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Schlagwort: Österreich-Ungarn (Seite 1 von 2)

Klaus Modick: Keyserlings Geheimnis

Klaus Modicks Künstlerroman widmet sich einem weitgehend vergessenen Schriftsteller inmitten einer längst untergegangenen Welt. Cover Kiepenheuer&Witch, Bild mit Canva erstellt.

Die Bücher Klaus Modicks haben mich noch nie enttäuscht. Auch Keyserlings Geheimnis ist keine Ausnahme, im Gegenteil: Es ist ein großes Lesevergnügen, die gemächliche, melancholische Erzählweise trägt durch die Geschichte um den heute völlig vergessenen Autor aus dem Baltikum. Die Sprache ist einer der Pluspunkte dieses kleinen, feinen Romans.

Graf Eduard von Keyserling trägt ein Geheimnis mit sich herum. Immer wieder schweifen seine Gedanken in die Vergangenheit, berichten von den großen und kleinen, unwiederbringlich verlorenen Liebschaften. Verletzungen schimmern durch und mehr noch der Bruch, den der Adelige gegenüber seiner Herkunft, seiner Familie und gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen vollzogen hat.

In der erzählten Gegenwart ist Keyserling etablierter Schriftsteller, Teil der Künstler-Boheme, gut vernetzt mit berühmten Kreativen seiner Zeit. Ausgangspunkt seiner gedanklichen Streifzüge durch sein Leben ist das Haus am See seines Freundes Max Halbe, wo er mit einigen anderen eingeladen ist. Dort malt ihn Lovis Corinth, das Bild ist bekannter als sämtliche Schriften Keyserlings.

Der Grund liegt in Keyserlings Hässlichkeit, die ein zentrales Motiv während der Handlung ist. Sie setzt ihm zu, als junger Mann wie als Mittvierziger, der noch einmal vom Zauber junger Mädchenblüte umweht wird. Modick gelingt es, das alles ohne Larmoyanz und aufgesetzte Eigenmarginalisierung seiner Hauptfigur in Szene zu setzen; im Gegenteil: Ganz am Ende nämlich, wenn das durchaus bittere Geheimnis enthüllt ist, offenbart sich die Lebensstärke dieses Mannes.

Zu den wirklich schönen Dingen dieses Künstlerromans gehören die vielen Begegnungen, Gespräche und merkwürdig komischen Verhältnisse. Wenn Keyserling etwa mit Frank Wedekind in einen fundamentalen Streit gerät, und das Dichtergenie ihm die Freundschaft in alle Ewigkeit aufkündigt, weiß der Graf, dass diese Endlosigkeit schon nach wenigen Stunden vorüber sein wird.

Neben allem anderen ist der Roman auch ein Portrait der Zeit und gleich mehrerer untergegangener Welten. Wien mag es noch geben, die imperiale Hauptstadt ist heute ein üppig-prächtiges Echo dieser Vergangenheit, das Baltikum und seine deutschen Spuren haben sich dagegen so vollständig aufgelöst, dass man glauben könnte, es habe sie nie gegeben; gleiches gilt für den schriftstellernden Grafen Eduard von Keyserling.

Klaus Modick: Keyserlings Geheimnis
Kiepenheuer & Witsch 2019
Taschenbuch 240 Seiten
ISBN: 978-3-462-05335-7

Leo Perutz: Der Meister des Jüngsten Tages

Einen großen, internationalen Erfolg konnte der österreichische Schriftsteller mit seinem 1923 erschienen Roman erzielen. Cover dtv, Bild mit Canva erstellt.

Als ich vor einigen Jahren den Roman Der schwedische Reiter von Leo Perutz in meiner Göttinger Buchhandlung kaufte, erfuhr ich, dass der Autor eher selten gelesen wird. Das ist schade, denn Perutz schreibt wirklich gut. Das gilt auch für seinen Roman Der Meister des Jüngsten Tages. Der hält einige Überraschungen bereit, denn es handelt sich um einen Kriminalroman mit Spuren von Mystery.

