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Boston Teran: Gärten der Trauer

Der herausragende historische Thriller erzählt von einer geheimen Mission eines Special Agents im Osmanischen Reich, mitten im Ersten Weltkrieg. Spannend, dramatisch, atmosphärisch wie ein Abenteuerroman mit Szenen, die aus einem Western stammen könnten, widmet sich der Roman einem fürchterlichen Thema: dem Genozid an den Armeniern. Cover Elsinor, Bild mit Canva erstellt.

›Freiheit verlangt nach Widerstand.‹

Boston Teran: Gärten der Trauer

Wenn Heroen der fiktiven Geheimdienst-Welt wie James Bond oder Ethan Hunt zu ihren Missionen aufbrechen, wirken die dräuenden Gefahren nicht selten ein wenig konstruiert. So recht will man der Story nicht abnehmen, dass die ganze Welt bedroht ist und nur durch den Helden gerettet werden kann. Gleiches gilt für die Beweggründe der Gegenspieler, die mitunter etwas Banales und Vorgeschobenes haben. Schwülstige Pychospielchen übertünchen notdürftig den Mangel und am Ende, da ist alles gut.

Wenn Special Agent John Lourdes im Jahr 1915 aus den USA nach Europa aufbricht, ist gar nichts gut. Zu diesem Zeitpunkt tobte in der historischen Wirklichkeit ein Krieg, er war noch auf Europa beschränkt, weitete sich durch den Eintritt Italiens und des Osmanischen Reiches schon aus. Ein Brand auf Messers Schneide, der schließlich globale Ausmaße annehmen sollte und so lange loderte, dass die Verluste allzu gewaltig waren, um noch einen tragfähigen Frieden zu schließen.

Boston Teran hat den historischen Agenten-Thriller Gärten der Trauer in das Kriegsgeschehen eingeflochten. Konstruieren musste er weder Drama noch Drohung, dafür sorgten schon die Umstände. John Lourdes ist im Auftrag des State Departments unterwegs, sein Ziel ist das Osmanische Reich. Was er dort soll, bleibt zunächst einmal im Dunkeln. Schon bei seiner Ankunft wird er mit etwas konfrontiert, das die gesamte Handlung des Romans bestimmt: die Auslöschung der armenischen Bevölkerung durch die Türken.

Die Behandlung der armenischen Bevölkerung ist barbarisch und unmenschlich. John Lourdes wird Zeuge von ungeheurlichen Grausamkeiten, die im Roman schonungslos geschildert werden. Der Autor verzichtet auf jede Form von Weichzeichnung, aber auch darauf, die Armenier zu bloßen Opfern zu degradieren. Sie leisten Widerstand, wehren sich, wo immer sie können.

Franz Werfel hat in seinem großen Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh dem heldenhaften Versuch einer Gruppe Armenier, dem Tod zu entgehen, ein literarisches Denkmal gesetzt. Gärten der Trauer leistet das auch, auf eine andere Weise, dem Thriller-Genre entsprechend ist der Roman rasant und hochspannend erzählt. Zugleich weist er weit über den Genozid an den Armeniern hinaus, indem er diese Untaten an den Anfang einer neuen, Menschen und Völker verschlingenden Barbarei stellt.

Obwohl er die Bedeutung dessen, was er am Kai mitangesehen hatte, nicht vollständig erfassen und bewerten konnte, ahnte John Lourdes, dass die brutale Unmenschlichkeit dieser Geschehnisse von einer ganz neuen Schändlichkeit zeugte, wie sie die Welt bislang nicht kannte.

Boston Teran: Gärten der Trauer

Im ersten Moment wirkt es etwas befremdlich, wenn nicht etwa ein türkischer, sondern ein deutscher Offizier in die Handlung eintritt und sich als Gegenspieler von John Lourdes entpuppt. Doch ist die Anwesenheit von Rittmeister Bodo Franke keineswegs weit hergeholt, denn deutsche Truppen kämpften tatsächlich im Osmanischen Reich. Franke kommandiert eine halb irreguläre Truppe aus freigelassenen Verbrechern, die an die SS-Sondereinheit Dirlewanger erinnert.

Vor allem aber lässt die Wortwahl des Deutschen keinen Zweifel daran, dass alles in dunkle Zukunft des nahenden Verhängnisses verweist: Franke korrigiert das Wort »Ausrottung« durch »Umsiedlung«, jene verbale Verschleierung der Massentötungen im Vernichtungskrieg des Hitlerreiches. Das ist kein Zufall, an anderer Stelle ist von »Endlösung« die Rede. Der Genozid an den Armeniern ist Teil von etwas Größerem, des späteren Zivilisationsbruchs, der ausgerechnet von den hochkultivierten Deutschen begangen wurde.

