Alexander Preuße

Schriftsteller - Buchblogger

Yeva Skalietska: Ihr wisst nicht, was Krieg ist

Ein besonderes Tagebuch aus der Ukraine, in dem eine Zwölfjährige über ihre ersten Tage in Charkiw während des russländischen Angriffskrieges berichte. Cover Kaur, Bild mit Canva erstellt.

Am Dritten Tag des Krieges hat die zwölfjährige Yeva bereits gelernt, die Entfernung von Explosionen anhand des Knall-Lautes abzuschätzen. Da ist sie schon nicht mehr in ihrer Wohnung in Charkiw, sondern mit ihrer Oma bei einer Freundin untergekommen. Zum Glück, denn schon einige Tage später trifft ein russländisches Geschoss die alte Unterkunft, reißt ein Loch in die Hauswand, den Balkon ab und zerstört die Küche.

Dank Smartphone gibt es davon auch ein Foto – es ist in ihrem Tagebuch Ihr wisst nicht, was Krieg ist, abgebildet. Für Yeva ist der Verlust mehr als nur ein materieller, es fühlt sich an, als wäre ein Teil ihrer Kindheit und damit von ihr selbst zerstört worden. Noch später, als sie bereits auf der Flucht nach Westen sind, hört sie, dass vom Wohnblock noch mehr zerstört wurde.

Wenn die Medien davon berichten, dass die Frontstadt Charkiw immer mehr zur Geisterstadt werde, stecken solche Geschichten dahinter; viele davon erahnt der Leser von Yeva Skalietskas Tagebuch aus den Kurznachrichten, die sie mit ihren Mitschülern austauscht. Die Ängste, die Unsicherheit und Verzweiflung, aber auch die Erleichterung, herausgekommen und in Sicherheit zu sein, sind spürbar.

Panikattacken lernt Yeva auch kennen, in Charkiw unter dem Eindruck des russländischen Beschusses, aber auch ganz im Westen der Ukraine, als sie in Uschorod an der ukrainisch-ungarischen Grenze angekommen sind. Statt Freude überfallen sie Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Ein Leben ist innerhalb weniger Tage völlig aus den Angeln gehoben worden. Die Intensität der Aufzeichnungen ist bedrückend, das Geschwafel selbst ernannter Pazifisten dagegen dosenhohl.

Yeva gelangt über Ungarn nach Irland, davon berichtet ein Teil ihres Tagebuches. Das ist übrigens sehr gelungen aufgemacht, drei schön gestaltete Karten informieren den Leser über den Fluchtweg Yevas, die Ukraine und Charkiw. Gerade auch junge Menschen können hier einen Einblick bekommen, wie es ist, wenn ein verbrecherischer Angriffskrieg den Frieden vertreibt. Das Vorwort von Marina Weisband ist sehr informativ – es spricht nichts dagegen, das Buch auch in der Schule zu lesen.

Yeva Skalietska: Ihr wisst nicht, was Krieg ist
Übersetzt von Dr. Alexandra Berlina
Knaur 2022
Hardcover 192 Seiten
ISBN: 978-3-426-28622-7

Lesemonat September 2023

Neun Bücher im September 2023, quer durch die Genres; herausragend die Biographie zu Wolfgang Herrndorf. Bei Gelgenheit werfe ich einen Blick auf die Longlist des Deutschen Buchpreises, in dem mir vor allem eine große Leerstelle aufstößt. Cover beim jeweilgen Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Eigentlich wollte ich den Kometen übergehen und auf die vielen andern Facetten von Wolfgang Herrndorfs Leben (Malerei, Kindheit als Hochbegabter, Scheitern in Nürnberg, Internet-Bewohner etc.) fokussieren, doch das geht nicht. Die Diagnose der tödlichen und unheilbaren Erkrankung lässt das schlichtweg nicht zu; wenn der Komet eingeschlagen ist, ändert sich buchstäblich alles. Tobias Rüther hat in seiner Biographie Herrndorf* auf eine sehr gut lesbare und verständliche Weise den Lebensweg des Schriftstellers nachgezeichnet, unprätentiös und auf eine dem Autor zugewandte Weise. Für Leser Wolfgang Herrndorfs ein Muss; für alle anderen auch.