Die Handlung spielt im Jahr 1909 in Wien, eine wunderbare (Erzähl-)Zeit und ein ebensolcher Ort. Zu Beginn versammelt man sich in besserer Gesellschaft, spielt Klavier-Kammermusik – Brahms hat unglaubliche Stücke geschrieben, die vor Energie, dramatischem Pathos und Leidenschaft zu bersten scheinen. Zu den großen Vorzügen der Gegenwart gehört die Möglichkeit, sich mit einem Klick die im Roman geschilderten Stücke einmal anzuhören.

Ein Todesfall geschieht, der nach einem Mord aussieht. Ein Verdächtiger ist schnell auserkoren, ein Motiv ist auch vorhanden, die anfänglich bereits spürbaren emotionalen Lasten, die der Ich-Erzähler mit sich herumträgt, wenden sich gegen ihn. Perutz hat eine sensationelle Erzählfigur geschaffen, die trotz der eigentlich nahen, persönlichen Erzählhaltung für den Leser schwer greifbar bleibt.

Das liegt unter anderem an den geradezu dramatischen Stimmungsschwankungen des Ich-Erzählers, außerdem lässt ihn Perutz angesichts des Todesfalles und der sich für ihn abzeichnenden Konsequenzen immer wieder abdriften, seine Gedanken weichen aus der Gegenwart in die Vergangenheit, Rechtfertigungen, Selbstanklagen, ja in einem Fall meint der Ich-Erzähler sich einer Sache zu erinnern, die er tatsächlich nicht erlebt haben kann.

Für den Leser (oder Hörer; die Hörbuchausgabe mit Peter Simonischek ist glänzend) macht das einen gehörigen Teil der Spannung aus. War er »es«? Oder nicht? Die Fragen werden zu treuen Begleitern, während das Buch in eine intensive Suche mündet, mit dem Ziel, die Umstände des Todes aufzuklären. Ganz nebenbei wird der Leser in die Vorkriegszeit Wiens eingeführt.

Der Stil von Perutz ist für viele Krimi-Leser des frühen 21. Jahrhunderts sicher gewöhnungsbedürftig. Der Roman ist 1923 entstanden und atmet noch die alte, kaiserlich-königliche Zeit, eine Art sprachliches Kolorit (was in der Hörbuchversion ganz besonders zum Tagen kommt). Wer nur Krimi-Massenware nach Schreibratgeber-Pausbogen mag, sollte Der Meister des Jüngsten Tages lieber meiden. Für alle anderen wartet mit diesem Klassiker ein kleiner Schatz.

Leo Perutz: Der Meister des Jüngsten Tages
dtv 2003
TB 208 Seiten
ISBN: 978-3-423-13112-4

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Ein epochemachendes Werk, zentral für alle, die Geschichte und Gegenwart verstehen wollen. Cover DVA. Bild mit Canva erstellt.

Allein die Herangehensweise spricht für eine nachdrückliche Lektüreempfehlung dieses umfangreichen Buches namens Die Schlafwandler. Der Historiker Christopher Clark untersucht den Weg in den Ersten Weltkrieg, die Urkatastrophe, die am Anfang von Europas Selbstvernichtung stand. Sein Ansatzpunkt ist dabei hochinteressant und – wie es sich über ein Werk dieser Art gehört – umstritten. Aus meiner Sicht hat es epochalen Charakter.

Die Kriegsschuld, die im Versailler Vertrag und von vielen Historikern dem Deutschen Kaiserreich zugesprochen worden ist, darf wie ein bequemes Sofa betrachtet werden. Die Siegermächte entband es von der Notwendigkeit, die eigenen Anteile an dem Desaster kritisch zu beleuchten – man hatte ja einen Verursacher. Aber auch für interessierte Kreise auf Seiten der Deutschen war diese Zuschreibung vorteilhaft, eignete sie sich vortrefflich für antidemokratische und nationalistische Propaganda.