›Reden können Sie ja gut‹, sagte Rittmeister Franke.
Miss Temple deutet auf eine Tisch, an dem zwei weitere deutsche Offiziere saßen, gemeinsam mit drei Angehörigen des türkischen Militärs, die der Geheimorganisation angehörten.
›Sie und diese Männer haben über die Ausrottung …‹
›… Umsiedlung der armenischen Volksgruppe innerhalb des osmanischen Staatsgebiets.‹
›Warum sind die Deutschen eigentlich hier? Zum Beaufsichtigen …?‹
›Um die Souveränität der osmanischen Regierung gegen internationale Agitatoren und ausländische Agressoren zu verteidigen.[…]‹

Boston Teran: Gärten der Trauer

Boston Teran hat seinem Roman den Charakter eines Agenten-Thrillers gegeben, Dynamik und Spannung wachsen, je weiter sich Special Agent John Lourdes in das Land hineinbegibt und in das Geschehen verwickelt wird. Angesichts des Krieges handelt es sich bei seinem Auftrag um eine verdeckte Geheimoperation. Diese dient erklärtermaßen nicht dem Ziel, die Armenier oder andere Völker zu befreien oder vor dem massenhaften Tod zu bewahren. Es geht um die Kontrolle über die reichhaltigen Ölvorkommen im Zweistromland (Basra) und am Kaspischen Meer (Baku).

Lourdes Auftrag und die geostrategischen Interessen der Auftraggeber kollidieren mit moralischen Erwägungen. Der Special-Agent steht vor der Wahl, seine Entscheidung geht auf seine eigene Herkunft zurück, wird aber auch durch die schockierenden Erlebnisse und Bekanntschaften mit Armeniern und ihren westlichen Unterstützern motiviert. Da wäre jene Aktivistin Alev Temple, die sich in exponierter Weise für die Verfolgten und Gejagten engagiert, vor allem dafür sorgt, dass die Vernichtung eines ganzen Volkes nicht im Nebel des Krieges verborgen bleibt.

Mit diesen Aspekten verweist der Roman auf eine Entwicklung, die bis in die Gegenwart reicht und vermutlich auch die Zukunft bestimmen wird. Moral und Interesse werden weiterhin kollidieren, die Versuche, Schandtaten zu verbergen, gibt es immer noch, auch wenn sie eine andere Gestalt angenommen haben. Aktivisten und Journalisten mit Mut und Courage können dagegen angehen oder sich zum Sprachrohr von Propaganda und Desinformation machen.

Doch weist Gärten der Trauer auch in die Vergangenheit. An einigen Stellen schimmert eine gewisse Zeitlosigkeit durch, außerdem werden die tiefen Wurzeln der Gegenwart sichtbar, wie das schöne Zitat zeigt. An einer anderen Stelle ist von »Straßen und Gassen dieser zeitlosen Welt« die Rede, ein Aquädukt bezeugt die schöpferische Hochkultur der Römer und als Lourdes den Tigris erreicht, ist ihm bewusst, an der Wiege der menschlichen Zivilisation zu stehen.

Seit den Tagen der Seleukiden und Parther kreuzten sich hier die Wege der Gewalt.

Boston Teran: Gärten der Trauer

Boston Teran ist das Kunststück geglückt, sein Thema in das Gewand eines hochspannenden, dramatischen, wendungsreichen Thrillers zu kleiden. Manchmal erinnern Szenen an Western, wenn etwa eine Befreiungsaktion unternommen wird. Die Atmosphäre gemahnt an einen Abenteuerroman mit Niveau. Wie es sich für einen Thriller gehört, mündet die Handlung in einen furiosen Showdown, der in diesem Fall sehr passend apokalyptische Züge trägt. Chapeau!

Abgerundet wird der großartige Roman von einem sehr informativen Nachwort von Martin Compart, der auch die Klassiker-Reihe des Elsinor-Verlages mit seinen einordnenden Worten bereichert. Lange Passagen mit Äußerungen des Autors sind sehr aufschlussreich über die Motivation zur Auseinandersetzung mit diesem ungewöhnliche Thema im Rahmen eines Thrillers. Auch über Boston Teran selbst erfährt der Leser eine Menge, denn wer das eigentlich ist, liegt noch im Nebel des Pseudonyms verborgen.

[Rezensionsexemplar]

Boston Teran: Gärten der Trauer
Aus dem Englischen von Jakob Vandenberg
Herausgegeben von Martin Compart
Elsinor Verlag 2024
Klappenbroschur 244 Seiten
ISBN 978-3-942788-78-6

Andreas Pflüger: Ritchie Girl

Ein intensiv erzählter Roman über die Nachwehen des Zweiten Weltkrieges. Cover Suhrkamp, Bild mit Canva erstellt.

Bei der Lektüre des Roman Ritchie Girl von Andreas Pflüger hat mich manchmal erstaunt, wie sehr dieser Roman von der Gegenwart zu erzählen scheint. Seit Russland seinen genozidalem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, gehen sie doch wieder um, die »Geister der Vergangenheit«, die gar nicht mehr so geisterhaft ihr blutiges Handwerk betreiben.

Im Gegensatz zum Vernichtungskrieg der Wehrmacht findet dieser vor aller Augen statt, für jeden unübersehbar. Umso bitterer, dass »Wegschauen, Schulterzucken« wieder in Mode sind, ebenso die larmoyante Kriegsmüdigkeit, das Folgen von Lügen und Propaganda – aus vielerlei Gründen. Wer sich fragt, die »das« damals geschehen konnte, bekommt Antworten präsentiert, die sehr unbequem und ernüchternd sind.

