Die schmalen Büchlein aus der Reihe C.H.Beck Wissen sind weder sonderlich schön anzuschauen noch imposant im Umfang. Und doch verbergen sich hinter den schnöden Buchdeckeln oft kleine Schätze. Zuletzt habe ich Die Franken von Bernhard Jussen mit großem Gewinn gelesen, nun mit der Lektüre von Hannah Arendt von Thomas Meyer begonnen. Von der »Denkerin des 20. Jahrhunderts« kenne ich bislang noch nichts, ihr Leben und Bruchstücke ihres Denkens sind mir in der schönen Graphic-Novel Die drei Leben der Hannah Arendt von Ken Krimstein vertraut. Das wird keine einfache Lektüre, aber – soviel kann ich jetzt schon sagen – eine bereichernde.
Von Steffen Kopetzky ist jüngst ein neuer Roman (Atom) erschienen, den ich auch irgendwann einmal lesen werde. Jetzt aber kümmere ich mich aber erst einmal um Grand Tour, das schon seit gut zwei Jahren in meinem Regal steht. Dank des Buches Uhrwerke von Rebecca Struthers weiß ich, was mit »Complication« gemeint ist – es geht unter anderem um eine ganz besondere Uhr. Schon auf den ersten Seiten wird klar, dass sich Kopetzky der Fabulierlust hingibt. Grand Tour unterscheidet sich im Erzähl-Stil von den späteren Romanen, von denen mir Propaganda und Damenopfer ganz ausgezeichnet gefallen haben.
Eisenbahnreisen sind auch Gegenstand zweier anderer großartiger Romane: Winterbergs letzte Reise von Jaroslaw Rudis und Der Reisende von Alexander Boschwitz.
Das Zitat ist Programm: Die Todessehnsucht war (neben Drogensucht) jahrelanger Begleiter des ruhelosen Schriftstellers Klaus Mann. Sein natürliches Habitat war die Großstadt, er lebte ohne festen Wohnsitz in Hotels, Pensionen und bei Freunden. Cover Rowohlt Berlin, Bild mit Canva erstellt.
Zwei überväterliche Großschriftsteller an einem Tag, das war wohl zu viel für den ewigen Sohn.
Thomas Medicus: Klaus Mann
Todessehnsucht und Drogenmissbrauch gehörten zu den Wegbegleitern von Klaus Mann. Die Biographie von Thomas Medicus beginnt folgerichtig mit dem Ende, dem Suizid am 21. Mai 1949. Es war nicht der erste Anlauf, dem Leben mit einem Freitod ein Ende zu setzen, gar nicht zu reden von den zahllosen Gedanken an den Tod, der ewigen Sehnsucht nach dem Tod.
In seinen 42 Lebensjahren zwischen 1906 und 1949 erlebte Klaus Mann die dramatischen Brüche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1914, 1918 und insbesondere 1923 prägten ihn, der damit zur so genannten Kriegsjugendgeneration zählt. Die ihnen attestierten Attribute, Härte, Kühle, Verschlossenheit, Durchsetzungsfähigkeit waren Klaus Mann aber völlig fremd.
Gerade in den zwanziger Jahren lebte der Sohn des berühmten Thomas Mann und Neffe von Heinrich Mann auf schnellem, großem Fuß, sein natürlicher Lebensraum war die Großstadt, Theater, Amüsement, Clubs, Partys, Ausschweifungen, Sex, Alkohol, später immer mehr Drogen. Auftritte vor Publikum, auf der Bühne als Schauspieler oder Autor, der Hang zur Selbstinszenierung. Ein Dandy in perfekt sitzenden Anzügen, der sich bald als Dauerbewohner von Pensionen und Hotels durchs Leben schlug, immer in Geldnöten, oft alimentiert von seiner Mutter.
Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war eine Epoche auf Messers Schneide. Es gibt Menschen, die ein Zeitalter deshalb verkörpern, weil sie dessen Höhen und Tiefen, Irrrungen und Wirrungen, vor allem Gefährdungen bis in die letzte Faser durchleben wie durchleiden. Klaus Mann ist so eine Symbolfigur.
