Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Thriller (Seite 1 von 4)

Lesevorhaben Wiedergelesen – 4 für 2025

Vier der vielen Bücher aus meinem Regal, die ich bereits kenne, aber unbedingt noch einmal lesen und hier auf dem Blog vorstellen will.

Auch in meinem Regal stehen viele Bücher, die ich gern noch einmal lesen und auf meinem Blog vorstellen möchte. 2024 habe ich das genau einmal gemacht, mehr zufällig, weil ich auf die Umsetzung des genialen Romans Die Straße als Graphic Novel Die Strasse gestoßen bin.

Die Konkurrenz ist groß, Rezensionsexemplare, Geschenke, Spontankäufe (trotz Buchkaufdiät), Buchleihen (Stadtbiliotheken sind ein gefährlicher Ort!) und die vielen Bücher, die bereits gekauft wurden und endlich gelesen werden wollen, rangeln um das knappste aller Güter im menschlichen Leben: Zeit.

So also eine kleine extrinsische Motivation: 4rereadsfür2025. Für jedes Quartal eins, das dürfte zu schaffen sein. Und die Vorfreude ist riesig, denn die vier Bücher sind groß. Historisch-politisch, versteht sich.

Walter Kempowski: Alles umsonst
»Zoffort!« zu lesen, denn es spielt im Januar 1945, im Osten Deutschlands, über dem sich der Sturm der Vernichtung zusammenbraut – perfekt als Januar-Lektüre 2025

Gerd Ledig: Die Stalinorgel
Für mich der beste Frontkriegsroman, den ich kenne. Er schildert die Kämpfe 1942 vor Leningrad und zeichnet in einer Szene ein geniales Bild einer demoralisierten Wehrmacht

Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes
Ein Ausflug nach Rom. Derart sarkastisch und bissig, dass ich das Büchlein zum drittel Mal lese; der Autor begegnet Papst Benedikt in einer evangelischen Kirche, kurz vor dessen Rücktritt

Robert Harris: Vaterland
Das Büchlein wurde bereits mehrfach gelesen, nicht nur von mir. Brillant in einen Thriller gegossene historische Dystopie um den verschwiegenen Holocaust in einer Welt, in der Hitler den Krieg gewonnen hat

Volker Kutscher: Rath

Ein furioser Abschluss der großartigen Romanreihe um Gereon Rath. Volker Kutscher spielt sämtliche Stärken noch einmal gekonnt aus, ein kleiner Wermutstropfen trübt das rundum positive Bild kaum. Cover Piper Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Zum Zeitpunkt, da die Handlung des Romans Rath anhebt, war es noch ein Jahr hin, dass der deutsche Wehrmachtsoffizier Wilm Hosenfeld angesichts der unmenschlichen Behandlung von Polen und Juden seine Uniform in Fetzen reißen wollte. Drei Jahre fehlten noch zum »Holocaust mit Kugeln«, der hunderttausende Opfer forderte. Und es blieben noch vier Jahre bis in den Gaskammern Millionen starben.

Der Zivilisationsbruch durch die Kulturnation Deutschland kam nicht aus heiterem Himmel. Wer die Romane Volker Kutschers um den Kriminalkommissar Gereon Rath liest, erlebt hautnah, wie das Gift nationalsozialistischer Ideologie in den Jahren vor und nach 1933 immer tiefer in die Gesellschaft und ihre Institutionen einsickerte, sie durchdrang und schließlich mit millionenfacher bereitwilliger Beihilfe in Krieg und Massenmord führte.

Die Romanreihe endet in jenem Moment, in dem der Zivilisationsbruch für alle Welt sichtbar wurde. Zielstrebig steuert die Handlung von Rath auf den 9. November 1938 zu. Die »Reichspogromnacht« fegte die letzten Zweifel an der gnadenlosen Exekution der antisemitischen Ideologie des NS-Regimes beiseite, es war der Schritt von Ausgrenzung und Ausschreitungen zur systematischen Gewaltanwendung jenes entrechteten Teil der Bevölkerung Deutschlands, der von den Machthabern als »jüdisch« angesehen wurden.

Literatur, die sich auf das Feld der Politik begibt, droht immer von dieser verschlungen zu werden.

Leonardo Padura, Das Meer der Illusionen

Volker Kutscher webt auf brillante Weise dieses historisch-politische Motiv in die Romanhandlung ein. Das ist ein Glanzpunkt von Rath, denn Kutscher gelingt das Kunststück, politisch zu schreiben, ohne den Roman von der Politik verschlingen zu lassen. Seine Figuren erleben, was es heißt, in dieser Zeit existieren zu müssen. Überleben ist keine Selbstverständlichkeit. Die Szenen, die den 9. November 1938 erzählen, sind von mitreißender Dichte. Die Atmosphäre erfasst den Leser und lässt ihn nicht wieder los.