Das wirkt zurück auf die Betrachtung der Nazi-Zeit und auch zu dem, was Pflüger in seinem Roman vor dem Leser mit hoher Erzählintensität ausbreitet. Die Geschichte entfaltet sich aus der Sicht einer US-Amerikanerin namens Paula Bloom, die gegen Kriegsende nach ihrer Zeit im Camp Ritchie nach Europa zurückkehrt. Sehr intensiv erfährt der Leser das Grauen des Krieges auf den ersten Seiten, der gruseligen Überfahrt folgen grausame Eindrücke hinter der nach Norden vorrückenden Front in Italien.

Paula hat eine ungewöhnliche Biographie. Sie ist die Tochter eines Amerikaners, der in Berlin während 1930er Jahre lebte und arbeitete. Für US-Firmen, die mit deutschen Unternehmen gute Geschäfte machten, auch mit den später berüchtigten IG Farben. Moral stand hinten an, wie heute, wenn Sanktionen gegenüber Russland umgangen werden und Hochtechnologie aus dem Westen dem Aggressor ermöglicht, Krieg zu führen.

In Italien macht Paula als Übersetzerin Bekanntschaft mit einem SS-Offizier und begegnet Georg wieder, einem deutschen Offizier, an den sie ihr Herz verloren hat. Eine wildbewegte Geschichte entspannt sich, denn noch vor der Kapitulation der Deutschen wetterleuchtet der Kalte Krieg am Horizont, neue Bündnisse entstehen, Feinde, auch hochbelastete Täter aus dem Vernichtungskrieg werden wieder interessant.

Die Widersprüchlichkeit gleichzeitiger Entwicklungen, der Nürnberger Prozess und der Rückgriff auf deutsches Personal, die oft zynisch erscheint, durchzieht den gesamten Roman wie ein Bittermandelaroma. Paula wird auf einen aus Österreich stammenden Juden angesetzt, der als Top-Spion der Nazis galt. Sie soll ihm auf den Zahn fühlen, herausfinden, ob dieser Johann Kupfer lügt oder ein wertvoller Geheimdienstmann sein könnte.

Die Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht verwickelt, eine einfache Haltung einzunehmen ist für die handelnden Personen unmöglich, wie Paula zu spüren bekommt. Ihre eigene Vergangenheit, das erstickende Gefühl von Schuld wegen ihres Vaters und einer jüdischen Freundin, aber auch ihre noch immer glimmenden Gefühle gegenüber Georg holen sie ein. Ganz nebenbei erzählt Ritchie Girl auch von dem starken Gefälle zwischen Männern und Frauen in dieser Zeit, der latente und strukturelle Rassismus der US-Streitkräfte wird auch nicht verschwiegen.

Der Roman ist sehr unterhaltsam und spannend zu lesen, man fliegt durch die Seiten, vor allem, wenn die Zeitgeschichte und die handelnden Personen bekannt sind. Denn das Personentableau ist üppig geraten, der Erzählstil wirkt manchmal etwas flüchtig und ruppig, was allerdings der Handlungsdynamik sehr zugute kommt.

Beindruckend und erschütternd sind und bleiben die fürchterlichen Wechselfälle des Lebens unter der Knute von SS, Wehrmacht und Kollaborateuren während des Krieges; ebenso das, was Entnazifizierung genannt wurde, aber in vielerlei Hinsicht nicht war. Mit dem Ende konnte ich hingegen nur wenig anfangen, einige Dinge, wie das Schicksal Georgs und Kupfers, wirken inkonsequent. Das ist gemessen am gesamten Roman letztlich eine Petitesse.

Andreas Pflüger: Ritchie Girl
Suhrkamp 2022
Taschenbuch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-518-47267-5

Volker Kutscher: Transatlantik

Luftschiffe wie die Hindenburg waren selbst für Amerikaner ein Spektakel. Ihre Zeit endete jäh, als es 1937 zu einer fürchterlichen Katastrophe kam. Cover Piper Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Konnte das sein, dass es bei der ganzen Geschichte […] eigentlich um Gereon Rath ging?

Volker Kutscher: Transatlantik

Wenn im Roman Transatlantik von Volker Kutscher dieser Satz fällt, ist die Geschichte schon weit vorangeschritten. Gereon Rath, die Hauptfigur der Buchreihe, tritt im neunten Teil lange Zeit erstaunlich wenig in Erscheinung. Kein Wunder, gilt er doch als tot. So sind es nur kurze Episödchen, in denen der ehemalige Kommissar als handelnde Figur erscheint, die Last der Handlung tragen diesmal andere: Charlotte (Charly) Rath und Andreas Lange neben vielen anderen bekannten Figuren.

Trotz seiner Abwesenheit ist Rath stets dabei. Die Gedanken der Zurückgebliebenen gelten oft ihm, unabhängig davon, ob sie zu den Eingeweihten seines Geheimnisses gehören oder nicht, ob sie der Mär um den Getöteten Glauben schenken oder Zweifel daran hegen und argwöhnen, dass der ehemalige Polizist noch am Leben sein könnte. Einige seiner absonderlichen Methoden, etwa heimlich und in Missachtung der Regeln zu agieren, scheinen auf Hinterbliebene abgefärbt zu sein.