Thomas Medicus: Klaus Mann
Klaus Mann war hochsensibel, sehr verletzlich, fiel als Homosexueller aus dem gesellschaftlich als Norm akzeptierten Rahmen, insbesondere, weil er – anders als sein Vater – aus seinen homoerotischen Neigungen keinen Hehl machte. Zudem stand er als ewiger Sohn unter immensem Druck, ein Wettlauf als Schriftsteller mit dem übermächtigen Vater, den er nicht gewinnen konnte.
Dabei schrieb Klaus Mann mit großer Leichtigkeit und immenser Geschwindigkeit seine Werke. Biograph Medicus verweist darauf, dass die Detailarbeit, das prüfende Feilen und Durchforsten der Bücher, nicht zu den Stärken des Autors gehörten. Ihnen haftet oft etwas Flüchtiges an. Stoffe wie Alexander oder Sinfonie Pathetique sind weder bis ins Detail durchrecherchiert noch loten sie musikalische Tiefen aus. Sie haben eine stark autobiographische Note.
Neben den Romanen und autobiographischen Texten schrieb Klaus Mann Bühnenstücke, Kurzprosa, Lyrik, aber auch Beiträge für Zeitungen, Journale, Anthologien, gemeinsam mit seiner Schwester Erika auch Reise- und Kriegsberichte. Er versuchte sich auch als Herausgeber. Obendrein gibt es unveröffentlichte Texte, etwa eine Biographie zu Horst Wessel – ein erstaunliches Projekt von Klaus Mann.
Seine anwachsende Liebe zu Frankreich bildete den Kern seiner Entwicklung zum kosmopolitischen Intellektuellen. Dass Klaus Mann 1933 nicht eine Sekunde zögerte, dem nationalsozialistischen Deutschland den Rücken zu kehren, hatte auch damit zu tun.
Thomas Medicus: Klaus Mann
Der schwerwiegendste Bruch folgte 1933 mit dem Machtantritt Adolf Hitlers. Aus dem freiwilligen Vagabunden wurde ein Exilant. Es war ein dramatischer Unterschied, auch wenn sich äußerlich das Umherziehen kaum änderte und Klaus Mann in Frankreich einen Ort hatte, an dem er sich – soweit möglich – wohlfühlte. Doch die Entwurzelung traf ihn schwer, er konnte nicht nach Deutschland zurück, das Gefühl des Ausgestoßenseins traf ihn wie alle anderen Exilanten.
Zu den Gefährdungen und Wirrungen der 1930er Jahre gehört das Drama, dass mit der stalinistischen Sowjetunion eine zweite, auf einer Vernichtungsideologie basierende Diktatur in Europa ihr blutiges Haupt erhob. Die Todfeindschaft zum Nationalsozialismus war das einzige Pfund, mit dem Stalins Reich wuchern konnte – bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1939, der unter den ohnehin zerstrittenen Emigranten die bestehenden Gräben zu offner Feindschaft und Hass vertiefte.
Klaus Mann war kein Kommunist, eher ein idealistischer Schwärmer. Als Homosexueller gehörte er zu einer von den Linken wie den Rechten angefeindeten Gruppe; Bertholt Brecht hat sich in dieser Hinsicht mit bemerkenswert schäbigen Äußerungen hervorgetan.
Eine Reise in die Sowjetunion brachte Ernüchterung, die Klaus Mann im Tagebuch klar äußerte; öffentlich blieb er indifferent, obwohl Andre Gide, sein großer Leuchtstern unter den Denkern, mit bemerkenswerter Klarheit die Abgründe von Stalins Reich beschrieb. Familie ging vor Politik. Wegen Heinrich Manns (zutiefst naiver, von Stalins Schergen ausgenutzter) kritikloser Haltung gegenüber der stalinistischen Sowjetunion unterließ Klaus Mann ein klares Statement.
