Der Wahlkampf in Deutschland läuft, die arg ins Straucheln geratene, tief gespaltene und in Teilen kurios gebärdende SPD macht sich daran, dass verbliebene Stimmvolk zu umgarnen. Die Pro-Ukraine-Fraktion wurde ausgedünnt und ein Ex-Fossil-Lobbyist exhumiert, der seinen politischen Ruhestand durch fortgesetzte Anbändelei mit einem diktatorischen Verbrecher versüßt hat.
Nach der »Klima-Kanzler«-Groteske von 2021 folgt nun also ein Angstwahlkampf um den »Friedens-Kanzler«. Die Realitäten, so bitter und schmerzlich sie sein mögen, werden durch Nebelwerfen und Sand-in-die-Augen-streuen verwischt, auf dem Rücken der Ukrainer, die sich nun schon fast drei Jahre gegen Russland wehren. Das wird sich bitter rächen. Das hätte es schon einmal, wenn man auf die Friedens-Schwärmer in den 1930er Jahren gehört hätte.
Hitler wollte Krieg. Trotz der bereits begangenen Verbrechen und diktatorischen Maßnahmen, dem Landraub und Bruch von Völkerrecht, der Unterstützung Francos im Spanischen Bürgerkrieg, trotz des Überfalls auf Polen und der unsäglichen Gräueltaten, die selbst deutsche Soldaten erschütterten (Wilm Hosenfeld) gab es im Oktober 1939 in den USA Diskussionen um Waffenlieferungen an England. Kommt bekannt vor? Ein kurzer und prägnanter Beitrag dazu unter dem Titel Stoppt die Waffenlieferungen! auf dem Blog Aisthesis.
Die heutigen Realitäten werden auch von anderen mit recht schonungsloser Offenheit beschrieben. Wer von einem »eingefrorenen Konflikt« salbadert, macht sich zum Propaganda-Knecht. Acht Jahre haben die Menschen im Osten der Ukraine in einem solchen Zustand gelebt, der eben doch ein Krieg war und nichts anderes. Man kann davor die Augen verschließen oder einmal die Betroffenen zur Wort kommen lassen. Internat von Serhij Zhadan schildert einen vor sich hin köchelnden Krieg besonders eindringlich.
Der Krieg würde weitergehen, denn Putin führt nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen den Westen Krieg. Er wird nicht aufhören. An der Seite des Kreml-Herrschers steht eine ganze Riege von Autokraten, die sich gegenseitig unterstützen. Seit dem 05. November 2024 ist der Schatten der Tyrannei noch ein gutes Stück dunkler geworden, doch auch vorher haben viele Bewohner des Westens keine allzu rühmliche Rolle gespielt. Sie sind Steigbügelhalter geworden, wie Anne Applebaum in ihrem ganz vorzüglichen Buch Die Achse der Autokraten aufzeigt.
Das Buch Applebaums macht auch wenig Hoffnung für den Wahlkampf in Deutschland. Schmutzkampagnen sind sehr wirkungsvoll, in Autokratien wie auch in Demokratien (die vielleicht einmal Autokratie werden wollen). Wir erleben das tagtäglich, die Folgen zeigen sich bereits in den Umfragen. Die Kampagnen werden an Schärfe zunehmen. Leider sind die Gegenmittel schwach, Faktenchecks wirkungslos; wenn die Lüge in der Welt ist, bleibt sie dort.
Hinwegträumen lässt sich das alles nicht.
Kurzbesprechung der November-Bücher
Joe Leaphorn und Jim Chee ermitteln gemeinsam! Tony Hillerman setzt das Aufeinandertreffen der beiden Navajo-Polizisten großartig in Szene, indem er die erste Begegnung in sechsten Teil der Buchreihe um die Navajo-Police einfach überspringt. Die Begegnung der bis dahin allein ermittelnden Polizisten wird auch überraschend eingeleitet. So viel darf verraten werden, denn gemessen am Rest, den Stunde der Skinwalker zu bieten hat, ist das letztlich eine Petitesse. Die »Skinwalker«, also »Hexer«, sind viel mehr als nur folkloristisches Beiwerk für einen Kriminalfall. Wie schon in den Vorgängerbänden führen die geisterhaften Schrecken direkt hinein in die Suche nach Motiven, erschweren zugleich die Aufklärung der Verbrechen und betreffen einen der beiden Ermittler auch persönlich.
Eduard von Keyserling gilt als vergessener Schriftsteller aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Klaus Modick habe ich es zu verdanken, dass ich gelegentlich eines seiner Werke lese: Der Roman Keyserlings Geheimnis hat mir die Person des Erzählers und sein interessantes künstlerisches Umfeld sowie die bemerkenswerte Herkunft aus einer von der Zeit verschluckten Community (Deutschbalten) nähergebracht. Seine Erzählung Am Südhang liest sich in jeder Hinsicht typisch, ein zum Leutnant beförderter Adeliger kehrt in seiner Heimat aufs Land zurück. Neben der Familie, Erinnerrungen und dem Sommer erwarten ihn eine von ihm verehrte Frau und ein Duell. Ein kleiner literarischer Genusshappen für zwischendurch.
