Alexander Preuße

Schriftsteller - Buchblogger

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Lesemonat Februar 2023

Neun Bücher, darunter vier Sachbücher. Cover beim Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Für 2023 habe ich mir vorgenommen, mehr Sachbücher zu lesen und auf meinem Blog vorzustellen. Im Februar sind es vier gewesen, alle mit ganz unterschiedlichen Themen, außerdem bedienen sie verschiedene Formen: Historiographie, Tagebuch und Essay. Gemeinsam ist ihnen, dass sie mir ausnehmend gut gefallen haben.

Anlässlich des Jahrestages von Putins Angriffs- und Vernichtungskrieg wollte ich gern etwas lesen, das von den Betroffenen selbst kommt. Die Essays von Tanja Maljartschuk, Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus, reichen weiter zurück und machen deutlich, dass seit 2014 ein nur mühsam verdeckter Eroberungskrieg Russlands im Osten der Ukraine herrschte. Dagegen setzt Als ich im Krieg erwachte von Julia Solska am Tag vor dem Angriff ein und lässt den Leser hautnah miterleben, wie eine ohnehin fragile, aber friedlich empfundene Welt aus den Fugen gerät. 

Wer der Meinung ist, wir in Deutschland hätten Krise, kann dies auch historisch auf den Prüfstand stellen. Vor einhundert Jahren donnerte ein perfekter Sturm über Deutschland, wie man anhand des wunderbaren Buches von Volker Ullrich, Deutschland 1923, nachvollziehen kann. Noch weiter zurück reicht Die Flamme der Freiheit* von Jörg Bong, das die missratene Revolution in Deutschland im Jahr 1848 mit großem demokratischen Engagement beleuchtet. Beide Bücher sind im Stil sehr unterschiedlich, aber jedes auf seine Weise toll geschrieben und eine klare Leseempfehlung.

Romane

Unter den Romanen ist Der Magier im Kreml* von Giuliano da Empoli mein erklärter Favorit. Der Leser blickt hinter die Kulissen, aber nicht auf eine reißerische Weise, sondern in Gestalt einer schillernden Figur namens Baranow, der als »Putins Rasputin« oder eben jener Magiebegabte mit Zugang zum Ohr des Zaren gilt. Eine hochklassige Lektüre, so zeitgemäß, wie es kaum besser geht. 

Der Kriminalroman Tanzplatz der Toten* von Tony Hillerman hat mich auf den ersten Blick neugierig gemacht. Die Navajo-Police in Gestalt von Ermittler Joe Leaphorn – was für ein vielversprechendes Setting, das die Erwartungen rundum erfüllt hat. Ich freue mich sehr auf die weiteren Bände der Reihe.

Eine ganz andere Form der Neugier hat mich auf Ein simpler Eingriff von Yael Inokai gebracht, das es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2022 geschafft hatte. Mir haben der Stil und die Herangehensweise gefallen, insbesondere das vielfach kritisierte Abweichen von dem eigentlichen Thema – was meines Erachtens eine gute Entscheidung gewesen ist.

Dagegen hat mich eine dringende Empfehlung auf Das Labyrinth von London von Benedict Jacka aufmerksam gemacht, der ich gern gefolgt bin. Urban Fantasy ist eine wunderbare Methode des Eskapismus, auch wenn mehr oder weniger alle Romane, die ich aus diesem Segment bislang gelesen habe, in London spielen. So auch dieser, mit einer originell gestalteten Hauptfigur.

Ganz und gar ungewöhnlich ist der Roman Der Mann im roten Rock von Julian Barnes. Eine Besprechung habe ich mir verkniffen, nicht etwa, weil ich das Hör-Buch nicht gemocht hätte; mir hat es außergewöhnlich gut gefallen, inbesondere der Vortrag durch Frank Arnold. Allein das Nachwort … dieser Roman mäandert durch das ausgehende 19. Jahrhundert und ist weitgehend handlungsfrei. Dafür ungeheuer atmosphärisch und sprachlich brillant.

Was kommt?