Was erste Jahrzehnte später zu den Grundelementen der Kritik am real existierenden Sozialismus gehörte, formulierte Gide bereits 1936/37 mit großer Klarheit.
Thomas Medicus: Klaus Mann
Einige Jahre später ergab sich für Klaus Mann daraus eine erhebliche Gefährdung. Als die USA nach langer Neutralität durch die Kriegserklärung Deutschlands und Italiens endlich gegen Hitlerdeutschland militärisch vorgingen, wollte er seinen Beitrag leisten. Aus körperlichen und vor allem politischen Gründen wurde er zweimal ausgemustert, vom FBI mehrfach durchleuchtet, verhört und nachtragenden Antikommunisten denunziert.
Klaus Mann befand sich in einer dramatischen Krise, hinter ihm lag ein demütigendes Scheitern mit seiner Zeitschrift Decision, hinzu kamen persönliche Rückschläge, Erkrankunge, die übermächtige Drogensucht und die immer stärker werdenden Todessehnsucht. Seine Schwester Erika ging zunehmend eigene Wege, die gefühlte Isolation wurde stärker, der Hemmschuh zum Suizid fiel weg. Die Teilnahme am Kampf gegen Deutschland sollte für einige Zeit zum Rettungsanker werden.
Klaus Mann erhielt in Uniform Aufschub. Er wurde amerikanischer Staatsbürger und Teil der US-Streitkräfte. Seine Kriegszeit verbrachte er in Nordafrika und Italien, direkt nach der Kapitulation der Wehrmacht fuhr er nach München, in die zertrümmerte Heimat, zu dem ebenfalls halb zerstörten Wohnhaus der Eltern. Es gebe keine Rückkehr, konstatierte Klaus Mann – man kann sich ausmalen, was diese Erkenntnis beim Strauchelnden auslöste.
Vier der vielen Bücher aus meinem Regal, die ich bereits kenne, aber unbedingt noch einmal lesen und hier auf dem Blog vorstellen will.
Auch in meinem Regal stehen viele Bücher, die ich gern noch einmal lesen und auf meinem Blog vorstellen möchte. 2024 habe ich das genau einmal gemacht, mehr zufällig, weil ich auf die Umsetzung des genialen Romans Die Straße als Graphic Novel Die Strasse gestoßen bin.
Die Konkurrenz ist groß, Rezensionsexemplare, Geschenke, Spontankäufe (trotz Buchkaufdiät), Buchleihen (Stadtbiliotheken sind ein gefährlicher Ort!) und die vielen Bücher, die bereits gekauft wurden und endlich gelesen werden wollen, rangeln um das knappste aller Güter im menschlichen Leben: Zeit.
So also eine kleine extrinsische Motivation: 4rereadsfür2025. Für jedes Quartal eins, das dürfte zu schaffen sein. Und die Vorfreude ist riesig, denn die vier Bücher sind groß. Historisch-politisch, versteht sich.
Walter Kempowski: Alles umsonst »Zoffort!« zu lesen, denn es spielt im Januar 1945, im Osten Deutschlands, über dem sich der Sturm der Vernichtung zusammenbraut – perfekt als Januar-Lektüre 2025
Gerd Ledig: Die Stalinorgel Für mich der beste Frontkriegsroman, den ich kenne. Er schildert die Kämpfe 1942 vor Leningrad und zeichnet in einer Szene ein geniales Bild einer demoralisierten Wehrmacht
Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes Ein Ausflug nach Rom. Derart sarkastisch und bissig, dass ich das Büchlein zum drittel Mal lese; der Autor begegnet Papst Benedikt in einer evangelischen Kirche, kurz vor dessen Rücktritt
Robert Harris: Vaterland Das Büchlein wurde bereits mehrfach gelesen, nicht nur von mir. Brillant in einen Thriller gegossene historische Dystopie um den verschwiegenen Holocaust in einer Welt, in der Hitler den Krieg gewonnen hat
Ein sehr abwechslungsreicher und unterhaltender Roman aus den Niederlanden, der sich dem Thema Massentourismus gekonnt widmet. Cover Elsinor Verlag, Bild mit Canva erstellt.
