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Marie-Janine Calic: Balkan-Odyssee 1933-1941

Jugoslawien war wohl der letzte Fluchtweg, der nach Kriegsausbruch und dem atemberaubenden Vormarsch der Wehrmacht für Verfolgte des NS-Regimes noch offenblieb. Im Gegensatz zu Frankreich oder anderen westlichen Staaten ist die Balkan-Route hierzulande in Vergessenheit geraten. Das ändert sich hoffentlich durch dieses lesenwerte Buch. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Bei Hitlers Machtübernahme lag der Balkan für viele Menschen „irgendwo das unten“.

Marie-Janine Calic: Balkan-Odyssee 1933-1941

Viele der Geschichten endeten mit dem Tod. Manche legten selbst Hand an sich, entflohen Not und Verzweiflung durch den Freitod, andere gerieten irgendwann in die Fänge der Nationalsozialisten oder ihrer Helfer und starben in den Vernichtungslagern. In diesen Fällen stand am Ende der Balkan-Odyssee das, wovor die Menschen nach 1933 flohen; die Vergeblichkeit ihrer Mühsal ist niederschmetternd.

Es spricht für das Buch von Marie-Janine Calic, sich nicht nur auf die gelungenen Fluchten zu fokussieren, so dramatisch diese auch verlaufen sein mögen. Scheitern gehört zur Flucht, die Autorin erspart den Lesern die schwarzen Stunden inmitten der allgemeinen Dunkelheit nicht. Sie bleibt auch dabei ihrem angenehmen Erzählduktus treu, verzichtet auf eine emotional überladene Sprache.

Ohnehin gehört der Stil zu den Stärken von Balkan-Odyssee. Den Lebenslinien folgt das Buch in einem Erzählton, der die nötige sachliche Distanz wahrt und vor allem die Zeitgenossen selbst zu Wort kommen lässt. Die Flüchtlinge der 1930er Jahre brachten ihre Lage und zwiespältigen Befindlichkeiten treffend zu Papier, oft bitter, ironisch, sarkastisch, bisweilen auch schonungslos niedergeschlagen. 

Und so verging andererseits auch keinen Tag, an dem die Exilanten in ihrer „eigenartigen Ferienstimmung“ nicht auch über die bedrohliche Zukunft debattierten.

Marie-Janine Calic: Balkan-Odyssee 1933-1941

Dem „Balkan“ begegnet man hierzulande oft noch immer mit der herablassenden Verachtung und Gleichgültigkeit, die Bismarck in seinem berühmten Diktum verewigte, die Region sei nicht die Knochen eines einzigen preußischen Landsturmmannes wert. Der Hochmut steht im Kontrast zu dem Verhalten der Einheimischen gegenüber den Flüchtlingen, die in vielfacher Hinsicht versuchten, Hilfe zu leisten.

Selbstverständlich war der Balkan kein Bullerbü für die Fliehenden aus dem sich immer weiter ausdehnenden Hitler-Reich. Nur wenigen bot sich tatsächlich eine – oft nur zeitlich befristete – Lebensperspektive. Alle sahen sich mit jenen Problemen konfrontiert, mit denen Flüchtlinge auch in Frankreich, den Niederlanden und anderswo zu kämpfen hatten. Der nahende Krieg machte eine weitere Flucht nötig, die Möglichkeiten waren aber begrenzt und die Bereitschaft, Fliehende aufzunehmen, sank im Laufe der Zeit.

Auf offiziellem Wege mussten bürokratische Hürden genommen werden, allein die begrenzten Aufnahmezahlen und die monetären Voraussetzungen machten eine Flucht nach England oder in die USA für viele unmöglich. Manchmal half der Zufall weiter, in Gestalt eines mitleidigen Beamten, manchmal blieb nur noch der illegale Weg, etwa an Bord eines Frachtschiffes. Vieles wirkt vertraut, die Debatten über Flüchtlinge in der Gegenwart klingen oft wie Echos der Vergangenheit.

Bei Seezunge „Müllerin Art“, Poularden-Supreme, Schinken-Mousse und erlesenen Weinen würden sie beraten, wie man die humanitäre Not der Juden lindern könne.

