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Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Auf die beiden Herren geht die Autorin in ihrem Buch auch ein, sie verbindet mehr als nur ein Handschlag. Cover Siedler Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Schon auf den ersten Seiten dieses Buches ist der Leser ein Stück klüger und orientierter. Anne Applebaum betont gleich zu Anfang von Achse der Autokraten, dass sich hartnäckig eine karikaturhafte Vorstellung vom Alleinherrscher an der Spitze eines autokratischen Staates hält. Putin, Ji, Lukaschenko, Erdogan, Trump – die Liste der gegenwärtigen Autokraten ist lang. Doch ein Autokrat allein macht keine Autokratie.

Autokratien sind Netzwerke mit kleptokratischem Geschäftsmodell, die sich auf einen vielschichtigen Apparat stützen: Armee, paramilitärische Verbände, Polizei und andere Sicherheitsorgane wie Geheimdienste, unterstützt von High-Tech- und IT-Experten, die sich um Propaganda und Desinformation kümmern. Die Netzwerke sind nicht auf ein Land beschränkt, sondern mit Netzwerken anderer Länder verbunden. Das können auch Netzwerke in Demokratien sein, es müssen nicht einmal antidemokratische Parteien wie AfD oder BSW, Teile von Union und SPD gehören eben auch dazu.

Man unterstützt sich mit Ausrüstung, Ausbildung, Informationen; man nennt Ziele und hilft bei der Durchführung von Kampagnen; Medien und Trollfarmen werden dafür eingesetzt. Oder man sorgt für einen positiven Leumund, leistet Hilfestellung bei der Umgehung oder Aufweichung von Sanktionen. Auch aus persönlichen Gründen, denn Autokraten und ihre demokratischen Satrapen sind oft superreiche Unternehmer. Es dürfte kein Zufall sein, dass superreich gewordene Entrepreneure nicht selten autokratische Affinitäten hegen.

Die modernen Autokraten bezeichnen sich als Kommunisten, Monarchisten, Nationalisten und Theokraten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Ideologie spielt anders als im 20. Jahrhundert für die Kooperation keine Rolle. Geld stinkt nicht, weder in der Geschäftswelt noch in der Welt der Autokraten. Machterhalt ist das primäre politische Ziel, die Untergrabung einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung wäre andernfalls vielleicht auch gar nicht nötig. So aber gilt der freie Westen den Autokraten als Quelle für unerwünschte Inspiration für Widerstand gegen die alleinige, unkontrollierte Herrschaft.

Applebaum schildert auf schnörkellose und direkte Weite unsere Gegenwart, es geschieht seit Jahren und es geschieht jetzt. Einige Beispiele, Belarus und Venezuela, deren jüngste Geschichte skizziert werden, sind aus den Medien vertraut, die Akteure sind es ebenfalls. Doch geht die Autorin noch einen Schritt weiter und sagt mit einer Klarheit, die in oft verdruckst formulierenden Medien fehlt: Ohne die gegenseitige Unterstützung der Autokratien würde der Widerstand der eigenen Bevölkerung wohl ausreichen, um die alleinigen Herrscher zu stürzen.

Das ist ein Muster, was auch für den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine greift. Allein wäre Russland vielleicht schon in die Knie gegangen. So löchrig die Sanktionen auch sein mögen, so zögerlich und unzureichend die militärische und wirtschaftliche Unterstützung für die Ukraine auch ist, ohne die Hilfe anderer Autokratien, wäre Russlands Position sehr viel schwächer. Der Westen hilft der Ukraine also nicht nur gegen Russland, sondern gegen eine Achse der Autokraten.

Wie die Oppositionellen in Venezuela oder Belarus mussten sie allmählich erkennen, dass sie in der Ukraine nicht nur gegen Russland kämpften. Sie kämpften gegen die Achse der Autokraten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Bedeutend ist die Erkenntnis, dass Autokratien nur mit Hilfe des Westens an die Macht gelangen und diese konsolidieren können. Es sind westliche Technologien und vor allem das lückenhafte Regelwerk, die den Antidemokraten helfen. Ohne die Finanzierungsmöglichkeiten, etwa durch Geldwäsche, wäre die Macht von Autokraten wesentlich beschränkter, als sie es heute ist. Viele lassen sich einspannen, viele – nicht alle! – bezahlen, um Autokraten zu helfen.

Es sind nicht nur die autoritären Parteien, deren ideologische Zuschreibung als rechts oder links in diesem Punkt mehr verschleiert als erhellt; es sind nicht nur die Zuträger in anderen Parteien, die Einflussnehmer oder -agenten; es sind nicht nur die Interessenvertreter in Verbänden und Lobbyisten, die im Dienste der Putins, Mullahs und Xis stehen, sondern auch Anwälte, Banker, Gewerkschafter und Technologie-Oligarchen, die (fast) legal ihrer Tätigkeit nachgehen.

Hier sieht Applebaum auch einen Ansatzpunkt für die Wende im Kampf gegen die heraufziehende autokratische Dunkelheit: Regulierung. Die Autorin macht sich und ihren Lesern keine Illusionen. Das ist eine brutale Bergaufschlacht, deren Ausgang völlig ungewiss ist. In den USA weht der Wind in die entgegengesetzte Richtung. Doch nicht nur dort ist der Widerstand gegen gesetzliche Regulierungen groß. Ein Beispiel wäre die Verwendung von Bargeld in Deutschland beim Immobilienkauf, eine offene Tür für Geldwäsche, deren Einschränkung von mächtigen und ruchlosen Zeitgenossen bekämpft wird.

Die moderne Auseinandersetzung zwischen autokratischen und demokratischen Gedanken und Praktiken ist keine direkte Fortsetzung dessen, was wir im 20. Jahrhundert erlebt haben.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Zu den ganz besonders spannenden und ernüchternden Abschnitten gehört jener, der sich mit den Veränderungen autokratischer Herrschaft und Herrschaftssicherung befasst. Applebaum erklärt anhand mehrerer Beispiele, wie und was die Autokraten gelernt haben. Zumindest die Vorgänge in Hong-Kong dürften politisch Interessierte verfolgt haben. Die Aktivisten dort haben laut Applebaum sehr vieles richtig gemacht, vergangene Kampagnen studiert und an die lokale Lage angepasst. Sie haben auch gelernt – und sind krachend gescheitert.

