Alexander Preuße

Schriftsteller - Buchblogger

Blogmonat November 2024

Gleich zwei Kandidaten für meine Auswahl »Bücher des Jahres 2024« habe ich im November ausgelesen, Grenzfahrt und Die Achse der Autokraten. Christopher Clarks großartiges Buch über Preußen war ein Genuss, Hillermans Navajo-Police ist eine Bank.

Der Wahlkampf in Deutschland läuft, die arg ins Straucheln geratene, tief gespaltene und in Teilen kurios gebärdende SPD macht sich daran, dass verbliebene Stimmvolk zu umgarnen. Die Pro-Ukraine-Fraktion wurde ausgedünnt und ein Ex-Fossil-Lobbyist exhumiert, der seinen politischen Ruhestand durch fortgesetzte Anbändelei mit einem diktatorischen Verbrecher versüßt hat.

Nach der »Klima-Kanzler«-Groteske von 2021 folgt nun also ein Angstwahlkampf um den »Friedens-Kanzler«. Die Realitäten, so bitter und schmerzlich sie sein mögen, werden durch Nebelwerfen und Sand-in-die-Augen-streuen verwischt, auf dem Rücken der Ukrainer, die sich nun schon fast drei Jahre gegen Russland wehren. Das wird sich bitter rächen. Das hätte es schon einmal, wenn man auf die Friedens-Schwärmer in den 1930er Jahren gehört hätte.

Hitler wollte Krieg. Trotz der bereits begangenen Verbrechen und diktatorischen Maßnahmen, dem Landraub und Bruch von Völkerrecht, der Unterstützung Francos im Spanischen Bürgerkrieg, trotz des Überfalls auf Polen und der unsäglichen Gräueltaten, die selbst deutsche Soldaten erschütterten (Wilm Hosenfeld) gab es im Oktober 1939 in den USA Diskussionen um Waffenlieferungen an England. Kommt bekannt vor? Ein kurzer und prägnanter Beitrag dazu unter dem Titel Stoppt die Waffenlieferungen! auf dem Blog Aisthesis.

Die heutigen Realitäten werden auch von anderen mit recht schonungsloser Offenheit beschrieben. Wer von einem »eingefrorenen Konflikt« salbadert, macht sich zum Propaganda-Knecht. Acht Jahre haben die Menschen im Osten der Ukraine in einem solchen Zustand gelebt, der eben doch ein Krieg war und nichts anderes. Man kann davor die Augen verschließen oder einmal die Betroffenen zur Wort kommen lassen. Internat von Serhij Zhadan schildert einen vor sich hin köchelnden Krieg besonders eindringlich.

Der Krieg würde weitergehen, denn Putin führt nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen den Westen Krieg.  Er wird nicht aufhören. An der Seite des Kreml-Herrschers steht eine ganze Riege von Autokraten, die sich gegenseitig unterstützen. Seit dem 05. November 2024 ist der Schatten der Tyrannei noch ein gutes Stück dunkler geworden, doch auch vorher haben viele Bewohner des Westens keine allzu rühmliche Rolle gespielt. Sie sind Steigbügelhalter geworden, wie Anne Applebaum in ihrem ganz vorzüglichen Buch Die Achse der Autokraten aufzeigt.

Das Buch Applebaums macht auch wenig Hoffnung für den Wahlkampf in Deutschland. Schmutzkampagnen sind sehr wirkungsvoll, in Autokratien wie auch in Demokratien (die vielleicht einmal Autokratie werden wollen). Wir erleben das tagtäglich, die Folgen zeigen sich bereits in den Umfragen. Die Kampagnen werden an Schärfe zunehmen. Leider sind die Gegenmittel schwach, Faktenchecks wirkungslos; wenn die Lüge in der Welt ist, bleibt sie dort.

Hinwegträumen lässt sich das alles nicht. 

Aktuell bin ich noch mit »Verräter« – Piratenbrüder Band 6 beschäftigt, das auf die Zielgerade eingebogen ist. Gedanklich beschäftige ich mich schon mit der Zeit danach. Es wird ein Sequel geben, wie ich es beim Schreiben von »Vinland « – Piratenbrüder Band 4 von Anfang an erwogen hatte. Mehr dazu habe ich in einem Blogbeitrag geschildert.