Marie-Janine Calic: Balkan-Odyssee 1933-1941

Die Konferenz von Évian im Juli 1938 gehört zu den Ereignissen, die geradezu grotesk gegenwärtig wirken. In mondäner Umgebung führten die Vertreter potenzieller Aufnahmestaaten für jüdische Verfolgte aus dem so genannten „Dritten Reich“ einen diplomatischen Eiertanz auf, um zu verschleiern, dass die Flüchtlinge in der Mehrzahl unerwünscht und lästig waren. Offene Worte wie die des kanadischen Ministers für Einwanderung, waren selten. Die „Judenfrage“ solle der NS-Staat selbst beantworten; drei Jahre vor dem „Holocaust mit Kugeln“ und vier Jahre, bevor die Vernichtungslager auf Hochtouren liefen.

Vor diesem Hintergrund wirken jene Taten, die im rechtlich-bürokratischen Sinne eine Grenzüberschreitung darstellten, die Regeln missachteten oder gar brachen, als kleine, bescheidene Heldentaten. Retter in diesem Sinne waren und sind immer Rechtsbrecher. Am großen Verhängnis änderten sie nichts, aber das galt auch für die „großen“ Handlungen der Staatsvertreter, sei es in Évian, sei es in München im Herbst 1938, als durch Appeasement die Tür für Hitlers Vernichtungskrieg weit aufgestoßen wurde.

Ein Fluchtziel war Israel. Bis 1918 gehörte Palästina zum Osmanischen Reich, danach wurde es als Mandat von den Engländern verwaltet. Dort lebten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges Araber und Juden, die zionistische Bewegung bemühte sich um jüdische Einwanderer. Die antijüdische Politik der Nationalsozialisten sorgte für eine erhebliche Zunahme der Einreisewilligen. Auch für Palästina gibt es ein Nebeneinander von legalen, zahlenmäßig begrenzten und illegalen Zuwanderer, die unter einem Vorwand einreisten und untertauchten.

Es war eine der letzten Möglichkeiten für die vom nationalsozialistischen Terror bedrohten und verfolgten Juden, dem „Dritten Reich“ zu entgehen. Allein bis 1936 sollen rund zehntausend von ihnen dort illegal Schutz gefunden haben. Es ist beklemmend zu sehen, wie gleichzeitig immer mehr Länder die Pforten für (jüdische) Verfolgte schlossen und der Terror zunahm. Waghalsige, lebensgefährliche, aber auch kreative Wege wurden genommen, um der Todesfalle noch zu entkommen.

Die zionistischen Organisationen standen unter gewaltigem Zeitdruck. Einerseits wollten sie selbst möglichst viele junge Leute retten, andererseits trieb Adolf Eichmann sie mit wachsender Ungeduld an.

Marie-Janine Calic: Balkan-Odyssee 1933-1941

Selbst nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges setzte sich die Fluchtbewegung fort. Calic schildert, wie sich die prekäre Lage der Juden im Reich und den von der Wehrmacht eroberten Gebieten rasant verschlechterte. Während Juden immer brutaler drangsaliert und getötet wurden, gab es inoffizielle Bemühungen auf deutscher Seite, die Auswanderung zu beschleunigen.

Rückblickend wirkt es bizarr, dass ausgerechnet Adolf Eichmann in Wien mit illegal operierenden zionistische Organisationen kooperierte, um mit deren Hilfe die Zahl der Juden im Reich zu verringern. Wenn man bedenkt, dass gleichzeitig immer höhere bürokratische Hürden aufgebaut wurden, um die Auswanderung der als jüdisch angesehenen Bevölkerung zu behindern, erscheint die Situation geradezu kafkaesk.

Für die Betroffenen bedeutete das eine zusätzliche Belastung. Wochen, Monate vergingen mit oft vergeblichen Versuchen, eine Ausreise in die Wege zu leiten. Wer das Glück hatte, tatsächlich auf einer der letzten Fluchtrouten zu gelangen, kam oft genug vom Regen in die Traufe. Auf überfüllten Donau-Schiffen drängten sich die Flüchtlinge monatelang unter erbärmlichen Bedingungen, um nach Palästina zu gelangen, was die Briten durch diplomatische Aktionen zu verhindern suchten.