Wenn man liest, wie es den Chinesen gelungen ist, die studentische Bewegung in Hong-Kong niederzuwerfen, wird es ungemütlich. Da ist zum einen der Anfang der 1990er Jahre vorherrschende Glaube, die demokratische Regierungsform werden sich quasi von allein durchsetzen. Das »Ende der Geschichte« (Fukuyama) hat sich als verhängnisvolle Illusion entpuppt, an der sich bis in die Gegenwart politische Parteien wie Teile der SPD klammern. Das Konzept »Handel durch Annäherung« oder später »Handel durch Wandel« ist mausetot, geistert aber als Wiedergänger durch die Berliner Korridore der Macht.

Das Beispiel Hong-Kong zeigt auch, wie sehr die Anhänger demokratischer Prinzipien die Lernfähigkeit der Autokraten und die Verlockung des Autoritären an sich unterschätzt haben. Die Autokraten sind überlegen. Sie nutzen die Möglichkeiten geschickter und ruchloser als westliche Demokraten. Ihre mediale Durchdringung Afrikas, des Mittleren Ostens, Südamerikas  zum Zwecke von Propaganda, Desinformation und Destabilisierung ist mächtiger als der naive Glaube, mit seriösen Nachrichten allein werde man bestehen.

In unseren alten Modellen ist kein Platz für die Einsicht, dass mansche Menschen Desinformationen wollen. Sie finden Gefallen an Verschwörungstheorien und haben wenig Interesse an zuverlässigen Nachrichten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Faktenchecks bringen nicht mehr viel, wenn eine Lüge in der Welt ist – was auch große, überregionale Medien, Tagezeitung und Öffentliche-Rechtliche-Medien nicht wahrhaben wollen. Sie lassen sich sogar ausnutzen, werden Plattformen, über die Propaganda in die Breite getragen und mit einem seriösen Anstrich versehen wird. Präventive Gegenkampagnen wären nötig, eine strategisch gezielte Medien-Öffentlichkeit (nicht gespiegelte Propaganda), die von den Menschen auch bezahlt und zur Kenntnis genommen werden kann, wären nötig.

Dem wirkungsvollsten Mittel, der Schmutzkampagne, wird man selbst damit nicht so einfach Herr. Es ist in Deutschland zu beobachten, wie selbst formal demokratische Politiker die Schmutzkampagne zur Bekämpfung des politischen Gegners benutzen, von den offen autoritären und antidemokratischen Parteien und Gruppierungen gar nicht zu reden. Eine Regulierung des wuchernden Lügen- und Desinformationsgeschwürs wird man allein deswegen nur sehr schwer durchsetzen können.

Applebaum weiß das auch. Daher klingt ihre Schrift auch sehr kämpferisch. Ähnliches kann man bei Über Freiheit von Timothy Snyder lesen. Beide beziehen sich übrigens auf Vláclav Havel und seinen Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben. Da die Gegner seit Havels Zeit gelernt haben, müssen die Freunde von Freiheit, Wahrheit und Demokratie auch lernen und neue Strategien entwickeln. Eine Bergaufschlacht, die nicht endet und deren Ausgang völlig ungewiss ist.

[Rezensionsexemplar]

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Siedler Verlag 2024
Hardcover 208 Seiten
ISBN: 978-3-8275-0176-9

Göttinger Literaturherbst 2024

Diesmal war ich beim Göttinger Literaturherbst per Digital-Ticket und nicht live dabei. Ich habe daher recht viele Veranstaltungen angeschaut und einige interessante Bücher kennengelernt. Bild mit Canva erstellt.

In diesem Jahr habe ich nicht wie 2023 im Vorfeld Karten für die Lesungen des Göttinger Literaturherbstes 2024 gekauft. Ich dachte, ich würde für jene, die mich interessieren, kurz vorher noch welche bekommen können. Das wäre in den meisten Fällen wohl auch so gewesen, doch leider war ich verhindert und konnte keine einzige Veranstaltung vor Ort besuchen.

Es gibt zum Glück das Digital-Ticket. Mit dem kann man bequem vom Sofa die Lesungen auf dem TV anschauen. Das ist kein Ersatz, die Atmosphäre vor Ort, insbesondere in der Aula am Wilhelmsplatz, dem Alten Rathaus oder dem Deutschen Theater, ist nicht zu ersetzen. Der große Vorteil des Online-Tickets ist jedoch, dass man tatsächlich alle Lesungen hören kann, die man hören will.

Nur zwei der vorgestellten Bücher kannte ich bereits, Die Welt in Aufruhr von Herfried Münkler sowie Herrndorf von Tobias Rüther.

Die Lesung der Biographie des viel zu früh gestorbenen und von mir sehr geschätzten Schriftstellers Wolfgang Herrndorf war mein persönliches Highlight: Gemeinsam mit Anneke Kim Sarnau las Autor Tobias Rüther aus der Biographie und den Werken Herrndorfs vor. Ein Wechselgesang durch Leben und Werk, der auf eine eindringliche Weise nahegeht. Sand und In Plüschgewittern habe ich ja schon vorgestellt, nun wird bald einmal Zeit für Tschick.

Sehr gelehrt ist das Buch Die Welt in Aufruhr von Herfried Münkler, es hält für den Leser Zumutungen bereit, wenn ausführliche Ausflüge in Geschichte und Ideenwelten unternommen werden. Nicht immer gelingt der Weg zurück in die Gegenwart, wie beispielsweise bei den Vorstellungen Machiavellis, die eine Blaupause für die EU sein könnten (laut Münkler). Aber: Nach der Lektüre ist klar, dass jene, die beispielsweise gern das Wort „komplex“ im Munde führen, um sich gegen Waffenlieferungen auszusprechen, oft genau das Gegenteil meinen, eine völlig unstatthafte Verschlichtung.