Nach 1945 haben viele deutsche Historiker unter dem Eindruck des Zivilisationsbruchs nur zu gern die schlichte Lösung des angeblich geplanten, provozierten Krieges im Rahmen einer Strategie, die als »Griff nach der Weltmacht« bezeichnet wurde, aufgegriffen und mit Klauen und Zähnen verteidigt; im Kern eine absurde, wenn auch verständliche Rückschau durch die Brille des nationalsozialistischen Weltanschauungs- und Angriffskrieges.

Alles fing mit einem Kommando von Selbstmordattentätern und einem Autokorso an.

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Christopher Clark geht einen anderen, meines Erachtens seriöseren Weg, und lässt die »Kriegsschuld« außen vor. Stattdessen konzentriert er sich auf die politischen Verhältnisse, Strömungen und Optionen, die den handelnden Personen in der Julikrise zur Verfügung standen und zeigt minutiös auf, wer, wann, wie und vor welchem Hintergrund handelt.

Frappierend, wie sehr die angeblich so sachliche und nüchterne Historiographie Ideologien und Denkmuster widerspiegelt. Clark verweist ganz am Ende seines Buches darauf, wie schnell und umfänglich Serbien als wesentlicher Akteur aus dem Denken der Verantwortlichen verschwunden ist – und auch aus den Werken der Geschichtsschreiber, die sich – wie Franzosen, Russen und Engländer damals – auf Deutschland fokussierten.

Die Schlafwandler nimmt sich eines extrem komplexen Vorganges an, der Jahre vor 1914 seine Wurzeln hat – eben auch dort, wohin bislang kein Scheinwerfer der Historiographie leuchtete. Allein für Clarks ausführliche Darstellung des serbischen Wegs in das Desaster gebührt dem Autor große Anerkennung, die Schilderung des irredentistischen Königsmörder-Flügels unter den Verantwortlichen, rückt einiges ins Licht.

Serbien  wird aus der Bedeutungslosigkeit herausgeholt, zugleich aber der Selbststilisierung als reines Opfer entkleidet und – dankenswerterweise – nüchtern in seiner inneren Entwicklung betrachtet.

Das Opfer war ein zentrales Motiv, fast schon ein Wahn.

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Auch der geschulte Leser fühlt sich wie auf einer Entdeckungsreise in eine unbekanntes, nicht kartographiertes Land. Was da aus der Dunkelheit an Licht kommt, lässt im Jahr 2022 schaudern. Die serbischen Stimmen, die vor 1914 von einem Großserbien schwadronierten, lassen die Äußerungen über die Ukraine, die aus Putins Reich kommen, wie ein spätes, gefährliches Echo klingen.

Durch die Beschäftigung mit Serbien wird erst klar, wie sehr die Entente-Mächte dem fünften Großmacht-Rad am europäischen Wagen, Österreich-Ungarn, alle Rechte absprachen, die sie für sich in Anspruch nahmen; ja, auch ohne triftigen Grund für sich beanspruchten. Österreich-Ungarn galt 1914 als verfallender Staat, der zwangsläufig verschwinden würde (wie auch das Osmanische Reich). Auch mit dieser Annahme räumt Clark auf.

Es nimmt sich schon kurios aus, wie sehr Russland wirtschaftlich und militärisch überschätzt und hinsichtlich der internen Schwächen unterschätzt wurde – niemand hätte 1914 eine Wette darauf gewagt, dass der Riese im Osten drei Jahre später kollabieren würde. Umgekehrt ist es eben auch fraglich, ob Österreich-Ungarn nicht hätte eine innere Reform durchführen und sich stabilisieren können.

Das Todesurteil für das Habsburgerreich wurde noch durch eine rosarote Sichtweise Serbiens als Nation der Freiheitskämpfer bekräftigt, denen die Zukunft gehörte.