Fliehende als Spielsteine im geopolitischen Spiel – auch das ist keine Erscheinung des 21. Jahrhunderts. Man sollte bei der Bewertung der Ereignisse nicht übersehen, dass in Palästina zu diesem Zeitpunkt bereits arabische und jüdische Milizen miteinander kämpften. Ein neuer, bis in die Gegenwart reichender Konflikt hob an, die britischen Mandatstruppen wurden immer stärker zum Ziel von Gewalt. Das politische Dilemma ist mit den Händen zu greifen, eine zufriedenstellende Lösung schwer vorstellbar, denn Großbritannien befand sich zu diesem Zeitpunkt eben auch in einem Krieg auf Leben und Tod mit dem Hitlerreich.

Ich bedanke mich beim C.H.Beck-Verlag für das Rezensionsexemplar.

Marie-Janine Calic: Balkan-Odyssee 1933-1941
Auf der Flucht vor Hitler durch Südosteuropa
C.H.Beck 2025
Gebunden 386 Seiten
ISBN: 978-3-40683634-3

Neue Lektüre: Fluchtroute Balkan

Nach der Machtübertragung an Adolf Hitler im Jahr 1933 begann der Exodus aus Deutschland. Viele Künstler, politisch und gewerkschaftlich Engagierte, Wissenschaftler und Personen, die in den Augen der Nazis als Juden galten, verließen das Land. Manche überstürzt, manche zögerlich, manche auch zu spät, um den Häschern zu entkommen. Dank der zielstrebigen Gleichschaltung des Reiches, der brutalen Gewalt und Ausgrenzung sowie der Enttäuschung, Hitler wäre nur ein schnelllebiger Spuk, riss der Strom der Exilanten nicht mehr ab.

Ein hierzulande wenig bekanntes Ziel vieler Fliehender war der Balkan, namentlich Jugoslawien. Manche machten sich zunächst nach Prag (z.B. Stefan Heym) oder Österreich auf, andere gingen direkt nach Jugoslawien. Das Buch Balkan-Odyssee* von Marie-Janine Calic widmet sich ihrem Schicksal und schließt damit eine wichtige Erinnerungslücke, denn diese Fluchtroute fristet ein Schattendasein im historischen Bewusstsein.

Eine Frage ist sicher: warum gerade der Balkan? Viele machten sich nach Westen auf, Frankreich, die Benelux-Staaten, England und die USA, andere nach Osten, in das angebliche Paradies der Werktätigen, das Stalin in eine Hölle auf Erden verwandelte. Wie es ihnen erging, ist nicht nur zuletzt durch Februar 33 und Marseille 1940 von Uwe Wittstock stärker ins Bewusstsein gerückt. Zweifellos spielen Zufälle und Kontakte eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, wohin man fliehen würde.

Die zweite wichtige Frage ist, warum so viele so lange brauchten, um sich zu einer Flucht aus Deutschland zu entscheiden. Was diejenigen anbelangt, die von den Nazis als Juden angesehen und behandelt wurden, so sind die Gründe dafür, im Reich zu bleiben, ebenso vielfältig wie widersprüchlich gewesen. Die Zeitgenossen des herannahenden Unheils hätten es für undenkbar erachtet, was später grausame Wirklichkeit wurde.

Wenn der Satz, Hitlers Verbrechen seien unvorstellbar, einen Sinn hat, dann gilt er zuallererst für seine Zeitgenossen.

Uwe Wittstock: Februar 33

Darüber habe ich vor einigen Jahren zwei sehr aufschlussreiche Bücher gelesen, auf die ich hier gern verweisen möchte. Die große Illusion von John von Dippel beschäftigt sich mit den Gründen von Juden, in Deutschland zu bleiben; Der Mut zum Überleben von Marion Kaplan widmet sich insbesondere den jüdischen Frauen, die – tragischerweise – oft klüger waren als ihre Männer und lieber gegangen wären, sich jedoch unterordneten.

Ich danke dem Verlag C.H.Beck für das Rezensionsexemplar

Tijan Sila: Radio Sarajewo

Die eigenen Erlebnisse während des Bosnien-Krieges schildert der Autor in dieser autofiktionalen Erzählung, die den Leser fesselt und zum Durchatmen zwingt. Cover Hanser Berlin, Bild mit Canva erstellt.