Besonders interessant war die Veranstaltung zu Muslimisch-jüdisches Abendbrot mit Meron Mendel und Saab-Nur Cheema. Mendel, von dem ich das sehr erhellende Über Israel reden vorgestellt habe, und Cheema sind ein interreligiöses Paar, wie man so schön sagt. Ihr Buch enthält jene Kolumnen, die sie für die FAZ verfassen. Wer das liest, spürt der zeitgeschichtlichen Entwicklung nach, den Bruch mit dem 07. Oktober eingeschlossen. Gemessen an der überwältigenden Monstrosität werden Dinge wie „Mikroaggressionen“ zu Petitessen. Die Einschätzung hat der Moderatorin sichtlich nicht geschmeckt – ein Augenblick, der ein großes Drama unserer Zeit offenbart.

Ein wenig holprig habe ich die Lesung von Anne Weber zu ihrem Roman Bannmeilen empfunden. Das Buch hingegen, das ich bereits in der Vorschau wahrgenommen habe, ist sogleich auf der Leseliste gelandet, denn die Passagen sind vielversprechend. Wanderungen durch die großen, oft übel beleumundeten und klischeebehaftet wahrgenommenen Vorstädte von Paris fördern viel Unvermutetes zutage, das in die Tiefen und Abgründe der französischen Geschichte führt. Schön zum Beispiel das Thema Kriegsdenkmäler: Der Große Krieg, Zweiter Weltkrieg, Indochina, Algerien – allen wird unkommentiert gleichermaßen gedacht? Warum das keine gute Idee ist, kann man auch bei Alexis Jenni, Die französische Kunst des Krieges nachlesen.

Das Foto illustriert, was Anne Weber meint. Ich habe die beeindruckende Skulptur mit ihrer fragwürdigen Inschrift in Straßburg aufgenommen.

Mit Literatur aus Italien kann ich nicht allzu viel anfangen. Der Name der Rose von Umberto Eco, Das periodische System von Primo Levi, Dantes Göttliche Komödie, Commandante von Veronesi/de Angelis und das war es auch schon, was ich an italienischer Literatur gelesen habe. Das könnte sich ändern. In Kalte Füße von Francesca Melandri werde ich sicher einmal bei Gelegenheit hineinlesen, möglicherweise auch in Malnata von Beatrice Salvioni.

Thomas Müntzer, der bekannte Anführer aus der Zeit der Bauernkriege, war nach Ansicht von Thomas Kaufmann gar nicht so bedeutend, wie  er überliefert wird. Er sieht in ihm eine Art Scheinriesen, wie Herrn Tur-Tur aus den Büchern von  Michael Ende, der immer kleiner wird, je näher man ihm kommt. Das war nicht die einzige bedenkenswerte Aussage Kaufmanns bei der Lesung, sein Buch Der Bauernkrieg eröffnet eine neue, durch unsere Gegenwart vertraute Sicht auf das Ereignis: Ein Fokus wird auf die Medien gelegt und ihre Bedeutung für den Aufstand allgemein, aber auch für die Schaffung „des“ Bauern. Selbstverständlich ist das Thema eng mit der Reformation verzahnt, entsprechend anregend war die Veranstaltung.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Gefängnisse in den USA sind Teil der Unfreiheit, so Timothy Snyder in seinem ebenso bereichernden wie herausfordernden Buch, das dem Leser reichlich Anlass zum Nachdenken bietet. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Die Maschinen (d.h. Algorithmen) sperren uns in festere Schubladen: ethnische Herkunft, Geschlecht, Einkommen, Wohnort; sie definieren uns durch unsere wahrscheinlichsten Zustände, durch das, was wir online oder unter Überwachung tun, nicht durch das, was wir auf Berggipfeln oder unter Wasser oder bei lauter Musik oder in unseren Träumen tun.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Es gibt Bücher, an denen führt kein Weg vorbei. Timothy Snyders Über Freiheit gehört für mich dazu. Seit der amerikanische Historiker sein Buch Bloodlands veröffentlicht hat, lasse ich mir gern vom ihm die Welt und seine Sicht darauf erklären. Bloodlands hat meine Perspektive auf Gegenwart und Geschichte derart nachhaltig und tiefgreifend verändert, wie es bei Büchern selten der Fall ist (Ganz normale Männer von Christopher Browning wäre ein anderes Beispiel), dass ich immer sehr gespannt bin, wenn etwas Neues von ihm veröffentlicht wird.

Über Freiheit  wäre ein Buch, das man FDP-Anhängern ganz dringend zur Lektüre empfehlen würde. Deren immer und überall postuliertes »Freiheit« ist hohl wie eine leere Dose, reduziert auf Fingerhutgröße und wird dem Begriff nicht gerecht. Die formelhafte Aushöhlung des Wortes wird in Über Freiheit schön aufgezeigt. Wie umfassend und durchaus vielschichtig »Freiheit« ist, zeigt sich schon auf den ersten Seiten des Buches. Auch wird deutlich, dass Synder es sich und seinen Lesern nicht leicht machen will.

Grundsätzlich ist man gut beraten, bei allem Gedankengut, das aus den USA über den Atlantik herüberschwappt, der Verlockung zu widerstehen, das eins zu ein auf Deutschland und Europa zu übertragen. Ein herrliches Beispiel ist die These, es gebe keinen Rassismus gegen Weiße. Selbst in den USA darf das bezweifelt werden, in Europa ist es schlichtweg falsch und zwar auf allen Bedeutungsebenen. Man braucht dazu nicht einmal den berüchtigten »Generalplan Ost« zu exhumieren, es reicht ein Blick auf das, was über die Ukraine und ihre Bewohner gesagt wird. Aus Russland, aber auch aus dem Westen, kommt eine Menge Rassismus, offenem und verdecktem.

Freiheit kann nicht gegeben werden. Sie ist kein Erbe. […] In dem Moment, in dem wir glauben, das Freiheit gegeben ist, ist sie weg.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Diese Vorsicht ist auch für Über Freiheit von Timothy Snyder angebracht. Wenn dort beispielsweise etwas über das wirtschaftliche und soziale System gesagt wird, meint es vor allem das der USA, nicht aber das der Europäischen Union und erst recht nicht das einzelner europäischer Staaten mit ihren vielfältigen Eigenheiten. Selbstverständlich gibt es globale Einflüsse, die besonders von den USA beeinflusst werden. Trotzdem gibt es dramatische Unterschiede und die sollte man immer im Hinterkopf haben.

