales Bild einer demoralisierten Wehrmacht

Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes
Ein Ausflug nach Rom. Derart sarkastisch und bissig, dass ich das Büchlein zum drittel Mal lese; der Autor begegnet Papst Benedikt in einer evangelischen Kirche, kurz vor dessen Rücktritt

Robert Harris: Vaterland
Das Büchlein wurde bereits mehrfach gelesen, nicht nur von mir. Brillant in einen Thriller gegossene historische Dystopie um den verschwiegenen Holocaust in einer Welt, in der Hitler den Krieg gewonnen hat

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Auf die beiden Herren geht die Autorin in ihrem Buch auch ein, sie verbindet mehr als nur ein Handschlag. Cover Siedler Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Schon auf den ersten Seiten dieses Buches ist der Leser ein Stück klüger und orientierter. Anne Applebaum betont gleich zu Anfang von Achse der Autokraten, dass sich hartnäckig eine karikaturhafte Vorstellung vom Alleinherrscher an der Spitze eines autokratischen Staates hält. Putin, Ji, Lukaschenko, Erdogan, Trump – die Liste der gegenwärtigen Autokraten ist lang. Doch ein Autokrat allein macht keine Autokratie.

Autokratien sind Netzwerke mit kleptokratischem Geschäftsmodell, die sich auf einen vielschichtigen Apparat stützen: Armee, paramilitärische Verbände, Polizei und andere Sicherheitsorgane wie Geheimdienste, unterstützt von High-Tech- und IT-Experten, die sich um Propaganda und Desinformation kümmern. Die Netzwerke sind nicht auf ein Land beschränkt, sondern mit Netzwerken anderer Länder verbunden. Das können auch Netzwerke in Demokratien sein, es müssen nicht einmal antidemokratische Parteien wie AfD oder BSW, Teile von Union und SPD gehören eben auch dazu.

Man unterstützt sich mit Ausrüstung, Ausbildung, Informationen; man nennt Ziele und hilft bei der Durchführung von Kampagnen; Medien und Trollfarmen werden dafür eingesetzt. Oder man sorgt für einen positiven Leumund, leistet Hilfestellung bei der Umgehung oder Aufweichung von Sanktionen. Auch aus persönlichen Gründen, denn Autokraten und ihre demokratischen Satrapen sind oft superreiche Unternehmer. Es dürfte kein Zufall sein, dass superreich gewordene Entrepreneure nicht selten autokratische Affinitäten hegen.

Die modernen Autokraten bezeichnen sich als Kommunisten, Monarchisten, Nationalisten und Theokraten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Ideologie spielt anders als im 20. Jahrhundert für die Kooperation keine Rolle. Geld stinkt nicht, weder in der Geschäftswelt noch in der Welt der Autokraten. Machterhalt ist das primäre politische Ziel, die Untergrabung einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung wäre andernfalls vielleicht auch gar nicht nötig. So aber gilt der freie Westen den Autokraten als Quelle für unerwünschte Inspiration für Widerstand gegen die alleinige, unkontrollierte Herrschaft.

Applebaum schildert auf schnörkellose und direkte Weite unsere Gegenwart, es geschieht seit Jahren und es geschieht jetzt. Einige Beispiele, Belarus und Venezuela, deren jüngste Geschichte skizziert werden, sind aus den Medien vertraut, die Akteure sind es ebenfalls. Doch geht die Autorin noch einen Schritt weiter und sagt mit einer Klarheit, die in oft verdruckst formulierenden Medien fehlt: Ohne die gegenseitige Unterstützung der Autokratien würde der Widerstand der eigenen Bevölkerung wohl ausreichen, um die alleinigen Herrscher zu stürzen.

Das ist ein Muster, was auch für den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine greift. Allein wäre Russland vielleicht schon in die Knie gegangen. So löchrig die Sanktionen auch sein mögen, so zögerlich und unzureichend die militärische und wirtschaftliche Unterstützung für die Ukraine auch ist, ohne die Hilfe anderer Autokratien, wäre Russlands Position sehr viel schwächer. Der Westen hilft der Ukraine also nicht nur gegen Russland, sondern gegen eine Achse der Autokraten.

Wie die Oppositionellen in Venezuela oder Belarus mussten sie allmählich erkennen, dass sie in der Ukraine nicht nur gegen Russland kämpften. Sie kämpften gegen die Achse der Autokraten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Bedeutend ist die Erkenntnis, dass Autokratien nur mit Hilfe des Westens an die Macht gelangen und diese konsolidieren können. Es sind westliche Technologien und vor allem das lückenhafte Regelwerk, die den Antidemokraten helfen. Ohne die Finanzierungsmöglichkeiten, etwa durch Geldwäsche, wäre die Macht von Autokraten wesentlich beschränkter, als sie es heute ist. Viele lassen sich einspannen, viele – nicht alle! – bezahlen, um Autokraten zu helfen.