Man stelle sich den Bürger von Amsterdam als Frosch in einem Topf vor, in dem Wasser langsam erhitzt wird. Die Hitze steht für den Massentourismus. Einige Zeit merkt der Bürgerfrosch gar nicht, wie sich sein Leben verändert. Die Corona-Pandemie aber unterbricht den Prozess, sie nimmt den Frosch für einige Zeit aus dem Topf. Nach der Corona-Auszeit bzw. der Rückkehr in das sich weiter erhitzende Wasser folgt aber die brutale Erkenntnis, wie es um die Existenz des Froschbürgers inmitten der massentouristischen Lebenswelt tatsächlich bestellt ist.
An diesem Bild, das der niederländische Autor Ries Rowaan in seinem Roman Amsterdam, verlorene Stadt, verwendet, haben mir mehrere Dinge gefallen. Das sich immer stärker erhitzende Wasser, das dem Frosch sein Lebensgrundlage entzieht; die Eigenheit des Menschen, Entwicklungen zu ignorieren und sich so anzupassen, dass der Ursprung der Veränderung vergessen wird; schließlich Corona als Katalysator, Brandbeschleuniger für Erkenntnis und Radikalisierung.
Diese neue Welt machte Jan wütend und traurig zugleich, doch eigentlich vor allem wütend, rasend, furchsteufelswild.
Ries Roowaan: Amsterdam, verlorene Stadt
Wer sich mit sozialkritischen Themen im Rahmen eines Erzählwerkes auseinandersetzt, läuft immer Gefahr, sich vom Thema so überwältigen zu lassen, dass es zu einer essayistischen Streitschrift wird. Der kubanische Autor Leonardo Padura hat das einmal so formuliert, dass Literatur, die sich auf das Feld der Politik begebe, drohe, von dieser verschlungen zu werden. Massentourismus ist so ein Thema, Ries Rowaan begegnet diesem mit schwarzem Humor, einer Prise Thriller, viel Sarkasmus und Spott sowie einem ausgefallenen Erzählansatz: Der Erzähler weilt nämlich bereits im Jenseits.
Eine Explosion hat Leo aus dem Leben gerissen, die Beschreibung der Umstände ist großartig; zunächst begreift er gar nicht, was passiert ist. Er schildert die Verwüstungen im Gefolge einer Detonation und bleibt auch bei der Beschreibung der eigenen Verletzungen kühl und sachlich. Dabei handelt es sich um einen dramatischen Moment.
Aufgenommen in Venedig, im Mai 2022. Die Stadt war überraschend leer, Asien noch im Lockdown, in Europa war Corona aber vorüber, eine Situation, wie sie Roowaan auch in seinem Roman für Amsterdam beschreibt.
Wie sich zeigt, war die Detonation Teil eines Terroranschlags: Zwei Bomben und zwei Selbstmordattentäter haben viele Menschen aus dem Leben gerissen. Es handelt sich um einen der größten Anschläge in Europa. Der dabei zu Tode gekommene Leo stellt kritische Fragen, etwa hinsichtlich der Neigung staatlicher Stellen, Täter als psychisch labile Einzelakteure zu verharmlosen.
Die Erzählung soll eine Richtigstellung sein, denn das Attentat berührt auch Leos Umfeld: Sein bester Freund Jan ist nach der Tat verhaftet worden. Er ist der Bürgerfrosch im Topf, der an den Zuständen in Amsterdam fürchterlich leidet und – wie das Zitat weiter oben zeigt – radikale Schlüsse zieht. Er hätte also ein Tatmotiv, trotzdem wird er zu Unrecht verdächtigt, wie Leo findet.
Die Schädeldecke war weggerissen, und ein Teil dessen, was sie hatte schützen sollen, lag auf der Straße. Offenbar braucht der Mensch also kein Gehirn, um denken zu können.