Die Erschütterung des Pogroms, das zügellose Treiben der Nazis, das Verhalten der nicht-jüdischen Nachbarn, die völlige Recht- und Schutzlosigkeit der Opfer erleben gleich mehrere Personen am eigenen Leibe, die während der Handlung mit Gereon, Charlotte und anderen bekannten Personen zu tun hatten. Was über die als jüdisch geltende Bevölkerung hereinbrach, war bis dahin eher aus dem Osten Europas bekannt; die Illusion der jüdischen Integration in Deutschland seit Friedrich dem Großen verflüchtigte sich endgültig.

Der Herbst 1938 war auch in anderer Hinsicht disruptiv, was Kutscher zum Vorteil der dynamischen Romanhandlung nebenbei abhandelt. Aus München dringt während der Handlung immer wieder der ferne Donner eines heraufziehenden Krieges. Das Unheil kann gerade noch abgewendet werden, die in Verruf geratene Appeasement-Politik führte zu einer Übereinkunft auf dem Rücken der Tschechoslowakei. Damit liefen Putsch-Pläne des deutschen Militärs ins Leere, ein noch größeres Unheil, das in einem Halbsatz durchschimmert. Mehr braucht es auch nicht.

›Hilft ja alles nix. Am Ende entscheidet Hitler darüber, ob er Kriech will oder nit.‹

Volker Kutscher: Rath

Wie aber beendet man eine Buchreihe an einem nachtschwarzen Zeitpunkt? Ein Happy End verbietet sich. Volker Kutscher hat in einem Interview mit der FAZ einen interessanten Hinweis auf seine Überlegungen gegeben. Ein mögliches Final-Szenario wäre gewesen, dass die Familie Rath (Gereon, Charlotte, Friedrich) in Prag ist, wohin sie zwischenzeitlich tatsächlich flüchten wollte. Man sitzt um einen Tisch und draußen marschiert im März 1939 die Wehrmacht ein, hinter den Truppen folgen SS und Gestapo.

Kutscher hat sich für ein anderes, spektakuläres Ende entschieden, was mir außerordentlich gut gefallen hat. Der Leser schaut einigen lose im Wind der Geschichte baumelnden Erzählfäden hinterher, im Grunde genommen weiß man bei keiner der überlebenden Personen, wie es mit ihnen weitergehen wird. Das ist ein angemessener Umgang mit einem historischen Stoff, denn Geschichte ist immer offen. Nur rückwärtsgewandte Propheten behaupten anderes.

Die Wirkung des Endes wird verstärkt durch die dramatische Zuspitzung der Handlungsstränge. Das letzte Drittel des Romans liest man wie im Rausch, ein Pageturner, befeuert von voranjagender Spannung. Die vielfältigen Konflikte der vorangegangenen Bücher steuern auf eine »Lösung« zu, vor allem die Verwicklungen um Rath-Tornow-Gräf und Charly-Rademann-Fritze finden ihr überraschendes Ende.

Ihr könnt nicht da weitermachen, wo ihr aufgehört habt. All diese Dinge sind passiert. Die haben euch verändert. Die Zeiten haben sich verändert. Und eure Ehe, wenn man das noch so nennen kann, sowieso.

Volker Kutscher: Rath

Rath wie die gesamte Buchreihe lassen viele (Neben-)Figuren nicht unberührt von dem, was ihnen widerfährt. Wenn etwa ein SA-Mann von einem Bürger zu Tode geprügelt wird, zeigt das eben auch, wie sehr die zügellose Gewalt des Regimes und seiner Formationen in die Gesellschaft zurückwirkt. Auch dort brechen die Barrieren. Die Tötung ist keine reine Rache-Szene á la Italo-Western, sondern ein Sinnbild der fortschreitenden Enthemmung, die von den Nazis auf gewöhnliche Bürger ausstrahlt.

Auch die Hauptfigur ist davon betroffen, denn die Beziehung Gereons mit Charlotte ist erodiert und brüchig. Die Flucht nach Amerika nach dem Scheintod hat die Distanz vergrößert, der Graben bleibt auch in Rath lange offen. Allein die Umstände lassen nur kurze Stelldicheins in einem Hotel in Hannover zu. Gereon ist im Rheinland untergetaucht, Charlotte wurstelt sich in Berlin als Detektivin durch, ehe die Umstände rasante Veränderungen herbeiführen.