Man sollte sich also einerseits davor hüten, die Kritik unreflektiert zu übertragen, andererseits auch keine Kritik am Buch selbst üben, weil das der eigenen Sicht des spezifisch deutschen respektive europäischen Systems widerspricht. Sonst landet man zwangsläufig bei Plattitüden auf der Ebene von »Kapitalismuskritik« oder »Globalisierungskritik«. Man sollte das ernst nehmen, denn nicht umsonst sagt Snyder sagt selbst über sein Vorhaben:

Ich wurde gefragt, wie ein besseres Amerika aussehen könnte. Dies hier ist meine Antwort.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Snyder beginnt sein Buch aber mit einer europäischen Perspektive. Das Vorwort von Über Freiheit ist im Zug von Kyjiw nach Westen geschrieben worden. Das ist in mehrfacher Hinsicht symbolträchtig, denn in der Ukraine entscheidet sich tatsächlich das Schicksal der gesamten Welt für die kommenden Jahre, eventuell Jahrzehnte. Hält die Ukraine dem russländischen Angriffskrieg stand, hält vor allem der Westen dem seit Jahren von Russland geführten hybriden Krieg gegen sein demokratisches und offenes System stand, dann wird vielleicht Schlimmeres abgewendet werden können. Ein Angriff Chinas auf Taiwan etwa, dessen Folgen derart dramatisch sein würden, dass die Turbulenzen aus dem Krieg Russlands recht bescheiden erscheinen mögen.

In der Ukraine wurden von der russländischen Armee im Jahr 2022 Gebiete besetzt und im gleichen Jahr von ukrainischen Streitkräften »befreit«. Snyder erzählt von Marija, einer 85 Jahre alten Dame, die in einer Notunterkunft bei Psad-Pokrovske lebt, nachdem die Invasoren vertrieben wurden.  Der Ort wurde befreit, sie wurde befreit – doch ist sie auch frei? Synder verneint. Er hält den Begriff »Befreiung« für irreführend, »Deokkupation«, wie ihn die Ukrainer gebrauchen, erscheint ihm passender. Denn so erst könnte man die Frage stellen, was eigentlich nötig ist, um »frei« zu sein. Konkret: Was fehlt Marija zur »Freiheit«?

Freiheit ist nicht nur die Abwesenheit des Bösen, sondern auch die Anwesenheit des Guten.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Snyders Mission ist, dem allzu oft gebrauchten, missbrauchten Wort »Freiheit« wieder Leben einzuhauchen, der bloßen Hülle ein Wesen zu geben. Er will den Begriff definieren. Seine amerikanischen (!) Landsleute gebrauchten den Begriff oft als Abwesenheit von etwas, von Besatzung, Unterdrückung, einer Regierung. Das nennt er »negative Freiheit«, der eine »positive Freiheit« gegenüberstellt. Das Begriffspaar wirkt zunächst schematisch und auch konturlos, die Beispiele aber, wie zum Beispiel Ukrainer Freiheit definieren, beinhalten allesamt etwas Positives.

In der Ukraine betrachten laut Snyder die Menschen Städte und Orte erst dann als befreit, wenn der Bahnverkehr wieder funktioniert. (Im Gegensatz sind die Ansiedlungen, die von russländischen Soldaten »befreit« wurden, zerstört.) Die Struktur ist also wiederhergestellt, doch muss sie erst gefüllt werden, um von Freiheit zu sprechen. Die Möglichkeit zur Mobilität ist ein zentraler Punkt für Freiheit, doch muss der Mensch sie auch selbst nutzen, um Freiheit zu erlangen. Sie ist weder einfach so da noch dauert sie an oder kann vererbt werden. Umgekehrt kann eine Voraussetzung für Freiheit bzw. Unfreiheit sehr wohl vererbt werden, Vermögen bzw. vererbte Armut.

Auf insgesamt sechs Feldern versucht sich Snyder dem Phänomen Freiheit anzunähern: Souveränität, Unberechenbarkeit, Mobilität, Faktizität, Solidarität und Regierung. Die Auswahl überrascht vielleicht, damit hätte das Buch den Punkt der »Unberechenbarkeit« schon mal erfüllt. Doch das ist nur die Form, die grobe Struktur, die Snyder mit durchaus verblüffendem Inhalt füllt. Der Autor mutet seinen Lesern einiges zu, etwa die nicht ganz einfache Unterscheidung zwischen »Körper« und »Leib«, bei der er auf die deutsche Philosophin Edith Stein und die französische Philosophin Simone Weil zurückgreift. Er wendet sich Politik-Bereichen zu, die von Macho-Politikern gern als »Gedöns« abgetan wurden und werden.

Eine Gesellschaft, der die Freiheit am Herzen liegt, würde diese Menschen [Care-Tätigkeiten wie Erzieherinnen, Lehrer, Pflegerinnen] mit Respekt behandeln und sie ordentlich bezahlen.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Für Snyder ist essentiell, dass Freiheit aus dem Menschen heraus erwächst und in die Welt hineinwirkt. Das Individuum ist dabei nie allein, isoliert, keine »Ich-AG«, sondern gerade in den ersten Lebensjahren auf andere zwingend angewiesen. Erst in der Verbindung zu anderen wird die Voraussetzung geschaffen, Freiheit und damit Autonomie entstehen zu lassen. Isolierte Kinder, wie sie die Realität tatsächlich kennt, können sich nicht entwickeln und auch nicht frei sein.

Snyders Ansatz ist auf den Menschen zugeschnitten und sehr persönlich ausgestaltet, zunächst spielen »große Politik« oder gar »Geopolitik« gar keine Rolle. Das politische System kommt dabei aber nicht zu kurz, wie der Rückgriff auf Václav Havel zeigt. Das Kapitel heißt »Unberechenbarkeit« und beschäftigt sich mit der Tyrannei durch Berechenbarkeit. Statt der bis 1968 bekannten brutalen Unterdrückung mit militärischen Mitteln setzten die Regime unter dem roten Banner des Kommunismus in der Zeit danach auf Bildschirme.