Die „Vergessenen“ nennt Tijan Sila seine eigene Generation, die im Gegensatz zu der ihrer Eltern nicht einmal einen Spitznamen hat. Sein fiktionalisiertes Erinnerungsbuch Radio Sarajewo soll sich dem Vergessen entgegenstemmen und das tut es auch in einer Weise, die an Backpfeifen, Kopfnüsse oder banale Schläge erinnert: Das Geschilderte ist oft ähnlich unangenehm und schwer erträglich.

Der so genannte Bosnien-Krieg ist schon das Ende jenes hehren „Nie wieder!“ gewesen, dem Schlachtruf der deutschen Erinnerungskultur, der sich anlässlich der ersten Herausforderung als selbstgefällige Illusion erwies. Deutschland und Europa haben die Menschen in Bosnien in einer Weise im Stich gelassen, die auch drei Jahrzehnte später fassungslos macht.

Das Massaker von Srebrenica wird zu der nicht verlöschenden Erinnerung an Europas Versagen sein sein, aber auch die brutale und erbarmungslose Belagerung von Sarajewo als Teil eines genozidalen Krieges.

Radio Sarajewo berichtet aus diesem Krieg. An einer Stelle versucht der Ich-Erzähler jenes unübersichtliche Durcheinander dieses Krieges zu erklären – letztlich bleibt es bei jener vereinfachten Dreiteilung muslimische Bosniaken gegen griechisch-orthodoxe Serben gegen römische Kroaten. Dabei fallen viele kleinere Volksgruppen (etwa Slowenen) ebenso unter den Tisch wie der aus serbischer Sicht imperiale Charakter des Krieges.

Für den Alltag in der belagerten Stadt, der aus der Sicht eines Heranwachsenden geschildert wird, ist das zweitrangig. Hunger, Beschuss, mangelhafte Hygiene, die hanebüchenen Verhältnisse in der Ersatzschule prägen das Leben, das aber lange vor dem ersten Schuss dank der Prügelwut der Eltern grausam-archaische Züge trägt.

Es gibt eine ganze Reihe von – durchaus unerfreulichen – Erkenntnissen für den Leser, etwa über die Flucht nach Deutschland, die für die Eltern Silas verheerend war, obwohl sie gelang. Und – wieder einmal – die Fortdauer des Krieges über dessen Ende hinweg, die Nachkriegsstille. „Auch wir verließen unseren Krieg mit Fremdkörpern im Schädel.“ Und „der Krieg hat niemals aufgehört“.

Tijan Sila: Radio Sarajewo
Hanser Berlin 2023
Gebunden 176 Seiten
ISBN: 978-3-446-27726-7

Goran Vojnović: 18 Kilometer bis Ljubljana

Was für ein wilder Ritt! Cover Folio-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Die Handlung stürzt sich auf den Leser, fällt ihn an wie ein beißwütiger Hund, schnappt nach ihm, scharfzähnig und rücksichtslos. Fußballfans, die den Namen eines verurteilten, serbischen Kriegsverbrechers skandieren; Kraftausdrücke; schnelle, hastige Sätze, grundaggressiver (Unter-)Ton, eine Art verbale Vorneverteidigung, egal, ob man angegriffen wird oder nicht; Frauen werden »geknallt«, umstritten ist, ob es vorteilhaft sei, täglich dieselbe oder unregelmäßig verschiedene zu »knallen«.

Ein wenig fühlt es sich an, als wäre man unversehens in eine Achterbahn gestoßen worden und brauste nun durch einen haarsträubenden Parcours. Gerüttelt und geschüttelt ist man Zeuge, wie die Hauptfigur ihr Leben verändert, sie kehrt zurück in die alte Heimat, Fužine, ein Vorort von Ljubljana. Bissig schildert der Autor die Annäherung – unerwünschte Heimatgefühle löst ausgerechnet der Schornstein des Heizkraftwerks aus, denn der Protagonist will eigentlich gar nicht zurück.

Willkommen in der Welt des Marko Đorđić.