Wie schon in Transatlantik trägt Charly die Hauptlast der Handlung, Gereon ist abgetaucht. Kutscher deutet an einer Stelle ein geradezu klassisches Handlungsmotiv an, indem er Charlotte in dramatische Schwierigkeiten geraten und Gereon zu ihrer Rettung aufbrechen lässt. Die Rettungsmission löst sich jedoch auf überraschende Weise auf und Gereons Rolle als Retter läuft ins Leere. Mich hat bei der Lektüre die Frage beschäftigt, ob eine Buchreihe, die in acht von zehn Teilen auf eine Figur zugeschnitten ist, in den letzten beiden Bänden einen so weitreichenden Schwenk weg von der Hauptfigur vollziehen sollte.

Gereon Rath schwindet bereits in Transatlantik als handelnde Figur, mehr noch in Rath. Seine Lebensweise, das unpolitische Durchwursteln mit Abstechern in die Grauzone der Legalität, war schon lange an einer Grenze angekommen, dahinter blieb nur noch eine Flucht in die USA. Das Schwinden der Person in der Handlung spiegelt die Ausweglosigkeit und mangelnde Lernfähigkeit Gereon Raths wider und ist absolut vertretbar. Die Frage sei gestattet, ob unter diesen Umständen noch die letzten beiden Bände in der Form sinnvoll sind.

Die Frage stellt sich noch aus einem anderen Grund. 

Schwerer wiegt nämlich, dass die Gegenfigur zu Gereon nicht recht glaubwürdig wirkt. Charlotte Rath war bereits in den vorangegangenen Bänden einerseits ein wenig zu tough, gleichzeitig in ihren (oft selbstschädigenden) Handlungsmustern gefangen. Das setzt sich verschärft in Rath fort. Insbesondere die hochdramatischen Ereignisse nach dem Verrat eines alten »Freundes«, den Kutscher grandios als Musterbeispiel des angepassten Karrieristen gestaltet, hinterlassen scheinbar nur zarte äußerliche Spuren. Sie tritt danach wie davor auf, was schwer zu glauben ist.

Von dieser leisen Kritik unabhängig ist Rath ein furioser und angemessen furchtbarer Abschluss einer großartigen Buchreihe. Die Ermittlungen um den »Kriminalfall« bilden wieder einen leitenden roten Faden, die Erzählung ist abermals makellos in die Zeitläufte eingewoben. Die handelnden Figuren prallen aufeinander, wirbeln umeinander, ringen miteinander, verkrallen sich ineinander und führen einen irren Tanz auf, einen Totentanz am Abgrund.

Weitere Romane der Buchreihe:
Volker Kutscher: Die Akte Vaterland
Volker Kutscher: Märzgefallene
Volker Kutscher: Lunapark
Volker Kutscher: Marlow
Volker Kutscher: Olympia
Volker Kutscher: Transatlantik

[Rezensionsexemplar]

Volker Kutscher: Rath
Piper 2024
Gebunden 624 Seiten
ISBN 978-3-492-07410-0

Boston Teran: Gärten der Trauer

Der herausragende historische Thriller erzählt von einer geheimen Mission eines Special Agents im Osmanischen Reich, mitten im Ersten Weltkrieg. Spannend, dramatisch, atmosphärisch wie ein Abenteuerroman mit Szenen, die aus einem Western stammen könnten, widmet sich der Roman einem fürchterlichen Thema: dem Genozid an den Armeniern. Cover Elsinor, Bild mit Canva erstellt.

›Freiheit verlangt nach Widerstand.‹

Boston Teran: Gärten der Trauer

Wenn Heroen der fiktiven Geheimdienst-Welt wie James Bond oder Ethan Hunt zu ihren Missionen aufbrechen, wirken die dräuenden Gefahren nicht selten ein wenig konstruiert. So recht will man der Story nicht abnehmen, dass die ganze Welt bedroht ist und nur durch den Helden gerettet werden kann. Gleiches gilt für die Beweggründe der Gegenspieler, die mitunter etwas Banales und Vorgeschobenes haben. Schwülstige Pychospielchen übertünchen notdürftig den Mangel und am Ende, da ist alles gut.

Wenn Special Agent John Lourdes im Jahr 1915 aus den USA nach Europa aufbricht, ist gar nichts gut. Zu diesem Zeitpunkt tobte in der historischen Wirklichkeit ein Krieg, er war noch auf Europa beschränkt, weitete sich durch den Eintritt Italiens und des Osmanischen Reiches schon aus. Ein Brand auf Messers Schneide, der schließlich globale Ausmaße annehmen sollte und so lange loderte, dass die Verluste allzu gewaltig waren, um noch einen tragfähigen Frieden zu schließen.