Natürlich gibt es einen Fall zu lösen, natürlich ist dieser nur der Ankerpunkt für den Roten Faden, der sich durch die gesamte Geschichte zieht und immer mehr mit vielen anderen Erzählfäden verwickelt. Die Klärung des Mordfalles fördert eine ganze Menge Überraschendes zutage, denn der Tote, ein Angehöriger der SS, ist mit einer ganzen Reihe obskurer Zeitgenossen und ihren nicht minder düsteren Plänen verbandelt.

Ein SS-Mann. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Volker Kutscher: Transatlantik

Wenn es um die SS geht, ist für alle größte Vorsicht geboten. Der Leser der vorangegangenen Romane weiß, wie sehr sich Deutschland in den vier Jahren zwischen 1933 und 1937 gewandelt hat. Der brüchige und schließlich strauchelnde Rechtsstaat hat sich in eine menschenverachtende, völlig gewissenlos agierende Diktatur verwandelt, in der keineswegs nur die Gegner, sondern auch die Angehörigen der regimetreuen Verbände (Wehrmacht, SA, SS) gnadenlos getötet werden, wenn sie den Absichten der Machthaber in die Quere kommen.

Davon erzählen schon Marlow, Olympia und Lunapark, davon erzählt auch Transatlantik. Es muss nicht einmal Aufbegehren oder gar Widerstand sein, nicht einmal ein Verletzen der Regeln, es reicht völlig aus, am falschen Ort zur falschen Zeit zu sein, durch reinen Zufall etwas zu sehen, was niemand sehen darf, um unter brutalsten Misshandlungen sein Leben auszuhauchen. Schlimmer noch: Wenn ein SS-Mann in Ungnade fällt, ergeht es ihm im Konzentrationslager schlechter als den dort einsitzenden Regimegegnern.

Es mag nicht beabsichtigt sein, aber der Brückenschlag zwischen NS-Regime und organisiertem Verbrechen in der Wahl der Methoden ist unübersehbar. Wenn Johann Marlow in den USA seinen Machtbereich als Chef einer Verbrecher-Organisation durch Folter und Tötung verteidigt, dann sind Parallelen zu den verbrecherischen Mitteln der SS offenkundig. Hüben wie drüben braucht es weder Gesetz noch Richter, es reicht der Wille des Bosses.

Das Verbrecherregime Hitlers sollte allerdings alles Dagewesene in den Schatten stellen, 1937 wirft der Zivilisationsbruch erste Schatten voraus. Am Rande nur, doch als Drohung allgegenwärtig, wird in Transatlantik von der Errichtung des Konzentrationslagers Buchenwald erzählt, ein mustergültiges Lager, erbaut von den Strafgefangenen. Gemordet wird auch an diesem Ort.

Natürlich war überhaupt nichts in Ordnung.

Volker Kutscher: Transatlantik

In die Mühlen des Regimes ist auch der zeitweilige Ziehsohn von Gereon und Charlotte Rath geraten. Friedrich (Fritze) Thormann war im Roman Olympia zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort und hat anderen zu allem Überfluss die Wahrheit, also das Falsche erzählt: Ein Selbstmord, der keiner war, sondern ein Mord, den ein Uniformierter ausgeführt hat. Da diese Wirklichkeit die sorgsam gehütete Scheinwelt der Nazis gefährdet, muss Fritze aus dem Verkehr gezogen werden.

Den Hitlerjungen und Ehrendienstler erklärt das Regime kurzerhand für geisteskrank und lässt ihn in einer so genannten Nervenheilanstalt verwahren. Wie er dort gelandet ist, wo er doch am Ende des Vorgängerromans eigentlich zu seiner großen Liebe Hannah aufgebrochen ist, wird hier nicht verraten. In der »Heilanstalt« sind die Insassen jedenfalls massiver Gewalt und Demütigung unterworfen.

Nicht Fritzes selbst ernannter Pflegevater Rademann, sondern Charly versucht, ihn auf rechtlichem Weg aus der Anstalt zu befreien. Dazu geht sie den Rechtsweg und wählt einen sehr geschickten taktischen Kniff, den ihre Gegner jedoch mit ebenso geschickten Kniffen kontern. Einer der großen Vorzüge von Transatlantik ist die Qualität vieler Winkelzüge, zu denen die Antagonisten greifen.

Alles, aber wirklich alles, was die Regierung tat, lief auf einen neuen Krieg hinaus, auch wenn offiziell das Gegenteil behauptet wurde.

Volker Kutscher: Transatlantik

Aus dem Regen in die Traufe: Gleich mehrfach unternimmt das Schicksal diese Wendung und zwar nicht nur, was Fritze anbelangt. Im Grunde genommen befinden sich jene Zeitgenossen des Jahres 1937 in Deutschland, die nicht dem Regime mit blinder Gefolgschaft zugetan sind, in einer desaströsen Lage. Die NS-Herrschaft hat sich etabliert, alle Hoffnungen, es könnte sich selbst entzaubern, sind verflogen; Lügen sind schließlich immer stärker.

Es ist absehbar, dass der »Spuk« namens Hitler länger dauern wird, als viele es erhofft und für möglich gehalten haben. Die Nazis führen Deutschland in eine barbarische Finsternis. Neben dem Zivilisisationsbruch kündigt sich ein neuer Krieg an, das wird auch manchem idealistischen Anhänger des Regimes bewusst. Ein schmerzlicher Prozess, den eigenen Irrtum zu begreifen.