Wichtig ist dabei, dass diese Form der Unfreiheit nichts mehr mit der Ideologie von Marx, Engels, Lenin oder anderen kommunistischen Denkern zu tun hatte, sondern mit Breshnews Ziel, das seit 1945 bestehende Imperium zu erhalten. Die Bildschirme dienten demzufolge nicht dazu, sozialistische Ideen zu verbreiten, sondern die Konformitäts-Formeln zu streuen und den Zuschauern einzureden, es gäbe nur diese eine und sonst keine Form der politisch-sozialen Ordnung.

In den Führungszirkeln der Sowjetunion nach 1968 glaubte niemand mehr an Sozialismus, in den Rängen der Partei und ihrer Formationen sicher auch viele nicht. Lippenbekenntnisse statt Überzeugung dürften vielleicht auch für die Mehrheit der Menschen das Wesen ihres politischen Lebens gewesen sein. Allerdings hat Zustimmung und Nachbeten einen Haken, nämlich dass diese auf eine Form reduzierte, entleerte Normalität auf den Menschen rückkoppelt.

Sie [die Normalisierung] ist die Gewohnheit, das zu sagen (und dann zu denken), was notwendig erscheint, während man implizit (und dann explizit) übereinstimmt, dass nichts wirklich wichtig ist.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Das ist frappierend. Wenn nichts wichtig ist, dann ist alles egal und implizit durch fehlende Werte auch erlaubt. Das ist der Kern der Putin-Propaganda, die im Grunde genommen keine echte Propaganda mehr ist, sondern eine Weiterentwicklung. »Alles ist Scheiße« steht am Ende einer immer widersprüchlicher, einander letztlich ausschließender Flut von Informations-Müll, der »Lügenkaskaden« (Anne Applebaum). Ohne jeden moralischen Maßstab lässt sich alles rechtfertigen, der Zwang zur Rechtfertigung entfällt.

Über die Bildschirme heute flimmern nicht nur die TV-Programme wie zur Zeit von Václav Havel, auf den Nutzer stürzt eine unüberschaubare, überwältigende Flut an Informationen ein. Zu allem Gesagten kommt noch die rein quantitative Überforderung hinzu, mit der Folge, dass viele Zeitgenossen nicht mehr mit, sondern im Internet »leben« oder wie Snyder sagt: »im Bildschirm«.

Hinter dem, was wir sehen, stehen Algorithmen, die berechnen und berechenbar machen, was der Nutzer sieht; damit wird der Mensch berechenbar und verliert seine Freiheit, wenn man der Analyse von Snyder folgt. Die so genannten Sozialen Medien buhlen um Aufmerksamkeit, um Zeit und bedienen sich dabei jener Tricks, durch die einer Sucht verstärkt werden. Wie alle anderen Süchte ist das eine kurzzeitig bequeme Form, den Herausforderungen des wirklichen Lebens auszuweichen, eine dicke, dichte Schutzschicht zwischen sich und die Welt zu packen, wie es eine von OxyContin abhängige Künstlerin in Imperium der Schmerzen von Patrick Radden Keefe formulierte.

Berichten zufolge soll Mark Zuckerberg die frühen Nutzer von Facebook als »dumb fucks« bezeichnet haben, weil diese voller Vertrauen zu seiner Plattform gewesen seien. Das kann man als sprachliche Entgleisung eines überheblichen CEO sehen, man kann aber darin auch den Keim einer Entmenschlichung derjenigen sehen, die an die Versprechungen einer schönen, neuen Welt geglaubt haben. Das geschah ausgerechnet durch jenen, der das „Soziale“ Medium erschaffen hat und damit Geld scheffelt. Entwürdigungen dieser Art standen oft am Anfang von Entrechtung und Gewalt, der brutalen Form von Unfreiheit in Lagerwelten.

Freie Menschen sind berechenbar für sich selbst, aber unberechenbar für Machthaber und Maschinen.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Spätestens an diesem Punkt muss man als Leser doch innehalten und sich selbst, sein alltägliches Verhalten reflektieren. Den eigenen Umgang mit den Sozialen Medien, das Verhältnis von Bildschirmleben zu »Real Life«, bis hin zur Manipulierbarkeit. Bücher wie Über Freiheit sind in diesem Sinne unbequem gefährlich, denn sie können zu beunruhigenden Fragestellungen an sich selbst führen. Für mich  ist das eines der ganz großen Komplimente, die man einem Werk machen kann, und die Basis für eine dringliche Leseempfehlung.

[Rezensionsexemplar]

Timothy Snyder: Über Freiheit
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
C.H.Beck 2024
Gebunden, 410 Seiten
ISBN: 978-3-406-82140-0

Émilie Aubry, Frank Tétart: Die Welt der Gegenwart.

Grundsätzlich ein sehr lobenswerter Ansatz, die für alle Menschen bedeutsame Geopolitik in einem kurzen, informativen und durch viele gute Karten anschaulichen Buch darzustellen. Leider gibt es einige problematische Passagen. Cover C.H. Beck Verlag, Bild mit Canva erstellt.

So bestimmt die Geopolitik mehr und mehr unser tägliches Leben, von der Pandemie über den Krieg in der Ukraine bis hin zum beschleunigten Klimawandel, und eine Serie von Krisen führt zu der Feststellung, dass im 21. Jahrhundert niemand die übrige Welt ausblenden kann.

Émilie Aubry, Frank Tétart: Die Welt der Gegenwart.

Angesichts der dramatischen Umwälzungen in den frühen 2020er Jahren, allein in Europa in Form von Covid-19, dem genozidalen russischen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und dem Terrorangriff der Hamas auf Israel direkt spürbar, ist ein Atlas mit geopolitischem Schwerpunkt grundsätzlich ein sehr begrüßenswertes Vorhaben. Das gilt noch mehr, wenn ein globaler Ansatz verfolgt wird, denn die genannten Disruptionen sind nur ein Teil weltweiter Veränderungen, die fortschreitende Erderhitzung allen anderen vorangehend. Ausblenden lässt sich das alles nur noch mit einiger Mühe.

Die Welt der Gegenwart von Émilie Aubry und Frank Tétart nimmt sich dankenswerterweise vieler Perspektiven an, die auch Leser von großen, überregionalen Tageszeitungen nicht immerverfolgen können. Alle fünf Erdteile werden in den Blick genommen, es ist tatsächlich positiv, dass zum Beispiel Schweden und Polen in Europa oder nicht ganz so oft im Fokus stehende Länder wie Äthiopien oder Australien mit ihren sehr spezifischen Problemen und Sichtweisen ins Bild rücken.