Diagnose und Symptome werden in Krise der Narration von Byung-Chul Han wunderbar, wenn auch ein wenig redundant ausgebreitet – was aber ist mit der Therapie? Was heißt eigentlich Erzählen? Der Autor bleibt letztlich die Erklärung schuldig. Möglicherweise gibt es auf diese Frage auch keine allgemeine, sondern nur persönliche, individuelle Antworten. Es finden sich aber sehr treffende Sätze in diesem Buch. Ein Beispiel: „Narrative sind wirksamer als bloße Fakten oder Zahlen, weil sie Emotionen auslösen.“ Trump erklärt, in einem Satz. Allein deswegen ist das Buch lesenswert, auch wenn der Autor die Grenze zur abgrundtief verhassten Esoterik ein- oder zweimal touchiert. Das tut dem Rest aber keinen Abbruch. Bei Kommunikatives Lesen findet sich eine detaillierte, kritische Besprechung.

Der Protagonist in Schwüle Tage von Eduard von Keyserling ist umstellt von hochbusigen Verlockungen und kann nicht, darf nicht. Die Mägde bewundern die Hände des „Jungherrn“, gehen aber mit den Knechten ins Heu. Das ins Unbestimmte gleitende Bedürfnis, irgendetwas tun zu müssen, die schwer lastende Atmosphäre fängt Keyserling ganz wunderbar ein. Eine schöne Erzählung über das adoleszente Begehren, sie steht am Anfang eines Erzählungsbandes, der bei Buchwolf besprochen wird.

Trotz des Titels ist Eine Formalie in Kiew kein Buch über den russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Es ist im Kern eine Migrations- und Familiengeschichte, die Dimitrij Kapitelman in einer sehr unterhaltsamen Weise erzählt. Allein die kruden Wortneuschöpfungen, mit denen er alles mögliche gekonnt aufs Korn nimmt, sorgen für manchen Lacher. Doch wird auch deutlich, dass Migration eben mehr ist als „Auswandern“, und dumpfbackiger Polit-Populismus mit Realitäten nichts gemein hat.

Ganz sicher ist Ich höre keine Sirenen mehr* ein Buch über den russländischen Krieg gegen die Ukraine und zwar ein ganz besonders gelungenes: Autor Daniel Schulz widmet sich dem Alltag im Krieg und rückt damit die Zivilgesellschaft ins Bild. Die hat sich bemerkenswert resilent gezeigt und einen erheblichen Anteil am Erfolg der Ukraine. Schulz liefert unmittelbare Impressionen, lässt die Betroffenen zu Wort kommen und das auf eine lobenswert journalistisch-kritische Weise.

Urban Fantasy ist das Genre, zu dem ich aus Unterhaltungszwecken greife. Der Magier von London von Benedict Jacka erfüllt diese Aufgabe ganz vorzüglich. Der dritte Teil der Buchreihe um den Magier Alex Verus macht einfach Spaß, die Balance, aus den Vorgängern das Nötige fortzuführen und doch Neues zu präsentieren, ist gelungen. Hier entfaltet sich peu á peu ein grausames Geheimnis, Anklänge an einen Krimi sind unübersehbar – aber einen mit Magie und Witz.

Literatur ist für mich auch immer ein Weg, Neuland zu betreten. Stephan Thome führt den Leser mit Pflaumenregen nach Taiwan, dessen Gegenwart und vor allem Geschichte in Form einer Familiengeschichte erzählt wird. Die Kolonialzeit und der Zweite Weltkrieg sowie die unmittelbare Nachkriegszeit Taiwans hinterlassen Spuren bis in die Gegenwart, in der die Insel von China in ihrer Existenz bedroht wird. Thome erzählt das auf eine sehr angenehme, unaufgeregte Weise, die Lektüre macht einfach Spaß. Sehr schön & ausführlich besprochen bei Literaturreich.