Nicht nur der ehemals glühende Hitler-Anhänger und Hitlerjunge Fritze ist desillusioniert, auch in den Reihen der SS gibt es jene, die klar und deutlich sehen, dass der politische Kurs des Reiches in einen neuen Waffengang führt. Autor Kutscher bindet eine umfassende Luftschutzübung geschickt in die Handlung seines Roman ein, die auf gespenstische Weise vorwegnimmt, was Berlin und anderen Großstädten blüht.

Fritze stellte sich nicht auf die Zehenspitzen, er stand stramm. Er funktionierte. Ein mechanischer Hitlerjunge.

Volker Kutscher: Transatlantik

Wie hält man das aus? Das Zitat macht es deutlich. Mitspielen, mechanisch der Masse folgen, sich in Routinen stürzen und dort den Halt suchen, den man angesichts des sich überall ausbreitenden Grauens und der eigenen Ratlosigkeit und Ohnmacht längst verloren hat. Auch die »Helden« der Romane um Gereon Rath haben im Grunde keinen Einfluss auf die Geschehnisse, geschweige denn die Kontrolle über sie. Es bleibt ihnen nur ein Leben »als ob«.

Volker Kutscher nutzt jedoch die Möglichkeiten des fiktionalen Mediums, um das auf die Spitze zu treiben. Er kreiert in Transatlantik eine Konstellation, in der es eigentlich ohnmächtigen Personen tatsächlich möglich wäre, jemanden aus der Führungsspitze des Reiches zu beseitigen. Sie müssten nicht einmal etwas tun, sie könnten einfach abwarten und das Schicksal seinen Lauf nehmen lassen.

Dieser Part gleicht ein wenig einer Räuberpistole, wenn auch sehr spannend und dramatisch erzählt. Und doch wirkt gerade diese leicht überzogen wirkende Ereignisfolge wie ein anachronistisches Echo auf den 20. Juli und andere Attentatsversuche, vor allem aber wirft sie ein Schlaglicht auf die selbstverschuldete, widersprüchliche Handlungsweise des Menschen, der manchmal das genaue Gegenteil von dem tut, was er eigentlich vertritt: Jene schützen, die man tot sehen will, weil sie Hunderte, Tausende und bald Millionen auf dem Gewissen haben.

Die Ankunft eines Zeppelins war auch für die Amerikaner ein Ereignis.

Volker Kutscher: Transatlantik

Und Gereon Rath? Das Titelbild von Transatlantik ist kein Symbolbild. Im Jahr 1937 explodierte das Luftschiff Hindenburg in den USA, ausgerechnet jenes Vehikel, mit dem der ehemalige Polizist aus Europa flieht. Für die wenigen Zurückgebliebenen, die von seinem Scheintod und der Ausreise auf diesem Wege wissen, ist die Nachricht ein Schock und der Sturz in die Ungewissheit: Lebt Rath nach dem Unglück oder nicht?

In den USA ist auch ein anderer alter Bekannter rührig: Johann Marlow hat dort seine Zelte aufgeschlagen und geht seiner gewohnten Tätigkeit als Gangsterboss nach. Sein Hass auf Rath ist – wie man sich denken kann – ungebrochen, er unterscheidet sich kaum von dem, der den SS-Offizier Tornow antreibt. So oder so wäre Gereon Rath also in Lebensgefahr, dies- und jenseits des Atlantiks, denn der Hass auf ihn ist wahrhaft transatlantisch.

Weitere Romane der Buchreihe:
Volker Kutscher: Die Akte Vaterland.
Volker Kutscher: Märzgefallene.
Volker Kutscher: Lunapark.
Volker Kutscher: Marlow.
Volker Kutscher: Olympia.

[Rezensionsexemplar]

Volker Kutscher: Transatlantik
Piper Verlag 2022
Hardcover 592 Seiten
ISBN: 978-3-492-07177-2

Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik

Ins geteilte Berlin mitten im Kalten Krieg führt dieser ungewöhnliche Spionageroman mit einem Helden, der für Furore sorgte. Cover Elsinor-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Welches Bild auch immer der Begriff „Aspik“ in den Kopf zaubern mag, ein darin eingelegter – kann man sagen: eingelegt? – Dandy (ausgerechnet) wirkt mindestens schräg, in jedem Fall schillernd und ein wenig unappetitlich. Man assoziiert am ehesten jenen sprichwörtlich im Beton eines Bauwerks entsorgten Ermordeten, der aber dadurch aus dem Blickfeld verschwindet. Was in Aspik verwahrt wird, bleibt verzerrt sichtbar.

Mit dem Titel des Spionage-Klassikers von Derek Marlowe sind die Seltsamkeiten dieses Romans nicht beendet. Die Hauptfigur von Ein Dandy in Aspik tritt dem Leser reichlich dubios entgegen. Zurückgezogen, geradezu isoliert führt Alexander Eberlin sein Leben, ein schweigsamer Hausangestellter ist die einzige Person, die regelmäßig in seinem Haushalt auftritt.