Der Monat März ist noch jung, doch schon habe ich das erste Buch gelesen: Der Übermensch* von John Buchan. Ein Klassiker des Spionage- und Polit-Thrillers, der mir sehr gut gefallen hat. Er ist in der gleichen Reihe erschienen, wie Die große Uhr* von Kenneth Fearing, das Buch, das in diesem Jahr mit großem Abstand das meiste Interesse auf meinem Blog hervorgerufen hat. Den dritten Band der Reihe habe ich mir mittlerweile selbst gekauft, den lese ich im Sommer. Ich mag Klassiker dieser Art und hoffe, es folgen weitere Bände.

Der März 1933 markiert das Ende der Weimarer Republik; was läge näher, als neunzig Jahre später den Roman Märzgefallene von Volker Kutscher zu lesen? Der fünfte Band der Reihe um Gereon Rath beginnt noch düsterer als etwa Die Akte Vaterland, was angesichts der Ereignisse um den Reichstagsbrand und Hitlers Ernennung zum Reichskanzler kein Wunder ist. Die Schlägertrupps der SA sind Hilfspolizei und nutzen das zum Quälen politischer Gegner.

Das nächste Thema, mit dem ich mich beschäftigen werde, ist der politische Mord. Das ist und bleibt ein aktuelles Thema, wie die schändliche Mordtat im Tiergarten beweist, doch geht es um zwei historische Attentate: Zunächst das von Georg Elser 1939 auf Adolf Hitler und das auf Walther Rathenau 1922. Das eine hätte welthistorische Bedeutung gehabt und alles verändert; das andere hatte eine verheerende Wirkung auf Deutschland, denn Rathenaus Tod leitete das Krisenjahr 1923 ein.

Dein Gesicht morgen – ein dickes Brett

Seit Jahresanfang lese ich den Roman Dein Gesicht morgen von Javier Marías. Voraussichtlich werde ich noch einige Wochen mit dem Buch beschäftigt sein, denn es kommt auf stolze 1.600 Seiten. Die Taschenbuchausgabe umfasst nämlich alle drei Teile, in denen der Roman ursprünglich veröffentlicht wurde. Es gilt als das Opus Magnum des im Vorjahr verstorbenen Autors.

Dein Gesicht morgen ist ein dickes Brett. Das bezieht sich keineswegs nur auf den Umfang, obwohl der schon ausreichen würde für diese Zuschreibung. Der Inhalt ist äußerst ungewöhnlich. Auf den mehr als eintausend Seiten, die ich bisher gelesen habe, geschieht nicht allzu viel – im Sinne einer wirklichen Handlung; dafür nimmt der Leser an einer unglaublichen Vielfalt an Gedanken und Assoziationen teil.

Ich habe mich schon gewundert, wie vage und luftig der Klappentext gehalten ist. Das ist kein Wunder, denn das, was geschieht, ließe sich in wenigen Sätzen zusammenfassen; doch um eine Handlung geht es Marías nicht, eher um das Handeln und seine Wurzeln, seine Verflechtungen in der Zeit, sowohl der Vergangenheit als auch Gegenwart. Marías verknüpft auf manchmal atemberaubende Weise Motive.

An einer Stelle im Roman verschlägt es den Ich-Erzähler auf eine Damentoilette, er sucht jemanden, den er nicht findet. Das ist die Handlung von mehr als einhundert Seiten. Beim Untersuchen der – besetzten – Damentoilette wandern die Gedanken des Erzählers von dem möglicherweise aufgehübschten Gesicht einer Frau zu Reinhold Heydrich und dem tödlichen Attentat auf diesen im Jahr 1942. Das Bindeglied: Botox. Botulinum Toxin. Tödliches Gift und Faltenhemmer.

Schon auf den ersten Seiten ist klar, dass man hier keinen luftig leichten Pageturner zur Hand nimmt. Der Roman ist ein komplexes Gebilde, am ehesten erinnert er mich an einen breiten Strom, der sich gemächlich dem Meer entgegenwälzt, während ihm aus unzähligen größeren, kleineren und unsichtbaren Zuflüssen neues Wasser zugeführt wird.

Ich lese den Roman, als würde ich in der Mitte auf dem Rücken liegend mich mit der Strömung treiben lassen und voller Staunen beobachten, was vorüberzieht. Die Entscheidung, Dein Gesicht morgen ganz behutsam zu schmökern, mal zehn, mal zwanzig Seiten, immer sehr aufmerksam und ganz langsam, war die richtige. Alles andere wäre Verschwendung. Und so ist dieses dicke Brett tatsächlich ein Genuss.