Goran Vojnović lässt in seinem Roman 18 Kilometer bis Ljubljana die sprichwörtliche Sau raus und überrollt den Leser geradezu. Doch bald wird klar, dass man kein Buch in den Händen hält, das mit einer vorgeschützten Dauerprovokation versucht, fehlenden Inhalt zu kaschieren. Die endlose Abfolge von Kraftausdrücken, Beleidigungen, Vorurteilen, Herabwürdigungen liegt wie ein Nebel über dem, was dem Leser nahegebracht werden soll. Aus meiner Sicht ein Glücksfall, ein anstrengender, vielleicht für manchen Leser unzumutbarer, aber doch: ein Glücksfall.

Marko kehrt in seine Heimat zu seinen Eltern Radovan und Ranka zurück, deren Ehe in die Jahre gekommen ist. Ihr Umgang miteinander hat etwas von wechselseitigem Belagerungszustand, Scharmützel, offene Streits, jeder der Ehepartner hat sich in ein Refugium des Ertragens, Duldens zurückgezogen, er gibt den Ton an, sie macht widerspenstig mit, und doch können beide nicht voneinander lassen, ein Leben ohne den anderen ist undenkbar.

Dieses Zusammenleben ist bedroht durch einen Tumor, ein Geschwür, je nach Lesart. Der Krebs wäre eine tödliche Bedrohung, das Geschwür harmlos. Radovan war bereits beim Arzt, über die Auslegung seiner Worte und ihrer Tragweite entbrennt ein Streit vor dem Sohn, der – so scheint es auf den ersten Blick – wegen der Erkrankung seines Vaters nach Hause zurückgekehrt ist.

›Es ist ein Tumor.‹
Ranka gibt nicht klein bei. Sie geht in die Verlängerung.
›Ein Geschwür!‹
›Ein Tum…‹
›Geschwüüüür!‹
Endlich ist Ranka still. Radovan hat so laut gebrüllt, dass selbst ihr klargeworden ist, dass sein Tumor Geschwür heißt. Ein neues Mitglied unserer glücklichen Familie. Tumor Geschwür.

Goran Vojnović: 18 Kilometer bis Ljubljana

Die Textstelle zeigt, was den Leser außerhalb des proletenhaften Gepöbels in 18 Kilometer bis Ljubljana erwartet. Bissiger Humor, Ironie, Sarkasmus und sehr lebendige Dialoge. An manchen Stellen ist der Roman unglaublich komisch, zum Schreien, manchmals aber auch in dem Sinne, dass es nicht auszuhalten ist. Vojnović überschreitet recht häufig die Grenze zum Grotesken, was nicht mit Komödie zu verwechseln ist: Man soll nicht nur lachen, das Lachen soll auch im Hals stecken bleiben.

Die Lebenswelt von Marko ist grotesk. Das gilt nicht nur für die familiäre Situation von Ranka und Radovan, sondern für das ganze Land. Ljubljana liegt in Slowenien, dem nördlichsten Landstrich eines verblichenen Vielvölkerstaates namens Jugoslawien, der Anfang der 1990er Jahre zerbrach. Die Geburtswehen der neuen Staaten waren blutig, bis in die Gegenwart ist der ehemalige Hegemon Serbien (unter Mithilfe Russlands) Unruheherd und Bosnien eine Notkonstruktion, die nur dank EU und Nato nicht zusammenfällt.

Marko ist in dieses Bosnien für mehrere Jahre verschwunden, ohne jemals Bosnier werden zu können; die gibt es dort eigentlich nicht, sondern Serben, Kroaten und Bosniaken (letztere sind Muslim) sowie siebzehn Minderheiten. Marko ist Slowene, genauer gesagt Tschefure, also ein zugewanderter Slowene aus einem anderen Bereich des ehemaligen Jugoslawien; in Bosnien leben Verwandte von ihm, bei denen er unterkommt.

Alma grinste wie ein Knirps, der einem anderen Knirps die Hose heruntergezogen hat. Sie hatte gewonnen. Aber ich hatte nicht das Gefühl, verloren zu haben.