Ein wenig erinnert der Atlas dem »Weltspiegel« in schriftlicher Form. Die vielen übersichtlichen und multiperspektivisch, d.h. nicht nur aus der Sicht Europas gezeichneten Karten, werden von zusammenfassenden Info-Texten begleitet. Selbstverständlich führt diese Herangehensweise zu Verkürzungen und Verzerrungen, die unvermeidbar Analysetiefe vermissen lassen.

Es ist völlig unmöglich, einen Atlas in seiner Fülle an Informationen in einem Beitrag zu würdigen, ohne sich in Plattitüden und Leerformeln zu verlieren. Ausführlich widme ich mich in diesem Beitrag dem Kapitel über Russlands Krieg gegen die Ukraine, und zwar mit einem kritischen Tonfall. Viele dort genannte Aspekte sind in ihrer Darstellung fragwürdig, sie atmen an einigen Stellen das Propaganda-Gedröhn des Kreml, was bei etwas mehr (sprachlicher) Sorgfalt hätte vermieden werden können.

Sprache ist ein gutes Stichwort, denn Die Welt der Gegenwart setzt mittelbar »russischsprachig« mit »prorussisch« gleich. Die Trennung der Sprachen und politischen Ausrichtung in einen westlichen, ukrainischsprachigen und prowestlichen und einen östlichen, russischsprachigen und prorussischen Teil entspricht  dem Propaganda-Narrativ des Kreml und dem Bedürfnis nach einfachen Zuschreibungen, ist aber falsch.

Die russische Sprache gehört uns, wir geben sie Putin nicht her.
(Oleksiy Radynski)

»Alles ist teurer als ukrainisches Leben«

Man könnte es sich einfach machen und auf die vielen Millionen russischen Muttersprachler in der Ukraine verweisen, die gegen Russlands Invasion kämpfen oder Opfer von dessen Aggression werden. Aber auch in klugen Beiträgen ukrainischer Autoren (Alles ist teurer, als ukrainisches LebenAus dem Nebel des Krieges), russischprachiger ukrainischer Schriftsteller (Andrej KurkowTagebuch einer Invasion) oder den Büchern von westlichen Historikerinnen wie Gwendoly Sasse, die von »kontextabhängiger Bilingualität« sprechen, wird ein differenzierteres und wirklichkeitsnäheres Bild gezeichnet.

Richtig ist, dass der Kreml die angebliche Kombination aus russischsprachig und prorussisch nutzt, um Einfluss auf ehemalige Sowjetstaaten auszuüben, und zwar als vorgeschobene Rechtfertigung für eine aggressive Politik der Einmischung bis hin zur Annexion. Der folgen Deportationen, Filtrations- bzw. Folterlagern, in denen jene, die keine Russen sein wollen, mit Gewalt zu solchen gemacht werden, sowie die Ansiedlung von ethnischen Russen – alles in wohlbekannt stalinistischer Tradition.

Das alles verschwindet hinter der Begrifflichkeit, die in Die Welt der Gegenwart verwendet wird. Das gilt auch für den sorglosen Gebrauch von Begriffen wie »Ukrainekonflikt« bei gleichzeitiger Vermeidung der zutreffenden Begriffe wie Vernichtungskrieg und Angriffskrieg. Mit nebulösen Formulierungen wie der nachfolgenden wird der Eindruck erweckt, beide Seiten begingen im gleichen Maße Kriegsverbrechen.

In den Augen der Europäer ist dies die Rückkehr eines Territorialkrieges, eines »schmutzigen Krieges« samt Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Émilie Aubry, Frank Tétart: Die Welt der Gegenwart.

Russland ist der einzige Aggressor in diesem Krieg, es allein zielt mit Terrorangriffen auf Zivilisten, zivile Infrastruktur und Energieversorgung, außerdem gehen gezielte Massentötungen, Folter, Deportationen von Zivilisten allein auf das Konto russischer Streitkräfte. Der Ukraine wird durch die fehlende Nennung von Ross und Reiter ein ähnliches Maß an Kriegsverbrechen unterstellt.

An anderer Stelle wird ein unzulässiger Zusammenhang zwischen den so genannten Minsker Abkommen und dem im Budapester Abkommen vom Westen und Russland (!) anlässlich der freiwilligen Abgabe der ukrainischen Atomwaffen garantierten Staatsgebiet der Ukraine und der »schwierigen Umsetzung« der des »Vertrages« hergestellt. Die »Kontrolle  ihrer Grenzen« wäre für den »ukrainischen Präsidenten Selinskyi (sic!) eine nicht verhandelbare Vorbedingung für eine Einigung«. Die Rolle von Täter (Russland hat ein ganzes Bündel bestehender Verträge gebrochen) und Opfer wird so vertauscht.

Leider wärmen die Autoren das längst widerlegte Motiv der Nato-Osterweiterung abermals auf. Mit der Aufnahme der baltischen Staaten stünde »von nun an die Nato an den russischen Grenzen und [ließ] das Gefühl der Einkreisung wiederaufleben«. Allein der Begriff der »Einkreisung« (vom »wieder« gar nicht zu reden) ist angesichts der Grenzen mit Kasachstan, der Mongolei und China unangebracht, ebenso, da Russland im Zuge der verheerenden Niederlagen in der Ukraine sämtliche Grenzen mit der Nato militärisch entblößt hat.

Ímmerhin verweisen die Autoren auf die verhängnisvollen Aktivitäten Russlands im Nahen Osten und Afrika, auch wird die Allianz unter Ungleichen mit China beleuchtet und es werden auch die zunehmend dramatischen Folgen für die wirtschaftliche und soziale Lage in Russland erwähnt. Gemeinsam mit den sehr informativen Karten entspricht das dem, was von einem modernen Atlas mit geopolitischem Schwerpunkt zu erwarten wäre, umso bedauerlicher erscheinen die problematischen Darstellungen im Zusammenhang mit der Ukraine.