Boston Teran hat den historischen Agenten-Thriller Gärten der Trauer in das Kriegsgeschehen eingeflochten. Konstruieren musste er weder Drama noch Drohung, dafür sorgten schon die Umstände. John Lourdes ist im Auftrag des State Departments unterwegs, sein Ziel ist das Osmanische Reich. Was er dort soll, bleibt zunächst einmal im Dunkeln. Schon bei seiner Ankunft wird er mit etwas konfrontiert, das die gesamte Handlung des Romans bestimmt: die Auslöschung der armenischen Bevölkerung durch die Türken.

Die Behandlung der armenischen Bevölkerung ist barbarisch und unmenschlich. John Lourdes wird Zeuge von ungeheurlichen Grausamkeiten, die im Roman schonungslos geschildert werden. Der Autor verzichtet auf jede Form von Weichzeichnung, aber auch darauf, die Armenier zu bloßen Opfern zu degradieren. Sie leisten Widerstand, wehren sich, wo immer sie können.

Franz Werfel hat in seinem großen Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh dem heldenhaften Versuch einer Gruppe Armenier, dem Tod zu entgehen, ein literarisches Denkmal gesetzt. Gärten der Trauer leistet das auch, auf eine andere Weise, dem Thriller-Genre entsprechend ist der Roman rasant und hochspannend erzählt. Zugleich weist er weit über den Genozid an den Armeniern hinaus, indem er diese Untaten an den Anfang einer neuen, Menschen und Völker verschlingenden Barbarei stellt.

Obwohl er die Bedeutung dessen, was er am Kai mitangesehen hatte, nicht vollständig erfassen und bewerten konnte, ahnte John Lourdes, dass die brutale Unmenschlichkeit dieser Geschehnisse von einer ganz neuen Schändlichkeit zeugte, wie sie die Welt bislang nicht kannte.

Boston Teran: Gärten der Trauer

Im ersten Moment wirkt es etwas befremdlich, wenn nicht etwa ein türkischer, sondern ein deutscher Offizier in die Handlung eintritt und sich als Gegenspieler von John Lourdes entpuppt. Doch ist die Anwesenheit von Rittmeister Bodo Franke keineswegs weit hergeholt, denn deutsche Truppen kämpften tatsächlich im Osmanischen Reich. Franke kommandiert eine halb irreguläre Truppe aus freigelassenen Verbrechern, die an die SS-Sondereinheit Dirlewanger erinnert.

Vor allem aber lässt die Wortwahl des Deutschen keinen Zweifel daran, dass alles in dunkle Zukunft des nahenden Verhängnisses verweist: Franke korrigiert das Wort »Ausrottung« durch »Umsiedlung«, jene verbale Verschleierung der Massentötungen im Vernichtungskrieg des Hitlerreiches. Das ist kein Zufall, an anderer Stelle ist von »Endlösung« die Rede. Der Genozid an den Armeniern ist Teil von etwas Größerem, des späteren Zivilisationsbruchs, der ausgerechnet von den hochkultivierten Deutschen begangen wurde.

›Reden können Sie ja gut‹, sagte Rittmeister Franke.
Miss Temple deutet auf eine Tisch, an dem zwei weitere deutsche Offiziere saßen, gemeinsam mit drei Angehörigen des türkischen Militärs, die der Geheimorganisation angehörten.
›Sie und diese Männer haben über die Ausrottung …‹
›… Umsiedlung der armenischen Volksgruppe innerhalb des osmanischen Staatsgebiets.‹
›Warum sind die Deutschen eigentlich hier? Zum Beaufsichtigen …?‹
›Um die Souveränität der osmanischen Regierung gegen internationale Agitatoren und ausländische Agressoren zu verteidigen.[…]‹

Boston Teran: Gärten der Trauer

Boston Teran hat seinem Roman den Charakter eines Agenten-Thrillers gegeben, Dynamik und Spannung wachsen, je weiter sich Special Agent John Lourdes in das Land hineinbegibt und in das Geschehen verwickelt wird. Angesichts des Krieges handelt es sich bei seinem Auftrag um eine verdeckte Geheimoperation. Diese dient erklärtermaßen nicht dem Ziel, die Armenier oder andere Völker zu befreien oder vor dem massenhaften Tod zu bewahren. Es geht um die Kontrolle über die reichhaltigen Ölvorkommen im Zweistromland (Basra) und am Kaspischen Meer (Baku).