Goran Vojnović: 18 Kilometer bis Ljubljana

Peu á peu erfährt der Leser, dass Marko auch eine unglückliche Liebe in Bosnien aufgegeben hat. Alma, eine ungewöhnliche junge Frau, die mit dem Frauenbild Markos und seiner Umgebung nicht recht zusammenpasst. Sie ist »abgefahren«. Sie gehört der muslimischen Volksgruppe an, was der heftigen, sexreichen Liebesbeziehung keine große Zukunft beschert. Denn Alma, die Muslimin, »taugt nichts« in den Augen von Markos Verwandtschaft; und er wäre für die Muslime untragbar. 

Vieles wird im Roman weder ausführlich erklärt noch kommentiert, es schimmert oft nur durch den Nebel der sprachlichen Rohheit, denn der Protagonist erweist sich als guter Beobachter, der viele Zusammenhänge durchschaut. Die Vorfahren Markos und Almas verbindet eine gewalttätige Geschichte, die bis in die Gegenwart hineinwirkt; ein wenig Vorwissen macht die Lektüre des komisch-grotesken Spektakels um einiges interessanter, spannender.

Marko lässt sich zu einer Schmuggelfahrt überreden, die dank hochkompetenter Ausführung in einem Desaster zu enden droht – allein, weil einer der beiden Schmuggler den Trip zu einem »Trip« nutzt und der auserwählte Fahrer die Rückfahrt über die Grenze bis über die Ohren zugedröhnt auf dem Beifahrersitz zubringt. Umstellt von Befürchtungen, es könnten (tote?) Afghanen im Schmuggelfahrzeug sein und ihre Tour könnte am Grenzübergang trotz geschmierten Beamten scheitern, kämpft Marko gegen den Zusammenbruch.

Solche Episoden vermitteln einen treffenden Eindruck von der Wirklichkeit, in der Marko lebt. Korruption auf allen Ebenen, die blutige Bürgerkriegsvergangenheit lastet über dem Land, Revanche-Gelüste aus Serbien, dysfunktionale Verwaltung und ein dicker Riss durch ein einstmals nominell vereintes Land, an der Stelle, an der die EU-Außengrenze verläuft. Der schon lange spaltende Hass untereinander ist immer zu spüren, wie ein unheilvolles Grollen am Horizont.

Denn Bosnien ist gar kein Land, sondern nur ein Gebiet, auf dem unglücklicherweise Menschen leben.

Goran Vojnović: 18 Kilometer bis Ljubljana

Das Besondere an diesem Roman ist aber, dass er aus der Sicht einer Hauptfigur erzählt wird, die alles Möglich ist, aber weder literarisch noch woke. Solche Menschen gibt es wirklich, es handelt sich nicht um eine Kunst- oder Comic-Figur. Sie bekommen so selten eine Stimme in der Literatur, dass es für manche Zeitgenossen so scheinen könnte, sie gäbe es sie gar nicht; was bei Brexit, Trump & Co. zu einer bösen Überraschung geführt hat.

18 Kilometer bis Ljubljana ist auch eine Geschichte der Entfremdung. Die Hauptfigur kehrt zurück und fast alles scheint so geblieben, wie Marko es in Erinnerung hatte. Er selbst ist ein anderer, hat sich während seiner Zeit in Bosnien so sehr verändert, dass er Vieles nicht oder schwer erträgt. Alte Kumpels (das Wort Freunde verbietet sich) und ihr asoziales Verhalten etwa, das der Autor genussvoll die sprachlichen Abgründe ausschöpfend vorführt.

Natürlich lässt der Autor den Leser nicht so einfach davonkommen. Krebs. Eine unglückliche Liebe in Bosnien, dann gibt es auch noch Nataša, umwerfend attraktiv hat sie auf Marko mehr als ein Auge geworfen. Man könnte das alles in ein Happy-End münden lassen; oder aber in einen Kreislauf schicken, in dem Marko wieder inmitten von tausenden grölenden Fußball-Prolls auf der Suche nach Zugehörigkeit den Namen eines verurteilten Kriegsverbrechers brüllt.