Was für ein wildes Buch! Der Elsinor-Verlag hat seine Reihe um Klassiker aus dem Krimi-Segment um ein ganz besonderes Exemplar erweitert: A.D.G. Die Nacht der kranken Hunde*. Es geht aufs Land, in Frankreich – und wer denkt da nicht an das berühmte Dorf? Tatsächlich erinnert die Figurenschar an die Gallier, allerdings ohne deren herzliche Freundlichkeit. Hippies nisten sich nahe dem Dorf ein, ein Tod setzt schließlich eine Entwicklung in Gang, die in ein turbulentes, Chaos mündet, alles umwirkt vom Flor des Anarchismus.

Die Fotos des Kriegsfotographen Robert Capa sind weltberühmt, doch wie steht es um sein Leben? Die Graphic-Biography Capa von Florent Silloray widmet sich dem Lebenswerk Capas, der bürgerlich Endre Friedman hieß. Die Stationen, die ihn aus bitterer Armut zu Weltruhm führten, werden nachgezeichnet, die Schattenseiten seines Lebens werden nicht ausgeblendet, auch der bis zu seinem frühen Tod in Indochina nachwirkende Schock über den Tod Gerdas wird nicht übergangen.

Bloggestöber

Nach zwei Jahren Buchbloggen habe ich gelernt: Es ist unvorhersagbar, welcher Buchtitel auf Interesse stößt und welcher nicht. Im September gab es eine große Überraschung, denn die Tagebücher 1939-1945 von Hermann Stresau haben mit großem Abstand das meiste Interesse auf sich gezogen. Was ein kleiner Link auf einem anderen Buch-Blog nicht alles anrichten kann.

Mich freut das, denn Stresaus Als lebe man unter Vorbehalt* sind ungeheuer zeitgemäß. In den Tagebüchern, Aufzeichnungen und Berichten, die ich gegenwärtig aus der Ukraine und Russland lese, tauchen Motive wieder auf, die sich auch bei Stresau finden. Kleinigkeiten, wie das Ignorieren des Luftalarms, Grundlegendes wie die innere Zerrissenheit, die Erschöpfung, der Kampf um ein Stück Alltag im Krieg – alles schon einmal dagewesen und zurückgekehrt.

Ebenso erfreulich ist, dass der Beitrag über Die Nacht der kranken Hunde* von A.D.G. viel Aufmerksamkeit erhalten hat, ein Country-Noir-Klassiker in der wunderbaren Reihe des Elsinor-Verlages. Es gibt keinen ehrenhaften Abgang aus einem verbrecherischen Krieg, das haben die Franzosen in Vietnam (später auch die USA) am eigenen Leibe spüren müssen. Mein Blogbeitrag zu Éric Vuillards Ein ehrenhafter Abgang* wurde im September am dritthäufigsten angesteuert.

Neues gibt es auch von meiner Arbeit als Schrifsteller: Der zweite Band meiner Piratenbrüder-Buchreihe ist veröffentlicht, Chatou heißt der Teil.

Es geht rund: Hochspannung, Komik, Dramatik – Joshua und Jeremiah kämpfen einen schier aussichtslosen Kampf um das Leben ihrer Freunde und geraten dabei selbst in tödliche Gefahr.

Eine Longlist mit Leerstelle

Krieg? Welcher Krieg? Pssst! Du darfst das Wort nicht verwenden! Es kostet dich Reichweite. Schreibe lieber Kr*eg, dann merkt es der Algorithmus nicht und der Leser weiß dennoch, von was die Rede ist.

Die Schere im Kopf ist zurück.

Aber zurück zum Krieg. KRIEG! Man könnte auch in anderer Hinsicht meinen, es gäbe keinen. Wer einen Blick in die Longlist des Deutschen Buchpreises wirft, wird vergeblich einen Roman suchen, der den russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine thematisiert. Oder etwas in dessen Peripherie – Belarus vielleicht, Flüchtlinge, Oligarchen, fröhliche Z-Krieger im ach so verhassten Westen.

Nichts.

Das heißt nicht, dass die Themen, die von den Romanen auf der Longlist behandelt werden, sämtlich uninteressant wären, ganz im Gegenteil: NSU-Komplex oder die Sirenenklängen des so genannten Islamischen Staats; Historisches, das den Leser in die unmittelbare Zeit vor der Urkatastrophe Europas führen; Migration – ein wichtiges Dauerthema in Deutschland.