Eberlin ist 36 Jahre alt und findet das Alter missvergnüglich. Zu alt für Übermut und Tatkraft der Jugend, zu jung für die Respektabilität des gesetzten Alters – eine schnoddrig-kauzige Haltung, die zum Dandy recht gut passt, wie seine gute Kleidung. Aber dieses stimmige Bild bekommt früh in der Handlung Risse, denn der billige Wein, der laut Eberlin wie Abwasser schmecke, gehört in eine andere, unkultivierte Welt.

In einer Ecke saßen drei arbeitslose Schauspieler und sprachen von sich selber.

Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik

Während der gesamten Romanhandlung wird der Leser immer wieder mit derartigen Brüchen konfrontiert. Dabei handelt es sich nicht etwa um „Fehler“ des Autors, sondern ein gezielt eingesetztes Stilmittel. Der Leser soll stutzen, verwirrt blinzeln und aufmerksam weiterlesen, ob und wie sich derlei Seltsames irgendwann aufklärt.

Das Leben des Alexander Eberlin ist jedenfalls nicht das, was es zu sein vorgibt. Da wäre der Masarati Mistrale, ein schnittiger Sportwagen im Stile eines James Bond-Autos, mit dem man wunderbar durch das kurvenreiche Südfrankreich brausen kann. Er steht in einer Werkstatt bei Lyon – was Eberlin zur Nutzung von Taxis und Öffentlichen Verkehrsmitteln zwingt.

Martin Compart verweist in seinem vorzüglichen Nachwort zurecht auf die geradezu groteske Vorstellung, James Bond, die Ikone des Kalten-Krieg-Spions, würde mit Bus oder Taxi fahren müssen. Dieser tiefgreifende Bruch mit dem monolithischen Bild des souverän agierenden Agenten-Helden ist Ausdruck eines viel weiter reichenden Risses: Eberlin ist Doppelagent.

Sein eigentlicher Name ist Krasnevin, seine Tätigkeit für die Briten nur Tarnung, eine ziemlich gute, um seinem Job nachzugehen: Töten. Eberlin / Kransnevins Aufgabe besteht darin, gefährliche Agenten auf Seiten der Briten auszuschalten. Er agiert in dieser Hinsicht durchaus erfolgreich.

Er hatte sie unterschätzt. Alles, was jahrelang sorgfältig geplant worden war, begann zusammenzustürzen.

Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik

Damit bekommt das zunächst obskur wirkende Verhalten Eberlins zumindest einen Sinn. Den Agenten ohne Auto plagt Heimweh nach Russland, er möchte zurück, was seine Vorgesetzten ablehnen. Das Motiv prägt die Verhaltensweise der Hauptfigur während des Romans und erklärt vielleicht auch, warum es diesem bisweilen an Professionalität mangelt.

Mehrfach wird er von anderen Agenten, insbesondere seiner Nemesis namens Gatiss, für sein unvorsichtiges, laienhaft dilettantisches Verhalten gerügt. Wieder liegt der Vergleich zu James Bond nahe – man stelle sich das einmal vor … Recht früh zeig sich, wie sehr Eberlin seinen Kontrahenten Gatiss fürchtet, er fürchtet eine Enttarnung.

Ein Dandy in Aspik spielt in den 1960er Jahren, mitten im Kalten Krieg, kurz nach dem Mauerbau – also in einer untergegangenen Welt. Die entlang klarer Linien verlaufende Konfrontation von West und Ost, Demokratie und Autokratie ging mit einer Dämonisierung des Gegners einher, der Typus des kommunistischen Ostagenten weicht von Eberlin / Krasnevin beträchtlich ab.

Derek Marlowe spielt in seinem Roman ein wenig mit diesem holzschnittartigen Gut-Böse-Schema, Heimweh will nämlich nicht recht zum Bild des ideologisch motivierten Agenten aus der Sowjetunion passen. Sicher ist es kein Zufall, dass ausgerechnet Gatiss den hochprofessionellen, kalten, emotionslos-unmenschlich handelnden Agenten verkörpert, der für den Westen arbeitet.

Jetzt hatte er glücklich drei Namen. Eberlin, die Dreifaltigkeit.

Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik

Eberlin wird auf eine Mission nach Berlin entsandt, der symbolgeladenen Frontstadt des Kalten Krieges. Inter dem Decknamen George Dancer soll er nach Krasnevin suchen. Er jagt also sich selber, eine wunderbare Quelle für haarsträubende Situationen, die Marlowe weidlich ausnutzt. Besonders groteske Umstände ergeben sich anlässlich eines Versuchs, die Grenze nach Ostberlin zu überschreiten.

Eberlin / Krasnevin / Dancer versucht, nach Osten zu entkommen, um sich der persönlichen Gefährdung zu entziehen und seinem Heimweh gegen den Willen seiner Vorgesetzten den Stachel zu nehmen. Wer einmal selbst einen Grenzübertritt in die DDR unternommen hat, wird die Umstände von Eberlins Versuch als schauerliche Reminiszenz empfinden, jene uniformiert-abweisende Unhöflichkeit, kaum verborgen vom Schleier bürokratischer Worthülsen und Ausflüchte.

Die Zwangslage, in der sich Eberlin befindet, spitzt sich stets zu, die Handlung ist zunehmend von Rasanz und abrupten Wendungen geprägt. Fast unnötig zu erwähnen, wie spannend das ist, obwohl Marlowe es versteht, auch das mit einem ironischen, sarkastischen Unterton zu erzählen.

