Ein großer Roman aus Slowenien, hervorragend erzählt. Cover Zsolnay-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Das große Elend. So nennt es die Mutter des Protagonisten Danijel, wenn in der heimischen Küche Zusammenkünfte des Ehegatten mit anderen ehemaligen »Teilnehmern am Volksbefreiungskampf«, also Partisanen, abgleiten. Es wird gesoffen, gesungen, gestritten, gebrüllt, Alkohol verschüttet und ab und zu landet ein Glas an der Wand, ehe man sich wieder versöhnt.

Manchmal muss Danijel mitten in der Nacht aufstehen und das Gegröle musikalisch untermalen. Seine Mutter verlässt daher mit ihm oft vorsorglich das Haus und schlüpft an solchen Abenden bei Verwandten unter, um dem großen »Elend« zu entgehen. Ist das nicht möglich, sitzen Mutter und Sohn in ihren Zimmern und hoffen, dass es beim gewöhnlichen »Elend« bleibt.

Allein das Wort »Elend« wird zu einem Abgrund, denn Drago Jančar entzieht auf diese schlichte Weise dem Nachkriegsdasein ehemaliger Widerständler alles Heroische. Der Vater von Danijel hat Gestapohaft und Lagerhaft überlebt, doch was bleibt davon? Der Held führt sich in der jugoslawischen Gegenwart in einer Weise auf, die Ekel und Fremdscham heraufbeschwören, er nimmt sich Freiheiten in einer noch immer begrenzt freien Gesellschaft.

Die Hilflosigkeit des Einzelnen, dem Schatten entgegenzutreten, den der Zweite-Weltkrieg auf die Gegenwart der späten 1950er Jahre in Slowenien wirft, sowie die Flucht in phrasenhafte Großsprecherei und Alkohol, ist ein Marsch in die persönliche Selbstzerstörung. Politisch, gesellschaftlich hält sich der Fortschritt in Grenzen, ja, es gibt sogar Parallelen der Gegenwart zur Nazi-Zeit. Der Ledermantel markiert die Grenze der Verbesserungen, eine Geheimpolizei brauchten beide Regimes.

Wenn du einen dieser Typen im langen Ledermantel siehst, weißt du, der ist von der Gestapo, auch wenn er in Zivil ist. Du machst einen großen Bogen um ihn, damit er dich nicht irgendwas fragt. Aber auch heute gehen welche in Ledermänteln herum, das sind die von der Ozna, mit denen hast du besser auch nichts zu tun.

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Das Zitat zeigt schön, wie Jančar Ereignisse, Personen, Zusammenhänge einander gegenüberstellt und weder kommentierend noch belehrend für sich selbst sprechen lässt. Dabei hilft ihm die Perspektive Danijels, der aus einer naiven, manchmal altklugen Sicht erzählt; ein bekanntes, wirkungsmächtiges Vorgehen, in diesem Falle angereichert mit einigen originellen Stilmitteln.

Das »große Elend« eskaliert eines Abends, als ein Teilnehmer der Zusammenkunft die sowjetische Nationalhymne anstimmt. In (»Marschall«) Titos Jugoslawien war man auf Distanz und eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der UdSSR bedacht. Danijels Vater, vom Schlaganfall getroffen und beeinträchtigt, schwankt ins Schlafzimmer und holt eine Pistole (alle Ehemaligen haben noch ihre Waffen). Er feuert sie ab, wie um einen Eindringling zu vertreiben. Die Kugel fährt in die Decke.

Der Schuss bleibt nicht folgenlos, die Miliz kommt und nimmt die Waffe mit. Danijels Vater ist empört, man behandele ihn wie einen Kriminellen. Ob man dafür (gegen die Deutschen als Partisan) gekämpft habe, dass einem die Miliz die Waffen wegnähme? Der Waffenschein sei auch weg, Danijels Vater »sei Invalide, und jetzt obendrein noch ohne Pistole.« Der Kampf gegen die Unfreiheit dient als Begründung dafür, sich Freiheiten herauszunehmen.