Eine Abwertung der Romane und ihre Inhalte liegt mir fern, ich ziele auf die Leerstelle ab, die ich persönlich als ebenso schmerzlich wie bezeichnend finde. Im Grunde genommen ist der verbrecherische Angriffskrieg Russlands kein Thema, man hat es sich eingerichtet zwischen billigem Gas aus Putins Reich, dem militärischen Schutz der USA und Stillstandsverwaltung; in der Komfortzone ruht der Blick bequem auf sich selbst.

Putin? Im vergangenen Jahr hatte man hierzulande wenigstens Serhi Zhadan den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zugesprochen, sein Roman Internat ist thematisch, sprachlich und in seiner Konzeption überragend. In Frankreich hat man Guliano da Empolis Der Magier im Kreml immerhin ausgezeichnet, wenn auch nicht mit dem Prix Goncourt, für den ein Werk autofiktionaler Eigenfokussierung gewählt wurde. Als gäbe es keine Welt außerhalb der eigenen und würde diese nicht längst davon massiv beeinflusst.

Das spielt aber in den Romanen der Buchpreislonglist gar keine Rolle, ebensowenig in der Rezeption. Andere Dinge machen die Musik. Ein willkürliches Bespiel. Die taz etwa kümmert das Geschlecht der sechs Autoren, die auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gekommen sind. Die Shortlist wäre »geradezu passgenau um die Figur des älteren weißen männlichen Autors herumgebaut

Was soll das? Warum nicht gleich darauf verweisen, dass die Nachnamen mit dem Anfangsbuchstaben A-M auf der Shortlist marginalisiert werden?

Literatur-Preise werden nie nach literarischer Qualität vergeben. Das ist auch völlig in Ordnung. Insofern sind diese Preise auch Gradmesser für das, was dem Publikum als zeitgemäß präsentiert wird. Als Indikator für die weltabgewandte Lese- und vielleicht auch Leseweise ist die Longlist des Deutschen Buchpreises dank der Leerstelle bezüglich des wichtigsten Themas unserer Tage eine Schande.

*Rezensionsexemplar

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Ein großer Roman aus Slowenien, hervorragend erzählt. Cover Zsolnay-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Das große Elend. So nennt es die Mutter des Protagonisten Danijel, wenn in der heimischen Küche Zusammenkünfte des Ehegatten mit anderen ehemaligen »Teilnehmern am Volksbefreiungskampf«, also Partisanen, abgleiten. Es wird gesoffen, gesungen, gestritten, gebrüllt, Alkohol verschüttet und ab und zu landet ein Glas an der Wand, ehe man sich wieder versöhnt.

Manchmal muss Danijel mitten in der Nacht aufstehen und das Gegröle musikalisch untermalen. Seine Mutter verlässt daher mit ihm oft vorsorglich das Haus und schlüpft an solchen Abenden bei Verwandten unter, um dem großen »Elend« zu entgehen. Ist das nicht möglich, sitzen Mutter und Sohn in ihren Zimmern und hoffen, dass es beim gewöhnlichen »Elend« bleibt.

Allein das Wort »Elend« wird zu einem Abgrund, denn Drago Jančar entzieht auf diese schlichte Weise dem Nachkriegsdasein ehemaliger Widerständler alles Heroische. Der Vater von Danijel hat Gestapohaft und Lagerhaft überlebt, doch was bleibt davon? Der Held führt sich in der jugoslawischen Gegenwart in einer Weise auf, die Ekel und Fremdscham heraufbeschwören, er nimmt sich Freiheiten in einer noch immer begrenzt freien Gesellschaft.

Die Hilflosigkeit des Einzelnen, dem Schatten entgegenzutreten, den der Zweite-Weltkrieg auf die Gegenwart der späten 1950er Jahre in Slowenien wirft, sowie die Flucht in phrasenhafte Großsprecherei und Alkohol, ist ein Marsch in die persönliche Selbstzerstörung. Politisch, gesellschaftlich hält sich der Fortschritt in Grenzen, ja, es gibt sogar Parallelen der Gegenwart zur Nazi-Zeit. Der Ledermantel markiert die Grenze der Verbesserungen, eine Geheimpolizei brauchten beide Regimes.