Lourdes Auftrag und die geostrategischen Interessen der Auftraggeber kollidieren mit moralischen Erwägungen. Der Special-Agent steht vor der Wahl, seine Entscheidung geht auf seine eigene Herkunft zurück, wird aber auch durch die schockierenden Erlebnisse und Bekanntschaften mit Armeniern und ihren westlichen Unterstützern motiviert. Da wäre jene Aktivistin Alev Temple, die sich in exponierter Weise für die Verfolgten und Gejagten engagiert, vor allem dafür sorgt, dass die Vernichtung eines ganzen Volkes nicht im Nebel des Krieges verborgen bleibt.

Mit diesen Aspekten verweist der Roman auf eine Entwicklung, die bis in die Gegenwart reicht und vermutlich auch die Zukunft bestimmen wird. Moral und Interesse werden weiterhin kollidieren, die Versuche, Schandtaten zu verbergen, gibt es immer noch, auch wenn sie eine andere Gestalt angenommen haben. Aktivisten und Journalisten mit Mut und Courage können dagegen angehen oder sich zum Sprachrohr von Propaganda und Desinformation machen.

Doch weist Gärten der Trauer auch in die Vergangenheit. An einigen Stellen schimmert eine gewisse Zeitlosigkeit durch, außerdem werden die tiefen Wurzeln der Gegenwart sichtbar, wie das schöne Zitat zeigt. An einer anderen Stelle ist von »Straßen und Gassen dieser zeitlosen Welt« die Rede, ein Aquädukt bezeugt die schöpferische Hochkultur der Römer und als Lourdes den Tigris erreicht, ist ihm bewusst, an der Wiege der menschlichen Zivilisation zu stehen.

Seit den Tagen der Seleukiden und Parther kreuzten sich hier die Wege der Gewalt.

Boston Teran: Gärten der Trauer

Boston Teran ist das Kunststück geglückt, sein Thema in das Gewand eines hochspannenden, dramatischen, wendungsreichen Thrillers zu kleiden. Manchmal erinnern Szenen an Western, wenn etwa eine Befreiungsaktion unternommen wird. Die Atmosphäre gemahnt an einen Abenteuerroman mit Niveau. Wie es sich für einen Thriller gehört, mündet die Handlung in einen furiosen Showdown, der in diesem Fall sehr passend apokalyptische Züge trägt. Chapeau!

Abgerundet wird der großartige Roman von einem sehr informativen Nachwort von Martin Compart, der auch die Klassiker-Reihe des Elsinor-Verlages mit seinen einordnenden Worten bereichert. Lange Passagen mit Äußerungen des Autors sind sehr aufschlussreich über die Motivation zur Auseinandersetzung mit diesem ungewöhnliche Thema im Rahmen eines Thrillers. Auch über Boston Teran selbst erfährt der Leser eine Menge, denn wer das eigentlich ist, liegt noch im Nebel des Pseudonyms verborgen.

[Rezensionsexemplar]

Boston Teran: Gärten der Trauer
Aus dem Englischen von Jakob Vandenberg
Herausgegeben von Martin Compart
Elsinor Verlag 2024
Klappenbroschur 244 Seiten
ISBN 978-3-942788-78-6

Andreas Pflüger: Ritchie Girl

Ein intensiv erzählter Roman über die Nachwehen des Zweiten Weltkrieges. Cover Suhrkamp, Bild mit Canva erstellt.

Bei der Lektüre des Roman Ritchie Girl von Andreas Pflüger hat mich manchmal erstaunt, wie sehr dieser Roman von der Gegenwart zu erzählen scheint. Seit Russland seinen genozidalem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, gehen sie doch wieder um, die »Geister der Vergangenheit«, die gar nicht mehr so geisterhaft ihr blutiges Handwerk betreiben.

Im Gegensatz zum Vernichtungskrieg der Wehrmacht findet dieser vor aller Augen statt, für jeden unübersehbar. Umso bitterer, dass »Wegschauen, Schulterzucken« wieder in Mode sind, ebenso die larmoyante Kriegsmüdigkeit, das Folgen von Lügen und Propaganda – aus vielerlei Gründen. Wer sich fragt, die »das« damals geschehen konnte, bekommt Antworten präsentiert, die sehr unbequem und ernüchternd sind.

Das wirkt zurück auf die Betrachtung der Nazi-Zeit und auch zu dem, was Pflüger in seinem Roman vor dem Leser mit hoher Erzählintensität ausbreitet. Die Geschichte entfaltet sich aus der Sicht einer US-Amerikanerin namens Paula Bloom, die gegen Kriegsende nach ihrer Zeit im Camp Ritchie nach Europa zurückkehrt. Sehr intensiv erfährt der Leser das Grauen des Krieges auf den ersten Seiten, der gruseligen Überfahrt folgen grausame Eindrücke hinter der nach Norden vorrückenden Front in Italien.