Ries Roowaan: Amsterdam, verlorene Stadt
Die Situation an sich ist mehr als grotesk. Touristen, die Amsterdam wie ein echter Amsterdamer erleben wollen und zum Fahrrad greifen, auch wenn sie gar nicht fahren können. Der »Fahrradtourist« ist mit seinem bizarren Verhalten eher ein Fahrradclown, ein gefährdeter Gefährder, wenn schon der Versuch, auf den Drahtesel zu steigen, misslingt.
Diejenigen, die immerhin wissen, wie man fährt, sind nicht besser. Weidlich nutzt der Autor die Gelegenheit, die nationalen Eigenheiten mit genüsslichem Spott auszubreiten. Italiener mäanderten lautstark redend über die Radwege und neigten zu jähen Richtungsänderungen, Deutsche hielten sich an die Regeln, führen jedoch zu schnell, während die Amerikaner gemächlich vor sich hin strampelten und die Franzosen im Pulk unterwegs seien. Das mit dem Smartphone selbstgedrehte Video der Tour hat einen dramatisch höheren Stellenwert als Verkehrssicherheit.
Der Autor nutzt das für eine boshafte Abrechnung, geht jedoch darüber hinaus. Mit Leo Hogeler, einem passionierten Klavierlehrer und Verführer, hat Rowaan eine interessante Figur geschaffen, dessen Handlungsweise immer wieder überrascht. Seine Freundschaft zu Jan Janssen, den er als »Familienvater« bezeichnet, bildet das Fundament für die Erzählung vom Wandel, der aus Amsterdam eine lebensunwerte Stadt werden lässt. Janssen, verheiratet, Haus, Kinder, droht inmitten der touristischen Springflut unterzugehen.
Hier berührt Rowaan ein Motiv, das ich bereits in einem anderen, ganz vorzüglichen Roman (Grand Hotel Europa) kennengelernt habe: der nach vorgeblich authentischen Erfahrungen suchende Reisende, der sich vom gewöhnlichen Touristen abzuheben versucht. Dabei übersieht dieser, wie absurd sein Vorhaben ist. Man ist immer Eindringling – wie der Autor anhand der spezifischen Fahrrand-Sozialisierungen ganz wunderbar gezeigt hat.
Sie wollen der örtlichen Bevölkerung so nahe wie möglich auf den Pelz rücken – der damit allerdings in keiner Weise gedient ist.
Ries Roowaan: Amsterdam, verlorene Stadt
Wie ein roter Faden zieht sich das Thema Massentourismus durch Amsterdam – verlorene Stadt, die Erzählung ist jedoch auch eng verwoben mit dem originellen Lebenswandel des Erzählers und seines Freundes. Leo und Jan gehen auf grundverschiedenen Pfaden durchs Leben, hier sexueller Hedonismus in einem musikalischen Kokon ohne Ambition, dort pflichtfixierte Rechtschaffenheit in einem kleinbürgerlichen Leben, jedoch getrieben von einem authentischen Interesse an Tätigkeit und Beziehung.
Nach seinem allzu frühen Tod blickt Leo aus dem Jenseits auf sein Leben zurück. Eigentlich ist der Verstorbene für eine derartige Rückschau zu jung, was seinen Worten eine weitere besondere Note verleiht. Wehmütig-profane Dinge stehen neben klugen Beobachtungen.
Die 2020er Jahre werden manchmal unbedacht als neue Roaring Twenties verklärt, dabei gibt es beträchtliche Unterschiede zu den 1920er Jahren: Damals hatten nur sehr wenige Menschen genug Geld für Reisen in fremde Städte, hundert Jahre später sind Millionen dazu in der Lage und nutzen diese Freiheit vor allem zum Partymachen. Die Ausnahmen sind zu einer Flutwelle geworden, einer biblischen Plage gleich.
Der rechtschaffene Jan zieht daraus die Konsequenz, selbst keine City-Touren mehr zu unternehmen. Ein scharfer Kontrast zur Bigotterie mancher Amsterdamer, die über die Touristen in ihrer Heimatstadt herziehen, um im Ausland selbst »die Sau rauszulassen«. Und der Leser, der beifällig nickt, wird er für sein eigenes Leben eine Konsquenz ziehen? Wohl kaum.