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Geschichte wiederholt sich (nicht). Die ewige Frage würde ich – nicht nur in diesem Fall – mit dem Begriff des historischen Echos versehen – leicht verzerrt, doch in seinem Kern gleich und zusammengenommen ähnlich.  Serbien ist keineswegs nur die Zündflamme des Flächenbrandes namens Erster Weltkrieg gewesen, sondern handelnder und über seine wirkliche Bedeutung hinausreichender Akteur des Desasters gewesen.

Vielleicht musste ein Historiker wie Christopher Clark kommen, den es aus der australischen Ferne nach Europa verschlagen hat, wo er den gewohnten Blick auf den Weg in den verheerenden Ersten Weltkrieg geschärft und viele bequeme Gewohnheiten über den Haufen geworden hat. Clark schaut genauer hin und schildert die Vorgänge und mögliche Alternativen auf sehr vielen Ebenen.

So wird die Bedeutung des Balkans, seiner kleinen, streit- und kriegslustigen Staaten, allen voran Serbiens, aber auch Italiens, das mit seinem ebenso aggressiven wie vergessenen Krieg 1912 verhängnisvollen Entwicklungen den Weg bereitete, der nötige Raum gegeben. Die politischen Entscheidungsfindungsprozesse in den Staaten, ihre Machtgruppen und einander bekämpfenden Gruppen, werden aufgezeigt, die Bedeutung der Monarchen, der Presse und gesellschaftlicher Verbände beleuchtet.

Es ist ein lohnenswerter, verschlungener, vielfach gewundener Weg, den der Leser beschreitet. Im Verlauf wird ihm klar, wie kurios der Begriff der »Schuld« ist, der den Blick auf die wesentlichen Aspekte verstellt. Etwa die ungeheuer aggressive Politik russischer Kreise, die Deutschenfeindlichkeit mächtiger Gruppen in England und Frankreich. Das Buch ist wie eine Impfung, die Neigung, dort eine »Mitschuld« zu verorten, verfliegt und macht der sehr viel wichtigeren Frage Platz: Wie hätte sich das Debakel verhindern lassen?

Mir haben mehrere Aspekte ganz besonders gefallen. Zum einen Clarks Blick auf die Kommunikation zwischen den Machtgruppen und Staaten, insbesondere die Einbettung des Überlieferten in eine Analyse von deren tatsächlicher Wirkung. Zum zweiten die Frage, ob und wann es hätte wie anders kommen können – Die Schlafwandler bricht grundsätzlich mit der Neigung, den Ersten Weltkrieg als zwangsläufigen Endpunkt einer unveränderlichen Entwicklung zu betrachten.

Sehr bemerkenswert ist aber drittens die Feststellung, dass die handelnden Akteure auf allen Seiten wenig über die Intentionen der anderen wussten, mit einer geringen Zuversicht bezüglich der Verlässlichkeit der anderen, selbst innerhalb der Bündnisblöcke ausgestattet waren und die daraus resultierende Instabilität durch die wechselnden Machtverhältnisse innerhalb der jeweiligen Exekutiven verschärft wurde.

Die Österreicher glichen Igeln, die ohne nach rechts oder links zu schauen, über eine Autobahn trippeln.

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Die Voraussetzungen für eine mögliche Abwendung des Ersten Weltkrieges waren also nicht besonders gut, aber nicht, weil sich etwa zwei in sich geschlossene Blöcke gegenüberstanden, sondern auch wegen der Unsicherheit innerhalb der Blöcke. Clark hat das beim Blick auf die Julikrise 1914 herausgestrichen, was aus meiner Sicht weit über das historische Ereignis hinausragt und den Blick auf aktuelle politische Entwicklungen schärfen sollte. Aus Die Schlafwandler lässt sich vortrefflich lernen.