Wie wichtig sprachliche Genauigkeit ist, zeigt sich auch am Beispiel des sogenannten »Sechstagekrieges«. Die im Buch gewählte Formulierung erweckt den Eindruck, Israel habe einen Angriffskrieg unternommen und dabei »seine heutige territoriale und geopolitische Stellung« erobert. Die vom ägyptischen Präsidenten vorher unternommenen Schritte, Sperrung einer wichtigen Seestraße für israelische Schiffe und Aufmarsch einer mächtigen Angriffsarmee an der Grenze Israels, bleiben unerwähnt.

Letztlich zeigt sich an diesem Beispiel auch, wo die generellen Erkenntnisgrenzen eines Buches wie Die Welt der Gegenwart sind. Wichtig wäre, diese explizit zu nennen und auf weiterführende Literatur oder Webseiten zu verweisen, die umfassender informieren.

[Rezensionsexemplar]

Émilie Aubry, Frank Tétart: Die Welt der Gegenwart.
Ein geopolitischer Atlas
Aus dem Französischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube
C.H.Beck / arteEDITIONS 2024
Klappenbroschur 224 Seiten
ISBN: 978-3-406-81404-4

B. Traven: Das Totenschiff

Ein Abenteuerroman mit Tiefgang. Cover Diogenes Verlag, Bild mit Canva erstellt.

»Seelenverkäufer« ist so ein schönes Wort. Es meint ein nicht vollständig seetaugliches Schiff, das im übertragenen Sinne die »Seelen« der Mannschaft »verkauft«. Die Yorikke gehört zu dieser Kategorie. Als »der Eimer« vor den Augen des Erzählers erscheint, findet dieser weit stärkere Formulierungen, um den heruntergewirtschafteten Zustand des Dampfers zu beschreiben. Ein »Seelenverkäufer« ersten Ranges. Oder, wie es der Augenzeuge dann selbst formuliert:

Da war ein Geheimnis verborgen. Sie war doch nicht etwa gar ein -?
Aber vielleicht doch. Vielleicht war sie doch ein Totenschiff. Da! Da ist es endlich heraus. Ein Totenschiff. Verflucht noch mal, o Sperlingsschwänze und Fischflossen! Jawohl, sie ist ein Totenschiff.

B. Traven: Das Totenschiff

Zu diesem Zeitpunkt ist der Roman Das Totenschiff von B. Traven bereits recht weit gediehen, ganz ohne Schiff. Das erste Drittel der Handlung spielt an Land, erzählt wird eine hanebüchene Irrfahrt durch Westeuropa, voll kurioser Wendungen. Nachdem der Seemann Gales die Tuscaloosa durch missliche Umstände verpasst hat und seine Papiere mit dem Schiff auf und davon sind, steht er vor einer unüberwindlichen Hürde: Wie beweisen, dass er Amerikaner ist?

Es folgt ein irrwitziges Spiel. Gales wird von den belgischen Behörden gezwungen, die Grenze zum Nachbarland illegal zu überschreiten. Ihm drohen drastische Strafen, sollte er noch einmal zurückkehren. In den Niederlanden wird er aufgegriffen, auch hier greifen die offiziellen Stellen zum gleichen Mittel wie in Belgien. Absehbar, dass die Hauptfigur gar keine andere Wahl hat, als trotz Strafandrohung eines der ihm verbotenen Länder erneut aufzusuchen.

Das Hin&Her spitzt sich immer mehr zu und erreicht in einem amerikanischen Konsulat seinen vorläufigen Höhepunkt. Während eine reiche Amerikanerin allzu leicht ihren verlorengegangenen Pass ersetzt bekommt, muss sich Gales anhören, dass er ohne seine Papiere im Grunde gar nicht existiere. Der Beamte erklärt ihm entgegenkommend, er persönlich wolle ja dem Identitätslosen gern Glauben schenken, doch damit könne er die Vergabe eines Passes gegenüber seinen Vorgesetzen nicht verantworten.

Denn was ich glaube, will die Regierung daheim nicht wissen. Sie will nur wissen, was ich bestimmt weiß. Und was ich bestimmt weiß, muss ich beweisen können. Ihre Staatsbürgerschaft und Ihre Geburt kann ich nicht beweisen.

B. Traven: Das Totenschiff

Traven nutzt die Irrfahrt seines Helden, um gesellschaftliche Kritik zu üben – in einem schnoddrigen Ton, gewürzt mit Spott, Sarkasmus und boshaftem Witz. Oft lässt der Autor die Situation an sich sprechen, die Dialoge und Handlungsweisen der Figuren, die Zufallsbegegnungen. Manchmal rückt Gales das Gesagte durch bissige Kommentare ins rechte Licht; in das Licht der frühen 1920er Jahre, das gedämpft wird durch den Schatten des Ersten Weltkrieges.

Gales ist Amerikaner und verheimlicht das zumeist. Er gibt sich oft als Deutscher aus, eine auf den ersten Blick seltsame Maßnahme, könnte man doch annehmen, die Verlierer des Großen Krieges wären unbeliebter als die Yankees, die letztlich dank ihrer wirtschaftlichen und militärischen Stärke den Waffengang für die Alliierten entschieden haben. Doch stehen die USA im Ruf, ihre Hilfe vor allem aus Eigennutz angeboten zu haben, ein recht typisches Motiv des Antiamerikanismus, wie er in manchen Kreisen bis heute gern gepflegt wird.

Präsident Wilsons Politik war tatsächlich darauf ausgerichtet, den Mittelmächten keinen Sieg zu erlauben, vor allem aber, die USA zur globalen Führungsmacht aufsteigen zu lassen. Europa war jenseits des Atlantiks hoch verschuldet und selten liegt die Macht beim Schuldner, sondern beim Gläubiger. Die hehren amerikanische Werte, mit denen die USA in den Krieg zogen, bespöttelt Gales.

Als er wiederholt von Polizisten durchsucht wird, fragt er sich, was diese so dringend suchten – etwa die verlorengegangen 14 Punkte von Präsident Wilson? Dieses Programm fasste die Ziele des US-Präsidenten für eine Friedensordnung zusammen, es diente als politische und moralische Grundlage für die Kriegführung der USA. Die tatsächliche Nachkriegsordnung hatte mit dem Geist der 14 Punkte recht wenig zu tun, was Traven auf seine Weise karikiert.