[Rezensionsexemplar]

Goran Vojnović: 18 Kilometer bis Ljubljana
Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof
Folio-Verlag 2023
Hardcover 319 Seiten
ISBN 978-3-85256-884-3

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Ein großer Roman aus Slowenien, hervorragend erzählt. Cover Zsolnay-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Das große Elend. So nennt es die Mutter des Protagonisten Danijel, wenn in der heimischen Küche Zusammenkünfte des Ehegatten mit anderen ehemaligen »Teilnehmern am Volksbefreiungskampf«, also Partisanen, abgleiten. Es wird gesoffen, gesungen, gestritten, gebrüllt, Alkohol verschüttet und ab und zu landet ein Glas an der Wand, ehe man sich wieder versöhnt.

Manchmal muss Danijel mitten in der Nacht aufstehen und das Gegröle musikalisch untermalen. Seine Mutter verlässt daher mit ihm oft vorsorglich das Haus und schlüpft an solchen Abenden bei Verwandten unter, um dem großen »Elend« zu entgehen. Ist das nicht möglich, sitzen Mutter und Sohn in ihren Zimmern und hoffen, dass es beim gewöhnlichen »Elend« bleibt.

Allein das Wort »Elend« wird zu einem Abgrund, denn Drago Jančar entzieht auf diese schlichte Weise dem Nachkriegsdasein ehemaliger Widerständler alles Heroische. Der Vater von Danijel hat Gestapohaft und Lagerhaft überlebt, doch was bleibt davon? Der Held führt sich in der jugoslawischen Gegenwart in einer Weise auf, die Ekel und Fremdscham heraufbeschwören, er nimmt sich Freiheiten in einer noch immer begrenzt freien Gesellschaft.

Die Hilflosigkeit des Einzelnen, dem Schatten entgegenzutreten, den der Zweite-Weltkrieg auf die Gegenwart der späten 1950er Jahre in Slowenien wirft, sowie die Flucht in phrasenhafte Großsprecherei und Alkohol, ist ein Marsch in die persönliche Selbstzerstörung. Politisch, gesellschaftlich hält sich der Fortschritt in Grenzen, ja, es gibt sogar Parallelen der Gegenwart zur Nazi-Zeit. Der Ledermantel markiert die Grenze der Verbesserungen, eine Geheimpolizei brauchten beide Regimes.

Wenn du einen dieser Typen im langen Ledermantel siehst, weißt du, der ist von der Gestapo, auch wenn er in Zivil ist. Du machst einen großen Bogen um ihn, damit er dich nicht irgendwas fragt. Aber auch heute gehen welche in Ledermänteln herum, das sind die von der Ozna, mit denen hast du besser auch nichts zu tun.

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Das Zitat zeigt schön, wie Jančar Ereignisse, Personen, Zusammenhänge einander gegenüberstellt und weder kommentierend noch belehrend für sich selbst sprechen lässt. Dabei hilft ihm die Perspektive Danijels, der aus einer naiven, manchmal altklugen Sicht erzählt; ein bekanntes, wirkungsmächtiges Vorgehen, in diesem Falle angereichert mit einigen originellen Stilmitteln.

Das »große Elend« eskaliert eines Abends, als ein Teilnehmer der Zusammenkunft die sowjetische Nationalhymne anstimmt. In (»Marschall«) Titos Jugoslawien war man auf Distanz und eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der UdSSR bedacht. Danijels Vater, vom Schlaganfall getroffen und beeinträchtigt, schwankt ins Schlafzimmer und holt eine Pistole (alle Ehemaligen haben noch ihre Waffen). Er feuert sie ab, wie um einen Eindringling zu vertreiben. Die Kugel fährt in die Decke.

Der Schuss bleibt nicht folgenlos, die Miliz kommt und nimmt die Waffe mit. Danijels Vater ist empört, man behandele ihn wie einen Kriminellen. Ob man dafür (gegen die Deutschen als Partisan) gekämpft habe, dass einem die Miliz die Waffen wegnähme? Der Waffenschein sei auch weg, Danijels Vater »sei Invalide, und jetzt obendrein noch ohne Pistole.« Der Kampf gegen die Unfreiheit dient als Begründung dafür, sich Freiheiten herauszunehmen.