Bloggestöber

Heute nur ein kleiner Tipp: Der Blog des in der Ukraine lebenden Schriftstellers Christoph Brumme, der die ukrainische und damit die richtige Seite des Krieges zur Wort kommen lässt. Es ist aus meiner Sicht absolut notwendig, sich die Perspektive der Betroffenen anzueignen und nicht der bequemen Sofapazifisten in Deutschland, denen es bestenfalls um ihren Seelenfrieden, zumeist aber um antidemokratische, proputinistische und antiamerikanische Präferenzen geht.

*[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

Yael Inokai: Ein simpler Eingriff

Ein kurzer Roman, der es 2022 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat. Umschlag Hanser Berlin, Bild mit Canva erstellt.

Wie geht eine Gesellschaft im Allgemeinen und die Medizin im Besonderen mit dem um, was als andersartig, störend, abweichend definiert wird? Man rückt dem beispielsweise chirurgisch zu Leibe, indem man einen simplen Eingriff vornimmt und das Problem beseitigt. Hinterher sind alle glücklich.

Meret arbeitet als Krankenschwester in einer Klinik, auf einer Station, die für Patienten gedacht ist, die mit einem operativen Eingriff von einer solchen Störung befreit werden sollen. Sie fühlt sich als Teil des Fortschritts, wie es scheint, erlaubt es die Medizin dem Patienten, ein gutes Leben zu führen, ganz im Gegensatz zu den grausamen Methoden der Vergangenheit.

Ganz früh deutet sich bereits an, dass Meret in eine Liebesbeziehung zu ihrer Mitbewohnerin Sarah trudelt. Tatsächlich entfernt sich die Erzählung für eine Weile ein gutes Stück von dem, worum es am Anfang geht –  passenderweise, denn diese Distanz ändert erst den Blick auf die simplen Eingriffe und ihre Folgen. Außerdem handelt es sich bei einer gleichgeschlechtlichen Liebe eben auch um eine »Störung« dessen, was in weiten Kreisen als »normal« oder »natürlich« angesehen wird.

In diesen Kreisen wird auch in der wirklichen Welt bis in die Gegenwart darüber schwadroniert, man müsse und könne Homosexualität therapieren. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden Frauen ist auf diese Weise fest mit dem Thema verwoben, das die Humanität der Medizin und des Fortschritts aufwirft, und die Frage stellt, ob es den Patienten nach dem kleinen Eingriff wirklich besser geht – oder sie ihrer Umgebung nicht mehr so sehr zur Last fallen durch ihre Andersartigkeit.

Ein simpler Eingriff von Yael Inokai thematisiert diese Motive, berührt außerdem eine ganze Reihe weiterer, etwa Gewalt in Familien, starre gesellschaftliche Verhältnisse und patriarchalische Hierarchien. Gefallen hat mir außerdem die unaufgeregte Sprache von Yael Inokai sowie das Ungefähre, Reduzierte des Romans, der irgendwo, irgendwann handeln kann.

Yael Inokai: Ein simpler Eingriff
Hanser Berlin 2022
HC 192 Seiten
ISBN 978-3-446-27231-6

Benedict Jacka: Das Labyrinth von London

Urban Fantasy spielt in London, so scheint das Genre-Axiom zu lauten. Cover Blanvalet, Bild mit Canva erstellt.

Feine Urban-Fantasy aus der Feder von Benedict Jacka. Sein Alex Verus ist eine originelle Figur, die schon im Auftaktband der recht üppigen Buchreihe einiges durchmacht, haarsträubende Situationen bewältigen muss und bei Gelegenheit die Welt mit einer halben Legion ironischer, sarkastischer und flapsiger Bemerkungen bereichert.

Verus ist Magier, allerdings ein besonderer. Kämpfen kann er nicht, im Gegensatz zu vielen anderen Zauberkundigen, die je nach Ausrichtung zur weißen oder schwarzen Richtung neigen und zumeist ihr eigenes Süpplein köcheln. Der Protagonist ist Wahrsager. Er kann die Zukunft bzw. viele verschiedene Varianten einer möglichen Zukunft voraussehen.