Jans Bemühungen gehen sogar über den Selbstverzicht hinaus. Er glaubt, eine einfache Lösung für das Problem gefunden zu haben:
Worin bestand die Lösung? Ganz einfach: Amsterdam musste wieder gefährlicher werden.
Ries Roowaan: Amsterdam, verlorene Stadt
Einfache Lösungen sind meist keine, im Gegenteil: Sie führen oft mitten in die Hölle. Schon auf den ersten eineinhalb Seiten erfährt der Leser von der monströsen Gewalttat, dem Anschlag inmitten der Stadt, durch den Leo aus dem Leben gerissen wird. Amsterdam ist also tatsächlich »gefährlicher« geworden. Was es mit dem Attentat auf sich hat und wie Jan darin verwickelt ist, wird hier jetzt nicht verraten, nur soviel: Auch in diesem Punkt steckt eine Warnung.
[Rezensionsexemplar]
Ries Roowaan: Amsterdam, verlorene Stadt Aus dem Niederländischen von Gerd Busse Elsinor Verlag 2024 Klappenbroschur, 176 Seiten ISBN 978-3-942788-83-0
Im Erzählwerk des Autors und jenen drei Beiträgen dieses Bändchens spielt der Nebel eine wichtige Rolle. Cover Sonderzahl, Bild mit Canva erstellt.
Züge erzählen Geschichten
Jaroslaw Rudiš: Durch den Nebel
Es sind Sätze, wie dieser, die den schmalen Band Durch den Nebel von Jaroslav Rudiš so lesenswert machen. Für Zeitgenossen einer heruntergewirtschafteten, kaputtgesparten Deutschen Bahn, die vielleicht noch mehr als der Berliner Flughafen BER eine nie versiegende Quelle von Hohn, Spott und Verärgerung darstellt, sind solche Sätze im ersten Moment ein wenig befremdlich.
Autor Rudiš ist Eisenbahn-Reisender aus Passion, der niemals Zeitverlust oder gar Zeitverschwendung empfindet, auch wenn der Anschlusszug verpasst wird. Im Zug, im Bahnhofsrestaurant verstreicht für ihn die Zeit gewinnbringend, denn nicht nur Züge erzählen Geschichten, sondern auch die Menschen in, um und bei Zügen. Sie sind für den Autor Quelle der Inspiration.
Der erste der drei Teile von Durch den Nebel ist denn auch im Perronnord zu St. Gallen verfasst, einem Bahnhofsetablissement mit Blick auf eine schöne Uhr. Dort werden kleine Biere serviert und machen das Verweilen angenehm. Die Gedanken können weit durch Raum und Zeit schweifen, was Rudiš weidlich für einen Streifzug nutzt.
Es für die Lektüre von Durch den Nebel hilfreich, den Roman Winterbergs letzte Reise zu kennen. Wenn Rudis von seiner weitreichenden Affinität zu der Habsburgermonarchie spricht und auf Winterberg, den Protagonisten des Romans verweist, nimmt die Verbundenheit mit dem Kulturraum der einstigen Donaumonarchie im wörtlichen Sinne Gestalt an. Der Vielvölkerstaat nahm die eisenbahnbefahrbare Grenzenlosigkeit Europas im kleineren Maßstab bereits vorweg.
Es ist kein Zufall, dass Winterbergs Begleiter in meinem Roman Kraus heißt. [Karl Kraus wurde in Gitschin / Jičín geboren, in »Wallensteins Stadt«]
Jaroslaw Rudiš: Durch den Nebel
Heute liegt Österreich-Ungarn im Nebel des Vergessen und der Geschichte, laut Rudis ein Nebel, in dem er sich selbst verloren hat. Nebel, Schneetreiben oder niedrig hängende Wolken regen die Phantasie an. Aus diesem Nebel treten bisweilen großartige Ideen hervor, etwa jene, den greisen Winterberg mit einem Baedeker-Reiseführer des Jahres 1913 (!) durch das Mitteleuropa der Gegenwart reisen zu lassen.