Mit dem von mir sehr geschätzten Historiker Christopher Clark habe ich mich auf eine lange Reise durch die Geschichte Preußens begeben. Sein umfangreiches Buch Preußen – Aufstieg und Niedergang 1600 bis 1945 bietet nicht nur in geballter Form zahlreiche Informationen über diesen höchst merkwürdigen Staat, sondern räumt auch mit einer ganzen Reihe von hartnäckigen Mythen auf. Wie schon in Die Schlafwandler und Frühling der Revolution erzählt Clark mit einer erfreulichen Klarheit, ohne gewundenes Gelehrten-Gedröhn. Bei einem derart ausgreifenden Unternehmen muss zwangsweise die nötige Tiefe fehlen, sonst wäre das Buch unlesbar. Doch ist es ein vorzüglicher Schmöker, weil es sich auf das Wesentliche beschränkt und – ganz wichtig – nicht nur auf die Zeit nach 1914 fokussiert bleibt, sondern die lange Entwicklung beschreibt. Clarks zentrale These lautet: Deutschland sei nicht die Vollendung Preußens, sondern sein Verhängnis gewesen.
Was für ein Schatz! Es ist das Jahr 1941, Spätfrühling, Ende Mai oder Anfang Juni. Ein Fluss in Polen trennt Wehrmacht und Rote Armee, rollende Kolonnen zeugen vom dräuenden Unheil des Vernichtungskrieges. Diese Grenze wird von einem Mann in beide Richtungen überschritten, er transportiert Flüchtlinge, Schmuggler und Partisanen. Wechselnde Perspektiven in der Vergangenheit sowie ein Erzähler mit seinem dementen Vater in der Gegenwart machen den Roman Grenzfluss von Andrzej Stasiuk ebenso spannend wie herausfordernd, sprachlich und atmosphärisch brillant. Es erzählt von jenen, die in den Bloodlands zwischen Hammer und Amboss gerieten, aber auch davon, was erinnert wurde und was verschwiegen aus der Zeit des Krieges. Eines meiner »Bücher des Jahres« 2024.
Das zweite Buch von Anne Applebaum in diesem Jahr. Nach Die Verlockung des Autoritären geht es nun um Die Achse der Autokraten. Wieder scheut die Autorin die klare, zugespitzte Sprache nicht, was die Lektüre angenehm eindeutig macht. Sie nennt Ross und Reiter, die Liste der Autokraten und ihrer Helfer in den demokratischen Ländern ist lang. Es ist das Gegenteil eingetreten, was man sich unter Demokraten Anfang der 1990er Jahre ausgemalt hatte. Statt einer globalen Demokratisierungswelle rollt eine autokratische Gegenreformation. Aufstände, Demokratiebewegungen und Modernisierung werden ebenso gnadenlos wie effizient unterdrückt. Warum das so ist und was man dagegen tun könnte und müsste, schildert Applebaum mit schonungsloser Offenheit. Es wird eine Dauerschlacht bergan, nicht erst seit dem 05. November 2024.
Der Dystopie-Roman Born von Kris Brynn enttäuscht. Ein Thriller, wie ihn die Gattungsbezeichnung verspricht, ist Born nicht, die Handlung ist recht dynamisch und wendungsreich, aber der Thrill will sich nicht einstellen. Immerhin ist die Welt, in der Taxifahrerin Nalani unterwegs ist, durchaus interessant angelegt und böte die nötigen inhaltlichen Schwungräder für die Erzählung; sie bleiben ungenutzt. Sehr schön ist das Hologramm auf dem Beifahrersitz gelungen, Fergus sorgt für Komik und groteske Dialoge. Einige andere Figuren wirken gegenüber dem Hologramm eher wie Skizzen, denen man ihre Handlungsweise und Persönlichkeit nicht recht abnehmen möchte. Verschenktes Potenzial.
Blog-Gestöber
Vor einigen Jahrzehnten habe ich ihn gelesen, den Roman Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin. Es wird allerhöchste Zeit, sich das Buch wieder einmal vorzunehmen, das hat mir nicht zuletzt der schöne Beitrag von Julian Zündorf auf seinem Blog lectorinfabula gezeigt. Sein Beitrag Biberkopf in Babylon ist ausgesprochen lesenswert. Zu meiner großen Freude habe ich dort auch einen Text über den Roman Wallenstein gelesen, denn die Abhandlung zu Berlin Alexanderplatz ist Teil eines Leseprojektes zu Döblin. Äußerst anregende Bloglektüre!
Von Virginia Woolfe habe ich noch nichts gelesen, eigentlich eine Schande. Auf einer meiner zahlreichen Lese-Listen steht ein Büchlein von ihr – über das Lesen. Nun hat mit der Blog-Beitrag Mrs. Dalloway auf den gleichnamigen Roman neugierig gemacht. Von den Referenz-Romanen sind mir Ulysses und Berlin Alexanderplatz bekannt, ich mochte beide sehr gern. Das wäre also eine weitere Möglichkeit, eine Lese-Lücke zu schließen. Ob ich mir den Roman im Original zutraue? Eher nicht.
Heilfroh bin ich, dass es so fleißige Bloggerinnen gibt, die über Buchmessen, Preisverleihungen und Lesungen schreiben. Wer etwas über die aktuell Literatur-Nobelpreisträgerin Han Kang und ihre Bücher erfahren möchte, wird bei literaturleuchtet fündig. Bei literaturreich gibt es einen schönen Bericht zur Frankfurter Buchmesse 2024. Ich war noch nie auf einer Buchmesse und bin immer wieder an Eindrücken interessiert.