Das ist zunächst einmal lustig, wenn Verus sein Alltagsleben als Inhaber eines Ladens etwas aufpeppt und den Leser vorab darüber in Kenntnis setzt, was die werte Kundschaft wünscht. Eigentlich wussten wir immer schon, dass Hellsehen eine Kernkompetenz misslaunig dreinblickender Ladenbesitzer ist, woher sonst sollten sie wissen, dass wir nur stöbern, nicht kaufen wollen?

Verus ist ein Außenseiter. Gemieden vom Rat, was eine höfliche Umschreibung ist, belastet von einer üblen Vergangenheit unter der Knute eines Schwarzmagiers, hält er Distanz. Das ist ein gutes Stichwort, wenn es um jene junge Dame namens Luna geht, die von einem Fluch belegt ist, der jeden in Mitleidenschaft zieht, der ihr zu nahe kommt.

Wer solche Freunde hat, braucht eigentlich keine Feinde mehr, doch wird Verus in ein Abenteuer gezogen, das nach dem preußischem Militär-Leitspruch „Viel Feind, viel Ehr“ gestaltet ist. Gleich mehrere Gruppen wollen etwas, das sie nur mit Hilfe von Verus bekommen können – die sich daraus ergebenden Antagonismen führen mitten hinein in eine turbulente Hetzjagd, bei dem jeder gegen jeden kämpft.

Genretypisch spielt der Roman in London. Wo sonst?, könnte man beinahe fragen. Genretypisch muss der Leser eine allzu nüchterne Lesehaltung ablegen, um Spaß zu haben, sonst verheddert er sich leicht in den Fallstricken des Phänomens »Zukunft«. Gelingt das, ist Das Labyrinth von London ein sehr kurzweiliges, originelles und spannendes Lesevergnügen.

Benedict Jacka: Das Labyrinth von London
aus dem Englischen von Michelle Gyo
Blanvalet 2018
TB 416 Seiten
ISBN: 9783734161650

Volker Ulrich: Deutschland 1923

Die Inflation aus dem Jahr 1923 hat bei der deutschen Bevölkerung Spuren hinterlassen, bis heute. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Geschichte hält sich nicht an Jahreszahlen und Kalender. Politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen reichen in beide Richtungen darüber hinaus. Entsprechend ist es ein sinnvoller Ansatz, ein Buch über das Jahr 1923 nicht auf dasselbige zu beschränken, sondern die Wurzeln der katastrophalen Entwicklung und deren Folgen aufzuzeigen.

Man kann sich auch streng auf jene 365 Tage beschränken und nur in einzelnen Fällen vorgreifen oder zurückgehen. So ist Jutta Hoffritz mit ihrem Buch Totentanz vorgegangen. Durch die Fokussierung auf das Erleben der von ihr ausgewählten Persönlichkeiten erhält die Erzählung eine ganz besondere Nähe und Unmittelbarkeit. Dabei bleiben allerdings viele Dinge auf der Strecke, etwa die Erklärung, warum Deutschland 1923 von einer Hyperinflation heimgesucht wurde.

Der Ansatz, den Volker Ulrich in Deutschland 1923 wählt, erklärt mehr, indem er die Ursachen ergründet und aufzeigt. Die gewaltige Geldentwertung hätte Anfang 1923 vielleicht noch eingedämmt werden können, doch war sie zu diesem Zeitpunkt schon ordentlich in Schwung. Die Ursachen reichen zurück in den Ersten Weltkrieg, der auf Pump finanziert wurde: Die Kosten würden die Verlierer bezahlen, so dachte man auf allen Seiten; natürlich ging man deutscherseits davon aus, dass die anderen verlieren würden.

Statt dicker Kriegsgewinne gab es 1918 Gebietsverluste, Aufstände, Putschversuche, Separatisten, die Notwendigkeit, immense Sozialleistungen aufzulegen und gewaltige finanzielle Reparationsbelastungen. Aus diesem verhängnisvollen Zustand hätte nur eine starke Reichsregierung im Verein mit nachgiebigen Siegerstaaten herausgefunden – stattdessen eskalierte der Reparationsstreit, Frankreich und Belgien besetzten das Ruhrgebiet.

Als Harry Graf Kessler im August 1922 durch Nordfrankreich reiste, war er erschüttert über das Bild, das sich ihm vier Jahre nach Kriegsende immer noch bot.