Er dreht lange die Tasse in den Händen herum und schaut in den dunklen Schlick des Kaffeesatzes. Wie die Hellseherinnen, die in den Schlieren auf dem Boden das Schicksal eines Menschen sehen. Welches Schicksal wird er ohne Waffe haben? Wie wird er sich vor Feinden und Leuten schützen, die in seine Wohnung kommen, um die sowjetische Hymne abzusingen?

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Das Ganze mündet in einen grotesken Tagtraum, in dem Danijel sich vorstellt, wie sich sein Vater beschwert und der Herr Jugoslawiens, Marschall Tito, alles wieder geraderückt. Höchstpersönlich, wie ein guter König im Märchen. Lustig ist das nicht, sondern bedrückend und deprimierend mitanzusehen, wie erbärmlich Heroen des Widerstands im Nachkriegsalltag eines angeblichen sozialistischen Paradieses vegetieren.

Das andere, jenseitige Paradies des kirchlichen Christentums bildet den Kontrapunkt zu der herrschenden Ideologie, Sie wird von Danijels Vater schärfstens angefeindet und bekämpft, obwohl die eigene Frau eine fleißige Kirchgängerin ist. Ihr Sohn nimmt am Unterricht bei »Vater Aloisius« teil, wo er auf rüde, herrische Weise mit einer anderen, absoluten Wahrheit konfrontiert wird.

Eine Hilfe ist ihm das nicht, im Gegenteil. Die Kirche in Gestalt des dogmatischen Geistlichen und der frömmelnden Mutter zwingt Danijel in gruselige Situationen. In der Schule wird er von einer linientreuen Lehrerin als »Verräter« gegenüber seinem Land und seinem heldenhaften Vater regelrecht vorgeführt, beim Abendmahl, im Beichtstuhl und dem geistlichen Unterricht sind abweichende Gedanken und Fragen lästig, während das Ritual peinlich eingehalten werden muss, sonst drohen hochnotpeinliche Erlebnisse.

Beide Formen der Weltverschlichtung, die absolute Wahrheit für sich in Anspruch nehmen und komplexe Wirklichkeiten auf hohle Formeln reduzieren, werden im Verlauf der Handlung entzaubert; dank der großen, gelassenen Erzählweise in Drago Jančars Als die Welt entstand auf eine unaufdringliche Weise, die dem Leser das Denken überlässt. Widersprüche gibt es genug.

Die Welt entsteht, indem die bestehende zerbricht, ihre Gewissheiten, die Klarheit weichen der Unschärfe; sie fühlen sich wie Lügen an.

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Da wäre Danijels Freund, dessen Vater im Krieg zur Wehrmacht eingezogen wurde und der ein Bein verloren hat, dafür aus Deutschland eine Rente bezieht, was den väterlichen Volksbefreiungskämpfer empört. Oder Professor Fabjan, der Deutsch an einer Schule unterrichtet hat, während Slowenien besetzt und Teil von Hitlers »Großdeutschland« war, aber russische Literatur schätzt, während seine Tätigkeit wie ein Brandmal nachwirkt.

Zwischen den beiden großen Mühlsteinen, dem sozialistischen und christlichen, ist Danijel eingeklemmt, eine Stütze sind sie ihm nicht, als er mit den menschlichen Widersprüchen konfrontiert wird. Als die Welt entstand erzählt, wie die Hauptfigur ihre Kindheit verlässt, das scheinbar sichere Fundament der Wahrheit gegen die Widersprüchlichkeit eintauscht und so die ersten Schritte in Richtung Erwachsenenleben macht.

Dabei geht es von Anfang an keineswegs um nur um Politik oder Gesellschaft. Die Welt entsteht für Danijel auch durch eine Dreiecksgeschichte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Diese Liebesgeschichte endet tragisch, wie man schon den ersten Seiten entnehmen kann, auf den bereits vorausgenommen wird, dass es »heftig« werde und die Ereignisse den Junge regelrecht überrollt hätten. »Es« steht für die »große Geschichte des Lebens«, die Liebe.

Eine schöne Besprechung des Romans mit einem etwas anderen Fokus findet sich bei ZeitundZeichen.

[Rezensionsexemplar]

Drago Jančar: Als die Welt entstand
Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler
Paul Zsolnay Verlag 2023
Gebunden 276 Seiten
ISBN: 978-3-552-07358-6