Die Vereinfachung komplexer historischer Entwicklungen hat für die Gegenwart verheerende Konsequenzen. Sie erklärt nämlich beispielsweise die nachgerade absurde Ignoranz der deutschen auswärtigen Politik im 21. Jahrhundert gegenüber der Ukraine, den baltischen Staaten, Polen und Belarus und alleinige Fokussierung auf Russland – wohlgemerkt aus Gründen der »historischen Verantwortung«. Als ob die Nazis nur in Russland gewütet hätten.

Die Schlafwandler ist eben auch eine Plädoyer dafür, komplex zu denken, wenn es um komplexe Entwicklungen geht, und Misstrauen gegenüber einfachen Antworten zu entwickeln. Die medial allzu häufig zu Wort kommenden Schlichtgestalten mit ihren einfältigen Schuldzuschreibungen (!) sind nichts weiter als ein erbärmliches Echo bequemer, eindimensionaler Weltsichten, Vertreter einer Art historisch-politischen Autismus’.

Christopher Clark: Die Schlafwandler
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz
DVA 2013
Hardcover, 896 Seiten
ISBN: 978-3-421-04359-7

Karen Duve: Sisi

Schon in Fräulein Nettes kurzer Sommer hat Karen Duve gezeigt, wie sie mit historischen Figuren umgeht. Das war ein Grund für die Lektüre. Cover: Galiani-Berlin. Bild: Canva.

Natürlich habe ich die Filme gesehen, schließlich bin ich Enkel und als solcher dazu verdammt gewesen, manchen Abend vor dem TV zu verbringen; einmal lief auch »Sisi«. Und nein: Ich kann mich nicht erinnern, nicht einmal einzelne Bilder sind hängengeblieben, geschweige denn, etwas von der Handlung. Mit Fug und Recht darf behauptet werden: nicht mein Genre. Kaiserin Elisabeth von Österreich ist mir herzlich egal.

Trotzdem dieser Roman mit dem Titel Sisi. Das liegt vor allem an der Autorin. Duves Schreiben ist wie geschaffen für einen Stoff á la Sisi, was ich schon bei Fraulein Nettes kurzer Sommer erleben durfte. Was allzu leicht in schmierig, schwülstiges, hymnisch-verklärtes Gesülze abgleiten könnte, geht sie mit knarziger Nüchternheit, Distanz und präziser Beobachtung an. Norddeutsche Sachlichkeit trifft Habsburger Schmäh.

Ganz wunderbar boshaft wirken sehr geschickt zusammengestellte Passagen des Romans. Duve enthüllt anlässlich einer Parforcejagd dem Leser allgemeine gesellschaftliche Phänomene, in diesem Fall die absurd-männlichen Attitüden britischer Edelleute, die in Ermangelung militärischer Aufopferungsoptionen den Reitsport wie einen Seiltanz ohne Netz praktizierten.

»Härte, Mut und Todesverachtung. Die Offiziere überschütten das Kriegsministerium mit Ersuchen nach Versetzung in den aktiven Dienst und sie meinen das vollkommen ernst. Aber es gibt nicht genug blutige Feldzüge für alle im Empire, also setzt man seine körperliche Unversehrtheit in den Vorräumen der Offiziersmessen aufs Spiel oder in den Rauchsalons der Familiensitze, wo man nach dem Diner miteinander rangelt. Bärenkämpfe nennt sich das, wenn man seinen besten Freunden die Nasen blutig schlägt und ihnen die Rippen bricht.«

Karen Duve: Sisi

Die Parforcejagden bezeichnet Duve im Roman auch als »Schlachtfeld«, sie werden mit hohem Tempo und ins Absurde gesteigertem Risiko geritten. Kleinigkeiten wie ein Kaninchenloch, ein unsichtbarer Draht oder die Ungeschicktheit eines anderen Reiters reichen, um eine Katastrophe heraufzubeschwören: Stürze mit schwerwiegenden Folgen.