›Große, unkultivierte Flächen, die von blühendem Unkraut überwachsen sind, und auch zwischen bestellten Feldern auffallend viele unbestellte. Zerschossene Häuser, eingestürzte Dächer, kleine Barackendörfer, neue Landhäuschen von trostloser Scheußlichkeit. St. Quentin ist nicht vollständig zerstört, wie man gesagt hat, doch die Bahnhofsstraße und viele Häuser sind noch immer nach vier Jahren Trümmerhaufen. Und die Kathedrale thront fensterlos mit einem Wellblechschutzdach als erhabene, weithin sichtbare Ruine über der zerschossenen Stadt.‹«

Volker Ulrich: Deutschland 1923

Dieses Faktum wurde nicht nur von der deutschen Regierung geflissentlich ignoriert, man darf sich getrost die Frage stellen, wer sich im Deutschen Reich zu dieser Zeit überhaupt Gedanken gemacht hat, was der Krieg in Frankreich und Belgien hinterließ. Und wer sich dazu offen und öffentlich äußerte. Auch in der Geschichtsschreibung bleibt oft randständig, dass es für Reparationen trotz aller problematischen Punkt im Vertrag von Versailles sehr gute Gründe gab.

Die höchst problematisch agierende Regierung Cuno verfolgte ein Programm, das in den Abgrund führte, auch wenn es anfangs zu einer kurzlebigen inneren Einheit führte. Sie ignorierte den dringend gebotenen Rat, einen Kampf nur zu dann zu fechten, wenn die Aussicht auf Sieg steht – Frankreich und Belgien saßen am längeren Hebel, hatten Verantwortliche, die das Reich gern nachhaltig geschwächt sahen und – nicht zu vergessen – angesichts der immensen Zerstörungen in ihren Ländern sachliche Gründe, auf Reparationen zu bestehen.

Es ist immens spannend zu verfolgen, wie sich die Dinge im Reich entwickelten, wie zentrale Figuren handelten und aus welchen Gründen sie das taten. Volker Ulrich verfolgt in seinem Buch sehr genau die politischen Entscheidungsprozesse, die zu dem Desaster führten. Man schaudert, wie nahe das Reich dem Abgrund tatsächlich gekommen ist. Ein totaler Zusammenbruch, kriegerische Handlungen mit Frankreich, Separatstaaten, kommunistische und / oder rechtsradikale Umstürze – alles lag in Reichweite.

Rückblickend kann man leicht in die Versuchung geraten, zu glauben, dass das alles besser gewesen wäre, als das finstere Tal, das die Welt zwischen 1933 und 1945 durchschritten hat, doch würde es zu kurz greifen, der Katastrophe von 1923 zu attestieren, sie führte unausweichlich zu Hitlers Machtergreifung. Hitler hätte auch nach 1930 noch verhindert werden können, etwas wenn die Demokraten wehrhafter und Thälmanns Kommunisten nicht beinhart stalinhörig gewesen wären.

»Noch im Dezember 1923 hätte ein politischer Beobachter für den Bestand der Weimarer Republik keine fünf Rentenmark gegeben.«
Arthur Rosenberg.

Volker Ulrich: Deutschland 1923

Trotzdem war die Hinterlassenschaft von 1923 eine schwere Bürde für die Weimarer Republik ganz unabhängig von den massenpsychologischen Aspekten. Ein oft eher stiefmütterlich behandelter Aspekt ist, dass man sich in den Parteien der Mitte und SPD Illusionen hingab, die eine konstruktive, langfristige Politik verhinderten. Stattdessen wurden parteipolitische Spielchen gespielt, die 1924 prompt zu beträchtlichen Verlusten bei den Wahlen führten – und zu einem Erstarken der antidemokratischen Kräfte.

Der zweite, wichtige Punkt, den Volker Ulrich gern noch etwas prägnanter hätte nennen können, sind die Präzedenzfälle, die 1923 geschaffen wurden; die Reichsexekution gegen Sachsen und Thüringen etwa bildeten die Blaupause für den verheerenden Preußenschlag 1932. Wunderbar deutlich wird hingegen, wie verhängnisvoll die Stellung der Reichswehr, ihre angebliche Neutralität, die eine immense Rechtslastigkeit aufwies, war. Übertroffen wurde dieser Webfehler nur von der absurd rechtslastigen Justiz, die am Ende der Weimarer Republik nicht umsonst ein Hort der Hakenkreuzler war.