Im zweiten Teil wird der Ort Winterberg oder Vimperk noch wichtiger. Dieser Part ist nicht nur formal das Zentrum von Durch den Nebel, sondern auch inhaltlich. Königgrätz. Wallenstein. Jičin / Gitschin (»Wallensteins Stadt«). Österreich-Ungarn, Böhmen, Sachsen, Preußen. So viel Geschichte! Wie die Hauptfigur von Winterbergs letzte Reise scheint auch Rudiš von Geschichte befallen oder ihr verfallen zu sein.
Geschichte ruht nicht. Wie die Geister der fünfzigtausend bei Königgrätz Gefallenen, der elendig auf dem Schlachtfeld verreckten Soldaten nicht ruhen können, so geistert das Gestern im Heute. Der stille Held des Winterberg-Romans ist jener Baedeker-Reiseführer aus dem Jahr 1913, der dem Autor vor Augen führt, wie erstaunlich viel von der längst vergangenen Zeit noch im Heute enthalten ist.
Aus dem Gemenge ist die geniale Idee entstanden, eine Road-Novel auf Schienen zu schreiben und diese Mobilitäts-Erzählung mit der Vergangenheit zu verwirken, indem die Hauptfigur überwiegend gar nicht im Jetzt, sondern der Gegenwart des uralten Reiseführers existiert. Winterberg zitiert ständig aus dem Buch, er trägt ganze Passagen über die Orte und Städte vor, die von dem ungleichen Buddy-Duo angesteuert werden.
Was man durch die Fenster des Waggons sieht, wird ergänzt durch die Vergangenheit, die eben noch gar nicht so vergangen ist. So wird es denn auch glaubhaft, wenn Winterberg selbst jenen Roman über seine letzte Reise mit einem pathetischen (und für viele völlig unverständlichen Satz) einleitet:
Die Schlacht von Königgrätz geht durch mein Herz.
Jaroslaw Rudiš: Durch den Nebel / Winterbergs letzte Reise
Rudiš erläutert in Durch den Nebel, woher er diesen Satz hat, wie er ihn ein wenig angepasst hat und was er eigentlich ausdrückt. Der Leser erhält einen Einblick in sein Schreiben, aber auch in die Tiefe, die unter kurzen, harmlos-verklausuliert klingenden Sätzen liegen kann.
Kleinod ist so ein schönes Wort. Es bedeutet kleines Schmuckstück, Kostbarkeit oder Juwel. Ursprünglich hieß es einfach kleines Ding, doch können kleine Dinge bekanntlich großen Wert haben. Das gilt für das schmale Bändchen Durch den Nebel von Jaroslaw Rudiš, das auf so typische Weise vom Schreiben des in Berlin lebenden Autors, der aus Tschechien stammt, erzählt.
Jaroslaw Rudiš: Durch den Nebel Salzburger Stefan Zweig Poetikvorlesungen Sonderzahl Verlag 2022 Büttenbroschur 108 Seiten ISBN 978-3-85449-605-2
Eine neue Graphic Novel ist - mehr zufällig - eingetroffen. Sie befasst sich mit einem sehr spannenden Thema, auch wenn es dank Elon Musk oder der Girlie-Weltraumtouristen-Truppe immer wieder zu Irritationen kommt. Die Geschichte der Raumfahrt begleitet mich schon fast mein ganzes Leben, angefangen, als das Space-Shuttle noch als »Arbeitspferd der 80er Jahre« galt. [Rezensionsexemplar]
Verräter - Piratenbrüder Band 6 erscheint am 20. September 2025. Das eBookkann vorbestelt werden. Es wird exklusiv bei Amazon Kindle erscheinen und auch im Rahmen von Kindle Unlimited verfügbar sein.
Bücher begleiten mich schon mein ganzes Leben, auf dem Leseweg habe ich sehr viele großartige Romane und Sachbücher lesen dürfen, von denen ich gern erzählen möchte. Das ist ein Grund, warum ich blogge.