Wenn du einen dieser Typen im langen Ledermantel siehst, weißt du, der ist von der Gestapo, auch wenn er in Zivil ist. Du machst einen großen Bogen um ihn, damit er dich nicht irgendwas fragt. Aber auch heute gehen welche in Ledermänteln herum, das sind die von der Ozna, mit denen hast du besser auch nichts zu tun.

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Das Zitat zeigt schön, wie Jančar Ereignisse, Personen, Zusammenhänge einander gegenüberstellt und weder kommentierend noch belehrend für sich selbst sprechen lässt. Dabei hilft ihm die Perspektive Danijels, der aus einer naiven, manchmal altklugen Sicht erzählt; ein bekanntes, wirkungsmächtiges Vorgehen, in diesem Falle angereichert mit einigen originellen Stilmitteln.

Das »große Elend« eskaliert eines Abends, als ein Teilnehmer der Zusammenkunft die sowjetische Nationalhymne anstimmt. In (»Marschall«) Titos Jugoslawien war man auf Distanz und eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der UdSSR bedacht. Danijels Vater, vom Schlaganfall getroffen und beeinträchtigt, schwankt ins Schlafzimmer und holt eine Pistole (alle Ehemaligen haben noch ihre Waffen). Er feuert sie ab, wie um einen Eindringling zu vertreiben. Die Kugel fährt in die Decke.

Der Schuss bleibt nicht folgenlos, die Miliz kommt und nimmt die Waffe mit. Danijels Vater ist empört, man behandele ihn wie einen Kriminellen. Ob man dafür (gegen die Deutschen als Partisan) gekämpft habe, dass einem die Miliz die Waffen wegnähme? Der Waffenschein sei auch weg, Danijels Vater »sei Invalide, und jetzt obendrein noch ohne Pistole.« Der Kampf gegen die Unfreiheit dient als Begründung dafür, sich Freiheiten herauszunehmen.

Er dreht lange die Tasse in den Händen herum und schaut in den dunklen Schlick des Kaffeesatzes. Wie die Hellseherinnen, die in den Schlieren auf dem Boden das Schicksal eines Menschen sehen. Welches Schicksal wird er ohne Waffe haben? Wie wird er sich vor Feinden und Leuten schützen, die in seine Wohnung kommen, um die sowjetische Hymne abzusingen?

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Das Ganze mündet in einen grotesken Tagtraum, in dem Danijel sich vorstellt, wie sich sein Vater beschwert und der Herr Jugoslawiens, Marschall Tito, alles wieder geraderückt. Höchstpersönlich, wie ein guter König im Märchen. Lustig ist das nicht, sondern bedrückend und deprimierend mitanzusehen, wie erbärmlich Heroen des Widerstands im Nachkriegsalltag eines angeblichen sozialistischen Paradieses vegetieren.

Das andere, jenseitige Paradies des kirchlichen Christentums bildet den Kontrapunkt zu der herrschenden Ideologie, Sie wird von Danijels Vater schärfstens angefeindet und bekämpft, obwohl die eigene Frau eine fleißige Kirchgängerin ist. Ihr Sohn nimmt am Unterricht bei »Vater Aloisius« teil, wo er auf rüde, herrische Weise mit einer anderen, absoluten Wahrheit konfrontiert wird.

Eine Hilfe ist ihm das nicht, im Gegenteil. Die Kirche in Gestalt des dogmatischen Geistlichen und der frömmelnden Mutter zwingt Danijel in gruselige Situationen. In der Schule wird er von einer linientreuen Lehrerin als »Verräter« gegenüber seinem Land und seinem heldenhaften Vater regelrecht vorgeführt, beim Abendmahl, im Beichtstuhl und dem geistlichen Unterricht sind abweichende Gedanken und Fragen lästig, während das Ritual peinlich eingehalten werden muss, sonst drohen hochnotpeinliche Erlebnisse.