Ulrich widmet der Kunst, Literatur, Architektur und Technologie (Radio) auch einigen Raum, was ein wenig wirkt, als säßen diese Passagen im Notsitz des Buches. Es gibt natürlich Verbindungen zu dem politisch-wirtschaftlichen Geschehen des Jahres 1923,  auch sind die Entwicklungen wirklich spannend, doch fehlt ein wenig die innere Anbindung an den Rest des Buches. Doch das ist angesichts der großen Qualität von Deutschland 1923 zu verschmerzen, denn Volker Ulrich hat ein hervorragendes Buch über das Horrorjahr verfasst.

Volker Ulrich: Deutschland 1923
C.H. Beck 2022
Hardcover 441 Seiten
ISBN: 978-3-406-79103-1

Giuliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Mit großer Spannung habe ich diesen Roman erwartet. Eine großartige politische Erzählung in den Schatten hinter den Kulissen. Cover C.H. Beck. Bild mit Canva erstellt.

Wenn man an einem Lagerfeuer oder vor einem Feuerkorb sitzt, wärmen die Flammen von vorn, am Rücken fröstelt man. So ist es bei  mir gewesen, kaum dass ich in die Handlung des Romans Der Magier im Kreml von Giuliano da Empoli hineingezogen wurde. Ich wusste ja, was kommt. Grundsätzlich. So wird es jedem gehen, der die vergangenen 25 Jahre nicht mit fest verschlossenen Augen durchs Leben taumelte.

Der wunderbar politische Roman entfaltet sein Thema gemächlich vor den Augen des Lesers. Er erschafft das Profil einer Persönlichkeit, ihrer Herkunft und en passant die Entwicklung Russlands seit der Zarenzeit: Wadim Baranow, der Magier im Kreml oder – wie es Beresowski an einer Stelle formuliert: »Putins Rasputin«. Ein  Berater des Zaren, wie Putin genannt wird, ohne Fachressort, aber mit direktem Zugang zu ihm.

In Russland zählt nur das Privileg, die Nähe zur Macht.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Baranows Tätigkeit nahe dem Zentrum aller Macht in Russland liefert einen Reiz des Romans, die Hoffnung auf erhellende Blicke hinter die Kulissen. Glücklicherweise vermeidet der Autor effektheischende »Enthüllungen«; entäuscht wird, wer Action oder Handlungsspannung erwartet. Für jene, die sich seit 1998 den Entwicklungen in Russland nicht verschlossen haben, bietet das Buch ein immens spannendes und gleichfalls irritierend gruseliges Leseerlebnis.

Der Magier im Kreml ist eine Fiktion, aber eine klug arrangierte und informierte. Der Tonfall ist nüchtern, in einem überlegenen, von der Arroganz des Machtwissens umflorten Gestus vorgetragen. Baranow gibt vor, genau zu wissen, wie es läuft und gelaufen ist; er lässt seinen Zuhörer (und die Leser) daran teilhaben, eine fürstliche Gunstbezeugung. Er hat nach eigenem Bekunden wesentlichen Anteil daran, dass Russland heute so ist, wie es ist, er ist ein loyaler Zyniker der Macht, machiavellistisch und bigott.

Der Krieg in der Ukraine war wie alles andere auch. Ich hatte ihn bestimmt nicht gewollt. Ich hatte meine Ablehnung im Übrigen lautstark zum Ausdruck gebracht. Aber dann, als der Zar diesen Krieg beschlossen hatte, tat ich alles in meiner Macht Stehende, ihn zum Erfolg zu führen.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Da Empoli hat seinen Roman im Wesentlichen als Kaminzimmergespräch in Szene gesetzt, eine großartige Entscheidung, diese Form passt wie angegossen. Der Ich-Erzähler kommt über ein Posting in den Sozialen Medien zu einem sehr speziellen Roman aus den 1920erJahren in Kontakt mit Baranow und wird zu diesem eingeladen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn der ehemalige Kremlmagier ist zu einem Gespenst geworden, nach seinem Rücktritt, umwittert von Gerüchten und Vermutungen zu seinem Schicksal.