»[…], man bricht sich den Rücken oder gleich das Genick. Jeder weiß das. Das House of Lords ist voller Rollstühle, alles Jagdunfälle. In den vornehmen Sanatorien vegetieren die Jagdreiter mit irreparablen Hirnschäden vor sich hin.«

Karen Duve: Sisi

Elisabeth von Österreich, »Sisi«, kann auf diesem ersatzweisen Feld der Ehre nicht nur mitmischen, sie ist eine dermaßen herausragende Reiterin, dass nur ganz wenige mit ihr mitzuhalten vermögen. Mutig, entschlossen und selbstbewusst stürzt sich die Kaiserin in das lebensgefährliche Abenteuer, fegt mit der Jagd dahin, stürzt, rappelt sich wieder hoch, reitet weiter. Wie alle anderen ist sie am Ende völlig ausgepumpt, dreckig und glücklich.

Diese lange Einführung sei verziehen, aber Duve hat ihren Roman nicht ohne Grund mit dem Reitvergnügen Sisis in England begonnen, denn dort lässt sich diese ganz spezielle Seite der historischen Persönlichkeit ganz wunderbar entfalten. Es ist Glück. Freiheit, ohne Kopfschmerz und Melancholie, ohne Launen und Schläge für die Bediensteten.

Im Falle einer Kaiserin absehbar nur eine Episode. In scharfem Kontrast steht das Leben am Hof, das Zeremoniell, die Ehe mit dem untadeligen und unerträglichen Kaiser dazu. Umgekehrt hat auch Elisabeth von Österreich ihre abgründigen Schattenseiten, das Verhältnis zu ihrer ältesten Tochter etwa oder die Neigung, ihren Geschwistern jeden Wunsch – auf Kosten anderer – zu erfüllen.

Die Autorin verzichtet gänzlich darauf, offen zu kommentieren oder zu urteilen; zwischen den Zeilen kommt genug Haltung zum Vorschein. Mit kühlem Scharfblick schildert Duve das Leben in Wien und den anderen Aufenthaltsorten Elisabeths; dem Hofleben und seinen tückischen Gewässern wird immer mehr Raum eingeräumt. Manchmal wird es handfest sarkastisch.

»Die Damen sind verwirrt. Wenn man schon einmal sechszehn uradelige Vorfahren vorweisen kann, will man sich ja eigentlich nicht mit der Tochter einer bürgerlichen Schauspielerin abgeben. Mit Dünkel hat das gar nichts zu tun.«

Karen Duve: Sisi

Früher hätte man von einem Sittengemälde gesprochen, und die Sitten am Hofe, empfindet die Kaiserin wie einen Sarkophag, in dem sie sich fühlt, als wäre sie lebendig begraben. Ihre Ausbrüche werden im sittlichen-moralischen Rahmen der Zeit zu Skandalen aufgebauscht, es wird getratscht, geflüstert und gelästert, dass sich die Balken biegen – an dieser unseligen Neigung hat sich in der Moderne nichts geändert.

Das Titelbild ist übrigens großartig. Auf den ersten flüchtigen Blick zeigt es zwei steigende Pferde, eine ungeheuer dynamische und kraftvolle Bewegung, voller Leben, Wildheit und Freiheitsdrang. Doch sind es keine gewöhnlichen Pferde, sondern dressierte, die – man erkennt auf den zweiten Blick den Herrn mit der Peitsche im Hintergrund – nur auf Befehl agieren, gegen ihren Willen.

Karen Duve: Sisi
416 Seiten
Galiani-Berlin 2022
Hardcover
ISBN: 978-3-86971-210-9

Alida Bremer: Träume und Kulissen

Was wir ein idyllischer Ferienort an der Adria wirkt, bildet die Kulisse zerbrechender Träume, politischer Intrigen und einem Mord. Split in den 1930er Jahren. Cover Jung und Jung, Bild mit Canva erstellt.