Doch bekommt auch Deutschland, namentlich Preußen, bissige Kritik ab. Die Behörden eines jeden Landes bemühen sich, den Mann ohne Papiere nach Deutschland abzuschieben, worüber dieser sich wundert. Er verweigert sich rundheraus, verkündet, er würde sich lieber erschießen lassen, als nach Deutschland zu gehen. Denn:

Wenn man in Amerika und vielen andern Ländern das Wort ›Preußen‹ hört, ist es nie mit dem Lande Preußen oder mit seinen Bewohnern verknüpft, sondern es ist ein Synonym für eine Abwürgung der Freiheit und für polizeiliche Bevormundung.

B. Traven: Das Totenschiff

Der freiheitsliebende und nicht sonderlich arbeitswütige Gales, der in Spanien eine Art Dasein gefunden hat, landet schließlich auf der Yorikke. Wie kann das sein, wo er in dem Kahn gar ein Totenschiff sieht und angesichts seiner äußeren Erscheinung auf verheerende Zustände an Bord rückschließt? Nolens volens, könnte man sagen. Das Schiff selbst scheint es auf ihn abgesehen zu haben. Gales verweigert sich dem Anwerbeversuch und findet sich dennoch unversehens an Deck wieder. Die Yorikke nimmt Fahrt auf und steuert geschwind aufs weite Meer. 

Auf dem Schiff sind die Verhältnisse noch viel furchtbarer, als Gales befürchtete. Er wurde betrogen, geschickt mit Worten in die Irre geführt und sitzt abermals in der Falle. Die Yorikke ist ein Totenschiff, doch geht es hier nicht um Untote, wie jene halb verwesten Gestalten in Fluch der Karibik. Es sind die Arbeiter an Bord, die unter unmenschlichen Bedingungen knechten müssen. Vieles ist im Wortsinne kaum vorstellbar.

Travens Totenschiff ist ein Sinnbild für die Ausbeutung in einem ungeregelten Kapitalismus, in dem sich die Arbeiter nicht wehren können und zu Verdammten und Verlorenen, zu Toten werden. Aber der Autor lotet bei seiner mitreißenden Schilderung des Schicksals von Gales auch die allgemeinen menschlichen Untiefen aus: Der Drang der Unterdrückten, sich gegenüber Schwächeren oder Niedrigergestellten zu erheben und diese ihrerseits zu unterdrücken.

Eine der wesentlichen Ursachen der menschlichen Misere sieht Gales im Drang zur Nachahmung, dem Herdentrieb, der eine echte Weiter-Entwicklung des Menschen verhindere. So bleibe man ein Barbar, wie vor sechstausend Jahren, und lasse sich knechten. An der Reling der Yorikke stehend fragt sich Gales, warum er sich nicht selbst erlöse, seinem Leben durch einen beherzten Sprung ins Meer ein Ende setze. Die Antwort lautet, weil er sich Hoffnung mache.

Aber der Mensch? Der Herr der Schöpfung? Er liebt es, Sklave zu sein, er ist stolz, Soldat sein zu dürfen und niederkartätscht zu werden, Er liebt es, gepeitscht und gemartert zu werden. Warum? Weil er denken kann. Weil er sich Hoffnung denken kann. 

B. Traven: Das Totenschiff

Manche Sentenzen in diesem Buch sind so stark, dass sie mir auch Wochen nach der Lektüre noch im Kopf herumgehen. Die Afrikaner, die mit den Sklavenschiffen über den Atlantik geschifft wurden, haben sich bisweilen gewehrt, indem sie Selbstmord beginnen. Sie verweigerten das Essen oder versuchten, über Bord zu springen. Folgt man den Ansichten von B. Travens Seemann, dann wussten sie genau, was ihnen blühte, und hatten alle Hoffnung dahingegeben.

Immer wieder kommt Traven in seinem Roman auf das Motiv des bürokratischen Todes zurück. Menschen, die keine ordentlichen Papiere besitzen und auch keine bekommen können, was keineswegs an ihnen, sondern den Umständen und einer kalten, herzlosen und völlig mechanisch agierenden Bürokratie liegt. Lebende Tote also, die ein Totenschiff brauchen, um irgendwie aus dem Niemandsland fortzukommen.

Gales alias Pippip erfährt vom Schicksal einiger Seemänner, die auf der Yorikke ein tragisches Ende fanden. In der Koje über seiner eigenen soll einer gelegen haben, der nach langer Irrfahrt, unter anderem auch der Fremdenlegion, an Bord kam und dort verendete. Von ihm blieb nicht einmal ein Eintrag im Journal, dem Bordbuch, das mehr einem vom Kapitän frisierten Märchenbuch gleicht. Der Tote war nur „Luft, verwehte Luft“.

Wie endet ein Roman, der vorgibt, ein Abenteuer zu erzählen, das sich als verhängnisvolles Schicksal entpuppt und – im übertragenen Sinne – weit über die eigentliche Geschichte hinausreicht? Mehrfach sagt der Erzähler, von einem Totenschiff könne man nur auf einem Riff entkommen, also durch den Tod. B. Traven hat seinem Helden auf dessen Totenschiff ein sehr gelungenes, passendes und eben doch unvermutetes Ende beschert.

Und die Düsternis an Bord der Totenschiffe, die alptraumhafte Ausweglosigkeit haben mir eine Vorstellung davon gegeben, was kafkaesk bedeutet, noch bevor ich Kafka gelesen hatte.

Volker Kutscher, Ein persönliches Nachwort, in B. Traven, Das Totenschiff

Das Buch Das Totenschiff ist dann aber noch nicht vorbei, denn Volker Kutscher hat ein sehr lesenswertes Nachwort beigesteuert. Das beschäftigt sich mit der eigenen Leseerfahrung, stellt fest, dass der Roman – leider – zeitlos ist, weil die Zahl der Verlorenen einhundert Jahre nach dem Erscheinen von B. Travens Erstling keineswegs geringer geworden ist.

[Rezensionsexemplar]

B. Traven: Das Totenschiff
Mit einem Nachwort von Volker Kutscher
Diogenes 2023
Hardcover, 416 Seiten
ISBN: 978-3-257-07269-3

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