Paula hat eine ungewöhnliche Biographie. Sie ist die Tochter eines Amerikaners, der in Berlin während 1930er Jahre lebte und arbeitete. Für US-Firmen, die mit deutschen Unternehmen gute Geschäfte machten, auch mit den später berüchtigten IG Farben. Moral stand hinten an, wie heute, wenn Sanktionen gegenüber Russland umgangen werden und Hochtechnologie aus dem Westen dem Aggressor ermöglicht, Krieg zu führen.

In Italien macht Paula als Übersetzerin Bekanntschaft mit einem SS-Offizier und begegnet Georg wieder, einem deutschen Offizier, an den sie ihr Herz verloren hat. Eine wildbewegte Geschichte entspannt sich, denn noch vor der Kapitulation der Deutschen wetterleuchtet der Kalte Krieg am Horizont, neue Bündnisse entstehen, Feinde, auch hochbelastete Täter aus dem Vernichtungskrieg werden wieder interessant.

Die Widersprüchlichkeit gleichzeitiger Entwicklungen, der Nürnberger Prozess und der Rückgriff auf deutsches Personal, die oft zynisch erscheint, durchzieht den gesamten Roman wie ein Bittermandelaroma. Paula wird auf einen aus Österreich stammenden Juden angesetzt, der als Top-Spion der Nazis galt. Sie soll ihm auf den Zahn fühlen, herausfinden, ob dieser Johann Kupfer lügt oder ein wertvoller Geheimdienstmann sein könnte.

Die Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht verwickelt, eine einfache Haltung einzunehmen ist für die handelnden Personen unmöglich, wie Paula zu spüren bekommt. Ihre eigene Vergangenheit, das erstickende Gefühl von Schuld wegen ihres Vaters und einer jüdischen Freundin, aber auch ihre noch immer glimmenden Gefühle gegenüber Georg holen sie ein. Ganz nebenbei erzählt Ritchie Girl auch von dem starken Gefälle zwischen Männern und Frauen in dieser Zeit, der latente und strukturelle Rassismus der US-Streitkräfte wird auch nicht verschwiegen.

Der Roman ist sehr unterhaltsam und spannend zu lesen, man fliegt durch die Seiten, vor allem, wenn die Zeitgeschichte und die handelnden Personen bekannt sind. Denn das Personentableau ist üppig geraten, der Erzählstil wirkt manchmal etwas flüchtig und ruppig, was allerdings der Handlungsdynamik sehr zugute kommt.

Beindruckend und erschütternd sind und bleiben die fürchterlichen Wechselfälle des Lebens unter der Knute von SS, Wehrmacht und Kollaborateuren während des Krieges; ebenso das, was Entnazifizierung genannt wurde, aber in vielerlei Hinsicht nicht war. Mit dem Ende konnte ich hingegen nur wenig anfangen, einige Dinge, wie das Schicksal Georgs und Kupfers, wirken inkonsequent. Das ist gemessen am gesamten Roman letztlich eine Petitesse.

Andreas Pflüger: Ritchie Girl
Suhrkamp 2022
Taschenbuch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-518-47267-5

Volker Kutscher: Transatlantik

Luftschiffe wie die Hindenburg waren selbst für Amerikaner ein Spektakel. Ihre Zeit endete jäh, als es 1937 zu einer fürchterlichen Katastrophe kam. Cover Piper Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Konnte das sein, dass es bei der ganzen Geschichte […] eigentlich um Gereon Rath ging?

Volker Kutscher: Transatlantik

Wenn im Roman Transatlantik von Volker Kutscher dieser Satz fällt, ist die Geschichte schon weit vorangeschritten. Gereon Rath, die Hauptfigur der Buchreihe, tritt im neunten Teil lange Zeit erstaunlich wenig in Erscheinung. Kein Wunder, gilt er doch als tot. So sind es nur kurze Episödchen, in denen der ehemalige Kommissar als handelnde Figur erscheint, die Last der Handlung tragen diesmal andere: Charlotte (Charly) Rath und Andreas Lange neben vielen anderen bekannten Figuren.

Trotz seiner Abwesenheit ist Rath stets dabei. Die Gedanken der Zurückgebliebenen gelten oft ihm, unabhängig davon, ob sie zu den Eingeweihten seines Geheimnisses gehören oder nicht, ob sie der Mär um den Getöteten Glauben schenken oder Zweifel daran hegen und argwöhnen, dass der ehemalige Polizist noch am Leben sein könnte. Einige seiner absonderlichen Methoden, etwa heimlich und in Missachtung der Regeln zu agieren, scheinen auf Hinterbliebene abgefärbt zu sein.