Vor Jahren, beim Fußball der Kinder, erzählte ein aus Rumänien Zugezogener, wie schockiert er gewesen sei, als er die ersten Tage in Düsseldorf verbracht habe. Dort habe man in den Straßen ausschließlich Deutsch gehört. In dem Ort, in dem er die ersten Jahre seines Lebens verbrachte, sei alles zu hören gewesen: Rumänisch, Ungarisch, Ukrainisch, Deutsch, Bulgarisch, Slowakisch und so weiter.

Die Worte waren wie das Echo einer vergangenen Welt . In Europa war es vor dem Zweiten und besonders vor dem Ersten Weltkrieg gar nicht so ungewöhnlich, dass mehrere Sprachen das Hörbild der Straßen großer und kleiner Städte, ja auch Dörfer prägten. Wer die Erinnerungen von Soma Morgenstern (In einer anderen Zeit) oder auch Stefan Zweigs (Die Welt von Gestern) gelesen hat, kennt andere Echos dieser Zeit.

Das jugoslawische Königreich wirkte bisweilen wie ein Umschlagplatz, auf dem keine Handelswaren, sondern politische Ideen, nationale Spinnereien, Abenteurer, Agenten und Flüchtlinge verladen wurden.

Alida Bremer: Träume und Kulissen

Split, in dem Alida Bremers Roman »Träume und Kulissen« spielt, ist auch so ein Echo, ein besonderes. Ich gestehe, dass ich erst einmal eine Karte konsultieren musste, um herauszufinden, wo dieser Ort überhaupt liegt. Dalmatien, eine historische Region, die bereits seit zweieinhalbtausend Jahren immer wieder im Fokus politischer Umwälzungen gelegen hat. Hier hat Bremer die Handlung ihres Romans angesiedelt.

Dessen erster Satz ist eine Irreführung, zugleich der eiserne Faden der Handlung, der genug kriminalistische Motive aufgreift und ausführt, dass man ihn auch als Krimi lesen könnte. Allerdings gehört “Träume und Kulissen” zu jenen kriminalistisch angehauchten Geschichten, die ganz etwas anderes erzählen möchten. Split ist 1936 ein Tummelplatz unterschiedlicher Kräfte aus vielen Nationen und politischer Ideologien, mit widersprüchlichen Zielen, die Konflikte entfachen.

Irgendwann um die Mitte des Buches findet sich eine sehr stimmungsvolle Szene, die auf den ersten Blick idyllisch wirkt. Wer je eine Reise in die mediterrane Welt unternommen hat, kann das Geschilderte nachempfinden. Die Atmosphäre täuscht.

Zu dieser Stunde kehrten die Bauern von den Feldern zurück, ihre Frauen tischten Makkaroni oder Polenta mit heißem brudet auf, man schnitt dicke Scheiben von den Brotlaiben und füllte Wein in Glaskaraffen, während die Kinder noch durch die Gassen liefen, die Fischer sich vor ihren Barken versammelten, um den Himmel zu begutachten und sich über den Fischfang der bevorstehenden Nacht auszutauschen. Die Fensterläden, die tagsüber vor der Sonne schützten, wurden aufgerissen. Mit der Dunkelheit stieg vom Meer ein zarter Luftstrom auf.

Alida Bremer: Träume und Kulissen

Im gleichen Kapitel wird ein Gespräch geführt, das die antimoderne Strömung Mitte der 1930er Jahre schmerzhaft offenlegt: Rassismus, antimodernes Frauenbild, gerade der italienischen Faschisten, ideologisch Hand in Hand mit der katholischen Kirche, Kriegsträumerei, Imperialismus, um nur einige zu nennen.

Dieses Neben- und Gegeneinander vor politischen Ansichten, die so gar nichts mit dem »zarten Luftstrom« gemeinsam haben, sondern menschenverachtend und in einem atemberaubenden Maße rückwärtsgewandt sind, und Idylle gehört zu den großen Vorzügen des Romans.