Viele Dialoge von Ein Dandy in Aspik sind von befremdlicher Krautigkeit. Wo professionell-kühle Gesprächsführung zu erwarten wäre, sind die Wortbeiträge oft ein sprunghaftes, von Assoziationen getriebenes Mäandern. Vielleicht ist das auch ein Echo eines spezifischen Lebensgefühls, das möglicherweise viele Zeitgenossen befallen hatte, sei es im mauerdurchschnittenen Berlin, sei es auf den britischen Inseln: der Eindruck, in einer unwirklichen Welt zu leben.

Wie bei den anderen Bänden der Klassiker-Reihe aus dem Elsinor-Verlag ist auch bei Ein Dandy in Aspik das Nachwort von Martin Compart absolut lesenswert, denn es erhellt den Entstehungsprozess des Buches und gibt dem Leser einen Einblick in das Leben des Autors. Hinzu kommt noch ein sehr interessanter Beitrag Rolf Giesen über die kuriosen Umstände der Verfilmung des Buches.

[Rezensionsexemplar]

Weitere Besprechungen der Klassiker-Reihe:
Fearing, Kenneth: Die große Uhr.
Buchan, John: Der Übermensch.
A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde.
John Mair: Es gibt keine Wiederkehr.

Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik
Aus dem Englischen von Erika Nosbüsch
Ein Klassiker des Spionageromans
Hrsg. von Martin Compart
Elsinor Verlag 2024
Klappenbroschur 256 Seiten
ISBN: 978-3-942788-74-8

John Mair: Es gibt keine Wiederkehr

Ein Anti-Held, vielleicht der erste des Thriller-Genres, von außergewöhnlich vielschichtiger Gestalt, ist einer der großen Pluspunkte dieses spannenden, wendungsreichen und oft verblüffenden Romans. Cover Elsinor-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Man kommt nicht umhin, den Vergleich zu James Bond oder Mission Impossible zu ziehen. Gemeinsam ist den Filmen und dem Polit-Klassiker von John Mair, dass eine mehr oder weniger globale (und ein wenig groteske) Verschwörung im Gange ist. Völlig verschieden sind allerdings die Helden, Desmond Thane hat wenig bis nichts mit James Bond oder Ethan Hunt gemein. Dieses Spannungsfeld von Vertrautem und Fremden ist einer der Gründe, die aus Es gibt keine Wiederkehr einen tollen Roman machen.

Anders als Bond und Hawk wird Thane in die Verschwörung auf einem Umweg und gegen den eigenen Willen verstrickt. Es ist eine krude Mischung aus Passivität, Aggression, feiger Schwäche und Übersprungshandlung aus Eifersucht, die den Boulevardjournalisten zu einer Mord-Tat treiben. Die hat er zwar bereits gedanklich erwogen, aber eigentlich verworfen. Durch die Tötung gerät er immer wieder in nahezu aussichtslose Situationen, aus denen er sich oft nur äußerst knapp befreien kann. 

Während die Filmheroen mit spektakulären Fähigkeiten und gewitzten Tricks kritische Situationen bewältigen, spinnt Thane Lügen, manipuliert, schachert und wendet Gewalt an. Ein Anti-Held, trotz seiner durchaus bemerkenswerten Fähigkeiten. Dank seiner Intelligenz und Kommunikation, einem entsprechenden Auftreten sowie der Kunst, aus dem Stand Lügengespinste zu weben, gelingt es ihm immer wieder, sich aus einer aussichtslosen Lage herauszuwinden.

Sie war stark. Sie war ungewöhnlich. Sie zog ihn an.

John Mair: Es gibt keine Wiederkehr

Thane umgibt eine Aura leichtfertiger Ruchlosigkeit, sein Gewissen meldet sich nur selten, obwohl es allen Grund dazu hätte. Hand in Hand geht das mit einer spektakulären Unberechenbarkeit der Hauptfigur, der wirklich alles zuzutrauen ist. Das sorgt für rasante, ja haarsträubende Wendungen im Verlauf der Handlung.

Mair setzt geschickt auf die Verwirrung und Irreführung des Lesers. Schon die ersten Seiten sind eine imponierende Komposition aus nüchtern-sachlichen Abschnitten eines Lexikons über Giftpilze und kruden Kommentaren der – da noch unbekannten – Hauptfigur zu den tödlichen Auswirkungen: Sie erscheinen ihm »gut!«, »zu langsam«, in der Sterblichkeitsrate »hervorragend«, er ermahnt sich pendantisch »weiter prüfen«.

Obwohl er sich an einem Ecktisch des Lesesaals akribisch Notizen machte, wusste er nur zu genau, dass er Anna Raven niemals töten würde.

John Mair: Es gibt keine Wiederkehr

Der Autor legt sich mit diesem Satz fest, es ist ein Schein-Fundament, auf der sich die Unberechenbarkeit entfaltet, die Thane so auszeichnet. Jene Anna, die Thane töten will, lernt er zufällig in einem Café kennen. Sie ist äußerlich nicht sein Typ, reizt aber durch ihre Offenheit, ihre Ausstrahlung und Selbstbewusstsein. Ein sehr modernes Szenario, in dem die Frau zeituntypisch die dominierende Rolle übernimmt und den unsicheren Man in emotionale Bedrängnis bringt.