Es sind nicht nur die autoritären Parteien, deren ideologische Zuschreibung als rechts oder links in diesem Punkt mehr verschleiert als erhellt; es sind nicht nur die Zuträger in anderen Parteien, die Einflussnehmer oder -agenten; es sind nicht nur die Interessenvertreter in Verbänden und Lobbyisten, die im Dienste der Putins, Mullahs und Xis stehen, sondern auch Anwälte, Banker, Gewerkschafter und Technologie-Oligarchen, die (fast) legal ihrer Tätigkeit nachgehen.

Hier sieht Applebaum auch einen Ansatzpunkt für die Wende im Kampf gegen die heraufziehende autokratische Dunkelheit: Regulierung. Die Autorin macht sich und ihren Lesern keine Illusionen. Das ist eine brutale Bergaufschlacht, deren Ausgang völlig ungewiss ist. In den USA weht der Wind in die entgegengesetzte Richtung. Doch nicht nur dort ist der Widerstand gegen gesetzliche Regulierungen groß. Ein Beispiel wäre die Verwendung von Bargeld in Deutschland beim Immobilienkauf, eine offene Tür für Geldwäsche, deren Einschränkung von mächtigen und ruchlosen Zeitgenossen bekämpft wird.

Die moderne Auseinandersetzung zwischen autokratischen und demokratischen Gedanken und Praktiken ist keine direkte Fortsetzung dessen, was wir im 20. Jahrhundert erlebt haben.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Zu den ganz besonders spannenden und ernüchternden Abschnitten gehört jener, der sich mit den Veränderungen autokratischer Herrschaft und Herrschaftssicherung befasst. Applebaum erklärt anhand mehrerer Beispiele, wie und was die Autokraten gelernt haben. Zumindest die Vorgänge in Hong-Kong dürften politisch Interessierte verfolgt haben. Die Aktivisten dort haben laut Applebaum sehr vieles richtig gemacht, vergangene Kampagnen studiert und an die lokale Lage angepasst. Sie haben auch gelernt – und sind krachend gescheitert.

Wenn man liest, wie es den Chinesen gelungen ist, die studentische Bewegung in Hong-Kong niederzuwerfen, wird es ungemütlich. Da ist zum einen der Anfang der 1990er Jahre vorherrschende Glaube, die demokratische Regierungsform werden sich quasi von allein durchsetzen. Das »Ende der Geschichte« (Fukuyama) hat sich als verhängnisvolle Illusion entpuppt, an der sich bis in die Gegenwart politische Parteien wie Teile der SPD klammern. Das Konzept »Handel durch Annäherung« oder später »Handel durch Wandel« ist mausetot, geistert aber als Wiedergänger durch die Berliner Korridore der Macht.

Das Beispiel Hong-Kong zeigt auch, wie sehr die Anhänger demokratischer Prinzipien die Lernfähigkeit der Autokraten und die Verlockung des Autoritären an sich unterschätzt haben. Die Autokraten sind überlegen. Sie nutzen die Möglichkeiten geschickter und ruchloser als westliche Demokraten. Ihre mediale Durchdringung Afrikas, des Mittleren Ostens, Südamerikas  zum Zwecke von Propaganda, Desinformation und Destabilisierung ist mächtiger als der naive Glaube, mit seriösen Nachrichten allein werde man bestehen.

In unseren alten Modellen ist kein Platz für die Einsicht, dass mansche Menschen Desinformationen wollen. Sie finden Gefallen an Verschwörungstheorien und haben wenig Interesse an zuverlässigen Nachrichten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Faktenchecks bringen nicht mehr viel, wenn eine Lüge in der Welt ist – was auch große, überregionale Medien, Tagezeitung und Öffentliche-Rechtliche-Medien nicht wahrhaben wollen. Sie lassen sich sogar ausnutzen, werden Plattformen, über die Propaganda in die Breite getragen und mit einem seriösen Anstrich versehen wird. Präventive Gegenkampagnen wären nötig, eine strategisch gezielte Medien-Öffentlichkeit (nicht gespiegelte Propaganda), die von den Menschen auch bezahlt und zur Kenntnis genommen werden kann, wären nötig.

Dem wirkungsvollsten Mittel, der Schmutzkampagne, wird man selbst damit nicht so einfach Herr. Es ist in Deutschland zu beobachten, wie selbst formal demokratische Politiker die Schmutzkampagne zur Bekämpfung des politischen Gegners benutzen, von den offen autoritären und antidemokratischen Parteien und Gruppierungen gar nicht zu reden. Eine Regulierung des wuchernden Lügen- und Desinformationsgeschwürs wird man allein deswegen nur sehr schwer durchsetzen können.

Applebaum weiß das auch. Daher klingt ihre Schrift auch sehr kämpferisch. Ähnliches kann man bei Über Freiheit von Timothy Snyder lesen. Beide beziehen sich übrigens auf Vláclav Havel und seinen Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben. Da die Gegner seit Havels Zeit gelernt haben, müssen die Freunde von Freiheit, Wahrheit und Demokratie auch lernen und neue Strategien entwickeln. Eine Bergaufschlacht, die nicht endet und deren Ausgang völlig ungewiss ist.

[Rezensionsexemplar]

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Siedler Verlag 2024
Hardcover 208 Seiten
ISBN: 978-3-8275-0176-9

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