Die Abgründe werden beim Namen genannt, wenn ausgerechnet jener Mann, der sich mit den neuen Ideologien nicht anfreunden will und auch die herabwürdigende Verachtung gegenüber den Frauen ablehnt, die Opfer des Abessinienkrieges als minderwertige Untermenschen ansieht. Sie verstünden ohnehin niemals Dante Alighieri – was also wollte Italien mit den »Negern«?

Spätestens an dieser Stelle verweht auch der letzte Hauch Idyll. Der Leser weiß, was die handelnden Figuren nicht wissen, einige von ihnen argwöhnen oder unken: Blutige Jahre, mit brutalsten Gewalttaten, hunderttausenden Toten liegen vor dem zerrissenen Land namens Jugoslawien. Und wie bei einem nur mühsam abgedichteten, nicht erloschenen Vulkan sollten fünfzig Jahre später die Gewalttaten noch einmal aufflammen.

»Es würde mich nicht wundern, wenn wieder ein Krieg ausbrechen würde. Und ich könnte mir vorstellen, dass der neue Krieg noch schlimmer sein wird als der letzte.«

Alida Bremer: Träume und Kulissen

Das Split dieser Erzählung ist nicht umsonst »Kulisse« mehrerer Filme, die von einem deutschen Filmteam gedreht werden sollen. Die Schatten von Hitlers Deutschland und Stalins UdSSR liegen auch auf diesem Landstrich, aus der Ferne treibt die ideologische Frontstellung die innere Spaltung voran, denn es gibt Anhänger des Ante Pavelić, des späteren faschistischen Führers Kroatiens, und solche des Josip Broz Tito, einem Revolutionär mit kommunistischen Neigungen. Das kommende Drama in zwei historischen Figuren konzentriert.

Doch die Deutschen kommen keineswegs nur als obskure Mitglieder von Filmteams, denen Spionage und subversive Tätigkeiten unterstellt werden. Es gibt auch jene, die fliehen; jene, die Schlepper brauchen, um eine Passage in die USA zu ergattern.

Hier schlägt der Roman eine Brücke in die Gegenwart, in der Flüchtlinge in vielen Teilen der Welt, gar nicht so weit weg vom ruhigen Zentraleuropa um eine Zukunft und ihr Überleben kämpfen. Wie wahrscheinlich zu jeder Zeit reagieren auch die Menschen im Roman zwiegespalten und widersprüchlich auf die »Reisenden«, wie das Zitat schön zeigt.

Es gibt Menschen, die davon träumten auszuwandern, und zugleich argwöhnisch die Reisenden beäugten, die in letzter Zeit durch die Gassen der Stadt schlichen.

Alida Bremer: Träume und Kulissen

Im Laufe der Handlung werden auch Antworten auf die kriminalistischen Fragen gefunden, die den Leser durch die überhitzten Tage begleiten. Eine Vielzahl von Personen ist mehr oder weniger in den Fall verwickelt, einige werden von den mit verschiedenen politischen Zielen verfolgenden Behörden hineingezogen. Im Laufe der Romanhandlung nehmen Lärm, Willkür und Gewalt in kleinem Rahmen das voraus, was noch folgen wird.

Insgesamt bleibt »Träume und Kulissen« seltsam unscharf, als läge die geschilderte Hitze auch über den Worten. Der Leser wird nicht an die Hand genommen und im Sinne des um sich greifenden betreuten Lesens durch das Buch geleitet, Perspektiv- und Ortswechsel, Sprünge, Handlungen ohne explizite Erläuterung oder Motivation machen das Lesen spannend; man kann das Buch auch als Krimi zum Schmökern lesen, sich des Essens und der Wärme erfreuen und warten, bis der Mörder enthüllt wird. Doch das Ende holt jeden Leser irgendwann ein.

Eine sehr schöne, anders akzentuierte Buchbesprechung zu Träume und Kulissen finden Sie auf dem Blog Horatio-Buecher.

Alida Bremer: Träume und Kulissen
Jung und Jung 2021
gebunden 306 Seiten
ISBN: 978-3-99027-258-9

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