Beide Formen der Weltverschlichtung, die absolute Wahrheit für sich in Anspruch nehmen und komplexe Wirklichkeiten auf hohle Formeln reduzieren, werden im Verlauf der Handlung entzaubert; dank der großen, gelassenen Erzählweise in Drago Jančars Als die Welt entstand auf eine unaufdringliche Weise, die dem Leser das Denken überlässt. Widersprüche gibt es genug.

Die Welt entsteht, indem die bestehende zerbricht, ihre Gewissheiten, die Klarheit weichen der Unschärfe; sie fühlen sich wie Lügen an.

Drago Jančar: Als die Welt entstand

Da wäre Danijels Freund, dessen Vater im Krieg zur Wehrmacht eingezogen wurde und der ein Bein verloren hat, dafür aus Deutschland eine Rente bezieht, was den väterlichen Volksbefreiungskämpfer empört. Oder Professor Fabjan, der Deutsch an einer Schule unterrichtet hat, während Slowenien besetzt und Teil von Hitlers »Großdeutschland« war, aber russische Literatur schätzt, während seine Tätigkeit wie ein Brandmal nachwirkt.

Zwischen den beiden großen Mühlsteinen, dem sozialistischen und christlichen, ist Danijel eingeklemmt, eine Stütze sind sie ihm nicht, als er mit den menschlichen Widersprüchen konfrontiert wird. Als die Welt entstand erzählt, wie die Hauptfigur ihre Kindheit verlässt, das scheinbar sichere Fundament der Wahrheit gegen die Widersprüchlichkeit eintauscht und so die ersten Schritte in Richtung Erwachsenenleben macht.

Dabei geht es von Anfang an keineswegs um nur um Politik oder Gesellschaft. Die Welt entsteht für Danijel auch durch eine Dreiecksgeschichte in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Diese Liebesgeschichte endet tragisch, wie man schon den ersten Seiten entnehmen kann, auf den bereits vorausgenommen wird, dass es »heftig« werde und die Ereignisse den Junge regelrecht überrollt hätten. »Es« steht für die »große Geschichte des Lebens«, die Liebe.

[Rezensionsexemplar]

Drago Jančar: Als die Welt entstand
Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler
Paul Zsolnay Verlag 2023
Gebunden 276 Seiten
ISBN: 978-3-552-07358-6

Benedict Jacka: Der Magier von London

Auch der dritte Teil der Buchreihe ist ein schöner Schmöker. Bild Blanvalet, Cover mit Canva erstellt.

Unsterblichkeit. Im dritten Teil der Abenteuer um den Magier Alex Verus touchiert die Handlung dieses Phänomen. Mehr wird nicht verraten, über dem Was, Wie und Warum lasse ich den Schleier ungelüftet, aber diesen Hinweis möchte ich voranstellen: Zu allen Zeiten dürften die Menschen vom Gedanken an die Unsterblichkeit fasziniert gewesen sein. Was wären wir bereit zu tun, wenn das Überwinden der Sterblichkeit in greifbare Nähe rücken würde?

Kurioserweise hat J.R.R. Tolkien die Sterblichkeit als Geschenk Illuvaters an die Menschen bezeichnet – was für ein atemberaubender Gedanke! In Der Magier von London geht es in Bezug auf das Motiv eher klassisch zu, der Roman ist wie die beiden ersten Teile der Buchreihe sehr dynamisch, angereichert mit mehr oder weniger magisch aufgeladener Action und einem wirklich sehr gelungenen Ende.

Die Hauptfigur, Alex Verus, ist selbstverständlich weiter ganz der alte, hat sich aber ein wenig weiterentwickelt. Wesentlich dafür ist seine Mitstreiterin Luna, seit diesem Band Lehrling. Sie kämpft mit ihrer neuen Rolle genauso wie mit der Beherrschung ihres Fluchs anderen Wirrungen. Beides sorgt für hübsche Wendungen in der Handlung.

Zugleich hat Jacka glücklicherweise darauf verzichtet, nach jedem Band den literarischen Reset-Knopf zu drücken – die Ereignisse aus den ersten Teilen wirken nach und bestimmen das Verhältnis von Verus zu den Magiern und Institutionen seiner Welt. Die wird dankenswerterweise auch noch ein Stück weiter, denn neue Bekanntschaften und Begegnungen sorgen dafür, dass sich die Interaktionen und Beziehungen nicht nur in ausgetretenen Pfaden bewegen.