Bei dieser Begegnung wird dem Leser wirklich bewusst, dass die Geschichte im Krieg spielt – die Äußerung, Anna spreche das Englische in einer Weise, „das nach jener unnatürlichen Übergenauigkeit des gebildeten Ausländers klang“, lässt hellhörig werden. Eine Agentin, vielleicht sogar aus Hitlers nationalsozialistischem Reich?

Anna umwittert eine Aura der Unnahbarkeit, ein Teil ihres Lebens bleibt vor Thane verschlossen, ihr Verhältnis hat nur eine relativ begrenzte Schnittmenge. Eigentlich käme das der Hauptfigur entgegen, in diesem Falle macht sich eine gefährliche Gefühlsmischung breit, die Thane zu mehreren aggressiven und gefährlichen, ja auch für ihn untypischen Handlungen treibt, um der emotionalen Zwickmühle zu entkommen.

Mit der letztlich ungewollten Tötung Annas geraten die Dinge ins Rollen. Mair spielt ganz großartig mit Tempowechseln, lässt die Spannung und Dramatik in die Höhe schnellen und seinen irrlichternden Helden unvermutet dahintreiben, als wäre alles ganz harmlos und in allerbester Ordnung. Die Gefahr ist wie ein steter Donner am Horizont, fern, aber immer präsent.

Menschen aus der Kulturszene vergessen oft, dass die Macht in den Händen eines ganz anderen Menschenschlags liegt.

John Mair: Es gibt keine Wiederkehr

Mair wechselt die Perspektive und bricht gezielt den Erzählstil. Er lässt mit einem formalistisch gestalteten Protokoll die Verschwörer zu Wort kommen, denen Thane unbeabsichtigt auf die Schliche gekommen ist. Die Bedrohung für die Welt ist – gelinde gesagt – hanebüchen, die Pläne der Verschwörer sind hochfliegend, ihre Mittel und Aussichten fragwürdig. Gefährdungen wie Thane verfolgen sie aber unerbittlich.

Der Autor selbst hat den Kriegsbeginn miterlebt und seinen Roman in die Zeit hineingeflochten: Die häufigen Luftalarme und einige Angriffe der deutschen Luftwaffe nehmen einen gewissen Raum ein, auch die Nachrichten von der Front und jene oft merkwürdigen Begegnungen mit Offizieren der britischen Armee spielen eine Rolle, doch von jenem totalen Ausmaß, den der Krieg gegen Deutschland rückblickend zu kennzeichnen scheint, ist erstaunlich wenig zu merken.

Der Krieg ist da, wie die Luftverschmutzung oder ein zu starker Wind, er ist bedrohlich, aber für den Einzelnen wie Thane im Grunde genommen zweitrangig. Die Romanhandlung wird so aber mit einer ganz besonderen Stimmung angereichert, ein wenig, als würden die Menschen auf einem Vulkan leben, der auszubrechen droht; unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.

John Mairs Never come back ist immer noch eines der bestgehüteten Geheimnisse der Thriller-Literatur.

Martin Compart in John Mair: Es gibt keine Wiederkehr

Wie bei den anderen Büchern der Thriller-Klassiker-Reihe aus dem Elsinor-Verlag ist auch in diesem Fall das Nachwort von Martin Compart eine Klasse für sich. Wer zu einem Buch greift, das bereits mehrere Jahrzehnte auf dem Buckel hat, verfolgt zumeist mehr als bloße Unterhaltung. Es ist eine Art literarische Grabung, man möchte einen Blick auf die Wurzeln des Genres werfen, dessen zeitgenössische Vertreter in irgendeiner Form darauf aufbauen.

Der Typus des Anti-Helden ist durch Mairs Es gibt keine Wiederkehr in die Thriller-Literatur eingeführt worden; Compart erläutert, durch welche glücklichen Umstände verhindert wurde, dass dieses Stück Spannungsliteratur gänzlich in Vergessenheit geraten ist. Der Autor hat nur ein einziges Buch verfasst, bevor er bei einem Trainingsunfall der britischen Luftwaffe 1942 starb. Mair soll einen zweiten Thriller im Dunstkreis der britischen Luftwaffe geplant haben, was für ein Drama, dass er nie dazu kam, diesen zu schreiben!

Wie es im Literaturbetrieb immer wieder geschieht, lässt sich Erfolg nicht immer planen. So gab es durchaus positive Besprechungen, darunter von George Orwell, dem die Sonderstellung von Mairs Thriller nicht verborgen blieb, doch blieb der große kommerzielle Erfolg aus, das Werk geriet sogar in Vergessenheit. Nun liegt es in deutscher Übersetzung und einer schön gestalteten Ausgabe vor, eine Chance, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Ebenfalls in der Reihe erschienen & besprochen:
Fearing, Kenneth: Die große Uhr.
Buchan, John: Der Übermensch.
A.D.G.: Die Nacht der kranken Hunde.
Derek Marlowe: Ein Dandy in Aspik.

John Mair: Es gibt keine Wiederkehr
Aus dem Englischen von Jakob Vandenberg
Elsinor Verlag 2021
Broschiert 264 Seiten
ISBN: 978-3-942788-56-4

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