Natürlich gibt es einen Fall zu lösen, natürlich ist dieser nur der Ankerpunkt für den Roten Faden, der sich durch die gesamte Geschichte zieht und immer mehr mit vielen anderen Erzählfäden verwickelt. Die Klärung des Mordfalles fördert eine ganze Menge Überraschendes zutage, denn der Tote, ein Angehöriger der SS, ist mit einer ganzen Reihe obskurer Zeitgenossen und ihren nicht minder düsteren Plänen verbandelt.

Ein SS-Mann. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Volker Kutscher: Transatlantik

Wenn es um die SS geht, ist für alle größte Vorsicht geboten. Der Leser der vorangegangenen Romane weiß, wie sehr sich Deutschland in den vier Jahren zwischen 1933 und 1937 gewandelt hat. Der brüchige und schließlich strauchelnde Rechtsstaat hat sich in eine menschenverachtende, völlig gewissenlos agierende Diktatur verwandelt, in der keineswegs nur die Gegner, sondern auch die Angehörigen der regimetreuen Verbände (Wehrmacht, SA, SS) gnadenlos getötet werden, wenn sie den Absichten der Machthaber in die Quere kommen.

Davon erzählen schon Marlow, Olympia und Lunapark, davon erzählt auch Transatlantik. Es muss nicht einmal Aufbegehren oder gar Widerstand sein, nicht einmal ein Verletzen der Regeln, es reicht völlig aus, am falschen Ort zur falschen Zeit zu sein, durch reinen Zufall etwas zu sehen, was niemand sehen darf, um unter brutalsten Misshandlungen sein Leben auszuhauchen. Schlimmer noch: Wenn ein SS-Mann in Ungnade fällt, ergeht es ihm im Konzentrationslager schlechter als den dort einsitzenden Regimegegnern.

Es mag nicht beabsichtigt sein, aber der Brückenschlag zwischen NS-Regime und organisiertem Verbrechen in der Wahl der Methoden ist unübersehbar. Wenn Johann Marlow in den USA seinen Machtbereich als Chef einer Verbrecher-Organisation durch Folter und Tötung verteidigt, dann sind Parallelen zu den verbrecherischen Mitteln der SS offenkundig. Hüben wie drüben braucht es weder Gesetz noch Richter, es reicht der Wille des Bosses.

Das Verbrecherregime Hitlers sollte allerdings alles Dagewesene in den Schatten stellen, 1937 wirft der Zivilisationsbruch erste Schatten voraus. Am Rande nur, doch als Drohung allgegenwärtig, wird in Transatlantik von der Errichtung des Konzentrationslagers Buchenwald erzählt, ein mustergültiges Lager, erbaut von den Strafgefangenen. Gemordet wird auch an diesem Ort.

Natürlich war überhaupt nichts in Ordnung.

Volker Kutscher: Transatlantik

In die Mühlen des Regimes ist auch der zeitweilige Ziehsohn von Gereon und Charlotte Rath geraten. Friedrich (Fritze) Thormann war im Roman Olympia zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort und hat anderen zu allem Überfluss die Wahrheit, also das Falsche erzählt: Ein Selbstmord, der keiner war, sondern ein Mord, den ein Uniformierter ausgeführt hat. Da diese Wirklichkeit die sorgsam gehütete Scheinwelt der Nazis gefährdet, muss Fritze aus dem Verkehr gezogen werden.

Den Hitlerjungen und Ehrendienstler erklärt das Regime kurzerhand für geisteskrank und lässt ihn in einer so genannten Nervenheilanstalt verwahren. Wie er dort gelandet ist, wo er doch am Ende des Vorgängerromans eigentlich zu seiner großen Liebe Hannah aufgebrochen ist, wird hier nicht verraten. In der »Heilanstalt« sind die Insassen jedenfalls massiver Gewalt und Demütigung unterworfen.

Nicht Fritzes selbst ernannter Pflegevater Rademann, sondern Charly versucht, ihn auf rechtlichem Weg aus der Anstalt zu befreien. Dazu geht sie den Rechtsweg und wählt einen sehr geschickten taktischen Kniff, den ihre Gegner jedoch mit ebenso geschickten Kniffen kontern. Einer der großen Vorzüge von Transatlantik ist die Qualität vieler Winkelzüge, zu denen die Antagonisten greifen.

Alles, aber wirklich alles, was die Regierung tat, lief auf einen neuen Krieg hinaus, auch wenn offiziell das Gegenteil behauptet wurde.