Er dreht lange die Tasse in den Händen herum und schaut in den dunklen Schlick des Kaffeesatzes. Wie die Hellseherinnen, die in den Schlieren auf dem Boden das Schicksal eines Menschen sehen. Welches Schicksal wird er ohne Waffe haben? Wie wird er sich vor Feinden und Leuten schützen, die in seine Wohnung kommen, um die sowjetische Hymne abzusingen?

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Das Ganze mündet in einen grotesken Tagtraum, in dem Danijel sich vorstellt, wie sich sein Vater beschwert und der Herr Jugoslawiens, Marschall Tito, alles wieder geraderückt. Höchstpersönlich, wie ein guter König im Märchen. Lustig ist das nicht, sondern bedrückend und deprimierend mitanzusehen, wie erbärmlich Heroen des Widerstands im Nachkriegsalltag eines angeblichen sozialistischen Paradieses vegetieren.

Das andere, jenseitige Paradies des kirchlichen Christentums bildet den Kontrapunkt zu der herrschenden Ideologie, Sie wird von Danijels Vater schärfstens angefeindet und bekämpft, obwohl die eigene Frau eine fleißige Kirchgängerin ist. Ihr Sohn nimmt am Unterricht bei »Vater Aloisius« teil, wo er auf rüde, herrische Weise mit einer anderen, absoluten Wahrheit konfrontiert wird.

Eine Hilfe ist ihm das nicht, im Gegenteil. Die Kirche in Gestalt des dogmatischen Geistlichen und der frömmelnden Mutter zwingt Danijel in gruselige Situationen. In der Schule wird er von einer linientreuen Lehrerin als »Verräter« gegenüber seinem Land und seinem heldenhaften Vater regelrecht vorgeführt, beim Abendmahl, im Beichtstuhl und dem geistlichen Unterricht sind abweichende Gedanken und Fragen lästig, während das Ritual peinlich eingehalten werden muss, sonst drohen hochnotpeinliche Erlebnisse.

Beide Formen der Weltverschlichtung, die absolute Wahrheit für sich in Anspruch nehmen und komplexe Wirklichkeiten auf hohle Formeln reduzieren, werden im Verlauf der Handlung entzaubert; dank der großen, gelassenen Erzählweise in Drago Jančars Als die Welt entstand auf eine unaufdringliche Weise, die dem Leser das Denken überlässt. Widersprüche gibt es genug.

Die Welt entsteht, indem die bestehende zerbricht, ihre Gewissheiten, die Klarheit weichen der Unschärfe; sie fühlen sich wie Lügen an.

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Da wäre Danijels Freund, dessen Vater im Krieg zur Wehrmacht eingezogen wurde und der ein Bein verloren hat, dafür aus Deutschland eine Rente bezieht, was den väterlichen Volksbefreiungskämpfer empört. Oder Professor Fabjan, der Deutsch an einer Schule unterrichtet hat, während Slowenien besetzt und Teil von Hitlers »Großdeutschland« war, aber russische Literatur schätzt, während seine Tätigkeit wie ein Brandmal nachwirkt.

Zwischen den beiden großen Mühlsteinen, dem sozialistischen und christlichen, ist Danijel eingeklemmt, eine Stütze sind sie ihm nicht, als er mit den menschlichen Widersprüchen konfrontiert wird. Als die Welt entstand erzählt, wie die Hauptfigur ihre Kindheit verlässt, das scheinbar sichere Fundament der Wahrheit gegen die Widersprüchlichkeit eintauscht und so die ersten Schritte in Richtung Erwachsenenleben macht.

Dabei geht es von Anfang an keineswegs um nur um Politik oder Gesellschaft. Die Welt entsteht für Danijel auch durch eine Dreiecksgeschichte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Diese Liebesgeschichte endet tragisch, wie man schon den ersten Seiten entnehmen kann, auf den bereits vorausgenommen wird, dass es »heftig« werde und die Ereignisse den Junge regelrecht überrollt hätten. »Es« steht für die »große Geschichte des Lebens«, die Liebe.

Eine schöne Besprechung des Romans mit einem etwas anderen Fokus findet sich bei ZeitundZeichen.

[Rezensionsexemplar]

Drago Jančar: Als die Welt entstand
Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler
Paul Zsolnay Verlag 2023
Gebunden 276 Seiten
ISBN: 978-3-552-07358-6

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