Ganz besonders gelungen finde ich diesen Roman, dass er entlang der Auflösung eines recht komplexen, zunächst undurchschaubaren Rätsels erzählt wird, das dank verschiedener Parteien mit gleichlaufenden und gegensätzlichen Zielen ebenso verschlossen wie verwirrend ist. Stück für Stück kommen Verus und seine Mitstreiter bei der Auflösung voran und geraten in haarsträubende Gefahren.

Ein ganz wunderbarer Schmöker, der viel Vorfreude auf den nächsten Band weckt.

Weitere Teile der Reihe um Alex Verus, die ich besprochen habe:
Das Labyrinth von London
Das Ritual von London.

Benedict Jacka: Der Magier von London
Aus dem Englischen von Michelle Gyo
Blanvalet 2019
Taschenbuch 416 Seiten
ISBN: 978-3-7341-6234-3

Florent Silloray: Capa

Eine gelungene Graphic-Novel über den weltberühmten Kriegsfotografen, man erkennt seine Bilder wieder, aus einer anderen Perspektive. Cover Kenesbeck-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Seit dem herausragenden Roman Der Schlachtenmaler von Arturo Peréz-Reverte bin ich für das Thema Kriegsfotographie sensibilisiert. Robert Capa, bürgerlich Endre Friedmann, geboren 1913 in Budapest, war wohl einer der bekanntesten Könner seines Fachs. Die Graphic-Biography von Florent Silloray zeichnet das Leben des Kriegsfotographen überwiegend linear nach, einzelne Rückblenden sind eingestreut.

Was für ein Lebensweg! Die Bilderzählung setzt 1936 ein, als Robert Capa von seiner Freundin Gerda erfunden wird, um das Leben in bitterer Armut durch einen Trick zu beenden: Endres soll vorgeben, er wäre ein amerikanischer Fotograf, Gerda mimt dessen Agentin. Damit soll es gelingen, die Tarife anzuheben, die Fotograph Endres bislang fordern kann.

Das Unternehmen klappt – zeitweise – und bringt wichtige Kontakte, Aufträge und Perspektiven. Im gleichen Jahr geht es nach Barcelona, hinein in den Spanischen Bürgerkrieg, den ersten der folgenden 18 Jahre, die Endres / Capa noch bleiben. Denn 1954 wird er bereits sterben, in Indochina, dicht an der Front, im Kampfeinsatz mit einer französischen Einheit, bei dem er auf eine Mine tritt.

Die Zeit dazwischen mit ihren globalen Kriegshandlungen erlebt der Leser dieser Graphic-Biography recht atemlos, dank der verknappten, unpathetischen, ereignisorientierten Darstellung. Es gibt Auszeiten, vor allem in Hollywood, als Capa heimlich mit dem Weltstar Ingrid Bergmann liiert ist, aber auch später in Frankreich, als es ihm gelungen ist, eine Fotoagentur zu gründen, um die individuelle Abhängigkeit des Kreativen von den Zeitungen zu brechen.

Die Schattenseiten dieses Mannes bleiben nicht verschwiegen. Alkohol, Kartenspiel mit hohen Spielschulden; sein Dämon in Gestalt des tragischen Schicksals Gerdas, das ihm eine Bindungshemmung hinterlässt. Silloray breitet das vor den Augen des Lesers ebenso aus, wie die grauenhaften Erfahrungen, die Capa 1944 in der Normandie macht.

Natürlich ist sein berühmtes Bild vom sterbenden Milizionär auf dem Schlachtfeld des Spanischen Bürgerkrieges zu sehen – aber aus einer ganz anderen Perspektive, die den Fotographen bei seinem Schnappschuss zeigt. Nicht nur das ist großartig, denn auf eine ganz besonders gelungene Weise fängt Silloray das Leben dieses Mannes ein, der eben auch ein Migrant war, wurzel- und staatenlos.

Florent Silloray: Capa
Knesebeck 2017
Hardcover 90 Seiten
ISBN: 978-3-95728-067-1

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