Volker Kutscher: Transatlantik

Aus dem Regen in die Traufe: Gleich mehrfach unternimmt das Schicksal diese Wendung und zwar nicht nur, was Fritze anbelangt. Im Grunde genommen befinden sich jene Zeitgenossen des Jahres 1937 in Deutschland, die nicht dem Regime mit blinder Gefolgschaft zugetan sind, in einer desaströsen Lage. Die NS-Herrschaft hat sich etabliert, alle Hoffnungen, es könnte sich selbst entzaubern, sind verflogen; Lügen sind schließlich immer stärker.

Es ist absehbar, dass der »Spuk« namens Hitler länger dauern wird, als viele es erhofft und für möglich gehalten haben. Die Nazis führen Deutschland in eine barbarische Finsternis. Neben dem Zivilisisationsbruch kündigt sich ein neuer Krieg an, das wird auch manchem idealistischen Anhänger des Regimes bewusst. Ein schmerzlicher Prozess, den eigenen Irrtum zu begreifen.

Nicht nur der ehemals glühende Hitler-Anhänger und Hitlerjunge Fritze ist desillusioniert, auch in den Reihen der SS gibt es jene, die klar und deutlich sehen, dass der politische Kurs des Reiches in einen neuen Waffengang führt. Autor Kutscher bindet eine umfassende Luftschutzübung geschickt in die Handlung seines Roman ein, die auf gespenstische Weise vorwegnimmt, was Berlin und anderen Großstädten blüht.

Fritze stellte sich nicht auf die Zehenspitzen, er stand stramm. Er funktionierte. Ein mechanischer Hitlerjunge.

Volker Kutscher: Transatlantik

Wie hält man das aus? Das Zitat macht es deutlich. Mitspielen, mechanisch der Masse folgen, sich in Routinen stürzen und dort den Halt suchen, den man angesichts des sich überall ausbreitenden Grauens und der eigenen Ratlosigkeit und Ohnmacht längst verloren hat. Auch die »Helden« der Romane um Gereon Rath haben im Grunde keinen Einfluss auf die Geschehnisse, geschweige denn die Kontrolle über sie. Es bleibt ihnen nur ein Leben »als ob«.

Volker Kutscher nutzt jedoch die Möglichkeiten des fiktionalen Mediums, um das auf die Spitze zu treiben. Er kreiert in Transatlantik eine Konstellation, in der es eigentlich ohnmächtigen Personen tatsächlich möglich wäre, jemanden aus der Führungsspitze des Reiches zu beseitigen. Sie müssten nicht einmal etwas tun, sie könnten einfach abwarten und das Schicksal seinen Lauf nehmen lassen.

Dieser Part gleicht ein wenig einer Räuberpistole, wenn auch sehr spannend und dramatisch erzählt. Und doch wirkt gerade diese leicht überzogen wirkende Ereignisfolge wie ein anachronistisches Echo auf den 20. Juli und andere Attentatsversuche, vor allem aber wirft sie ein Schlaglicht auf die selbstverschuldete, widersprüchliche Handlungsweise des Menschen, der manchmal das genaue Gegenteil von dem tut, was er eigentlich vertritt: Jene schützen, die man tot sehen will, weil sie Hunderte, Tausende und bald Millionen auf dem Gewissen haben.

Die Ankunft eines Zeppelins war auch für die Amerikaner ein Ereignis.

Volker Kutscher: Transatlantik

Und Gereon Rath? Das Titelbild von Transatlantik ist kein Symbolbild. Im Jahr 1937 explodierte das Luftschiff Hindenburg in den USA, ausgerechnet jenes Vehikel, mit dem der ehemalige Polizist aus Europa flieht. Für die wenigen Zurückgebliebenen, die von seinem Scheintod und der Ausreise auf diesem Wege wissen, ist die Nachricht ein Schock und der Sturz in die Ungewissheit: Lebt Rath nach dem Unglück oder nicht?

In den USA ist auch ein anderer alter Bekannter rührig: Johann Marlow hat dort seine Zelte aufgeschlagen und geht seiner gewohnten Tätigkeit als Gangsterboss nach. Sein Hass auf Rath ist – wie man sich denken kann – ungebrochen, er unterscheidet sich kaum von dem, der den SS-Offizier Tornow antreibt. So oder so wäre Gereon Rath also in Lebensgefahr, dies- und jenseits des Atlantiks, denn der Hass auf ihn ist wahrhaft transatlantisch.

Weitere Romane der Buchreihe:
Volker Kutscher: Die Akte Vaterland.
Volker Kutscher: Märzgefallene.
Volker Kutscher: Lunapark.
Volker Kutscher: Marlow.
Volker Kutscher: Olympia.

[Rezensionsexemplar]

Volker Kutscher: Transatlantik
Piper Verlag 2022
Hardcover 592 Seiten
ISBN: 978-3-492-07177-2

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