In dem Gespräch zwischen den beiden Männern verstummt der Ich-Erzähler mehr und mehr, er unterbricht Baranows Erzählfluss nur anfangs ab und zu durch eine Nachfrage. Manchmal spricht dieser seinen Gast direkt an, das wirkt, als wende er sich direkt an den Leser. In diesen Passagen bekommen der Westen und seine Protagonisten oft abfällige Bemerkungen zu lesen, eine tiefgreifende Verächtlichkeit und Abneigung gegen die vermeintliche Schwäche – sehr authentisch, denn die Echos dieses Weltbildes waren tatsächlich den vergangenen Jahren oft in Zeitungen zu lesen.

Baranow ist eine unangenehme Person. Eingebildet. Arrogant. Narzisstisch. Stolz. Selbstgefällig. Er vermittelt gegenüber seinem Gesprächspartner (und dem Leser) das Gefühl der Überlegenheit einer bedeutenden Persönlichkeit, die auf die anderen herabsieht wie auf durcheinanderwirbelnde Ameisen. Menschen sind  ihm im Grunde genommen völlig gleichgültig, insbesondere die Russen, denen er attestiert, sie bräuchten Härte, Führung, aber keine Demokratie.

Wer ein wenig in Geschichte bewandert ist, kennt derlei Aussagen auch über »die Deutschen«, etwa von den Reaktionären um 1848 und während des Kaiserreichs, den Völkischen und Nazis; man kennt es auch aus China und hier wie da ist es schlichtweg falsch. Aber nützlich, denn rund um den Erdball wird diese Verschlichtung allzu gern aufgegriffen, wenn andere Erklärungen zu kompliziert oder lästig geraten. So auch, wenn man den Aufbau einer Diktatur rechtfertigen will.

Die erste Regel der Macht lautete, auf Fehlern zu beharren, in der Mauer der Autorität nicht den kleinsten Riss zu zeigen.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Am Aufstieg Putins und der Errichtung einer Machtvertikale hat Baranow einen gehörigen Anteil. Er weiß darum, wie Dinge inszeniert werden, denn er stammt aus intellektuellen Theaterkreisen und hat im Fernsehgeschäft die wesentlichen Instrumente kennengelernt. Als Beresowski ihn kontaktiert und klar wird, worum es dem einst mächtigen Medienmogul geht, endet alles fröstelige Kaminfeuerbehagen und die Luft scheint zu vereisen.

Es ist wie beim Anschauen der herausragenden TV-Serie Chernobyl, wenn der unverzeihliche und verhängnisvolle Leichtsinn jene dramatische und schreckliche Entwicklung einleitet, der gewöhnlich als GAU bezeichnet wird. Da Empolis Roman erreicht diesen Punkt, wenn die Zauberlehrlinge á la Beresowski im Dunstkreis der Macht ihr Spiel spielen und wie Dr. Frankenstein ein Geschöpf in die Welt setzen, das nicht mehr zu kontrollieren ist. Und seine Schöpfer frisst. Der GAU ist hier ein politischer.

Das Reich des Zaren wurde aus dem Krieg geboren, und es war nur folgerichtig, dass es am Ende wieder zum Krieg zurückkehrte.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Je näher das Romanende kommt, desto deutlicher wird, wie gefestigt Weltbild und Macht des Zaren sind. An einer Stelle lässt da Empoli jemanden zu Wort kommen, der sich über einen Exit des Machthabenden auslässt – genauer gesagt: einen Bogen zur Mafia schlägt und die Meinung vertritt, in beiden Fällen sei ein Abgang unmöglich. Das aber hieße, nach allem, was vorher zu lesen war, dass mit Putin kein Frieden möglich wäre. Schöne Aussichten!

Da Empoli lässt seinen Roman in schauderhaft dystopischen Äußerungen münden, die inhaltlich  überraschend sind und dennoch in gewisser Hinsicht zu dem ganzen Vorangehenden sehr gut passen, obwohl sie über Putin hinausreichen. Die düstere Prophetie aus dem Munde Baranows hinterlässt ein Gefühl nachdenklichen Grauens, das den Leser noch einige Zeit begleitet, wenn er Der Magier im Kreml zugeschlagen hat.

Guiliano da Empoli: Der Magier im Kreml
aus dem Französischen von Michaela Meßner
C.H. Beck 2023
Hardcover 265 Seiten
ISBN 978-3-406-79993-8

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