Kurzbesprechung der November-Bücher

Joe Leaphorn und Jim Chee ermitteln gemeinsam! Tony Hillerman setzt das Aufeinandertreffen der beiden Navajo-Polizisten großartig in Szene, indem er die erste Begegnung in sechsten Teil der Buchreihe um die Navajo-Police  einfach überspringt. Die Begegnung der bis dahin allein ermittelnden Polizisten wird auch überraschend eingeleitet. So viel darf verraten werden, denn gemessen am Rest, den Stunde der Skinwalker zu bieten hat, ist das letztlich eine Petitesse. Die »Skinwalker«, also »Hexer«, sind viel mehr als nur folkloristisches Beiwerk für einen Kriminalfall. Wie schon in den Vorgängerbänden führen die geisterhaften Schrecken direkt hinein in die Suche nach Motiven, erschweren zugleich die Aufklärung der Verbrechen und betreffen einen der beiden Ermittler auch persönlich.

Eduard von Keyserling gilt als vergessener Schriftsteller aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Klaus Modick habe ich es zu verdanken, dass ich gelegentlich eines seiner Werke lese: Der Roman Keyserlings Geheimnis hat mir die Person des Erzählers und sein interessantes künstlerisches Umfeld sowie die bemerkenswerte Herkunft aus einer von der Zeit verschluckten Community (Deutschbalten) nähergebracht. Seine Erzählung Am Südhang liest sich in jeder Hinsicht typisch, ein zum Leutnant beförderter Adeliger kehrt in seiner Heimat aufs Land zurück. Neben der Familie, Erinnerrungen  und dem Sommer erwarten ihn eine von ihm verehrte Frau und ein Duell. Ein kleiner literarischer Genusshappen für zwischendurch.

Mit dem von mir sehr geschätzten Historiker Christopher Clark habe ich mich auf eine lange Reise durch die Geschichte Preußens begeben. Sein umfangreiches Buch Preußen – Aufstieg und Niedergang 1600 bis 1945 bietet nicht nur in geballter Form zahlreiche Informationen über diesen höchst merkwürdigen Staat, sondern räumt auch mit einer ganzen Reihe von hartnäckigen Mythen auf. Wie schon in Die Schlafwandler und Frühling der Revolution erzählt Clark mit einer erfreulichen Klarheit, ohne gewundenes Gelehrten-Gedröhn. Bei einem derart ausgreifenden Unternehmen muss zwangsweise die nötige Tiefe fehlen, sonst wäre das Buch unlesbar. Doch ist es ein vorzüglicher Schmöker, weil es sich auf das Wesentliche beschränkt und – ganz wichtig – nicht nur auf die Zeit nach 1914 fokussiert bleibt, sondern die lange Entwicklung beschreibt. Clarks zentrale These lautet: Deutschland sei nicht die Vollendung Preußens, sondern sein Verhängnis gewesen.

Was für ein Schatz! Es ist das Jahr 1941, Spätfrühling, Ende Mai oder Anfang Juni. Ein Fluss in Polen trennt Wehrmacht und Rote Armee, rollende Kolonnen zeugen vom dräuenden Unheil des Vernichtungskrieges. Diese Grenze wird von einem Mann in beide Richtungen überschritten, er transportiert Flüchtlinge, Schmuggler und Partisanen. Wechselnde Perspektiven in der Vergangenheit sowie ein Erzähler mit seinem dementen Vater in der Gegenwart machen den Roman Grenzfluss von Andrzej Stasiuk ebenso spannend wie herausfordernd, sprachlich und atmosphärisch brillant. Es erzählt von jenen, die in den Bloodlands zwischen Hammer und Amboss gerieten, aber auch davon, was erinnert wurde und was verschwiegen aus der Zeit des Krieges. Eines meiner »Bücher des Jahres« 2024.

Das zweite Buch von Anne Applebaum in diesem Jahr. Nach Die Verlockung des Autoritären geht es nun um Die Achse der Autokraten. Wieder scheut die Autorin die klare, zugespitzte Sprache nicht, was die Lektüre angenehm eindeutig macht. Sie nennt Ross und Reiter, die Liste der Autokraten und ihrer Helfer in den demokratischen Ländern ist lang. Es ist das Gegenteil eingetreten, was man sich unter Demokraten Anfang der 1990er Jahre ausgemalt hatte. Statt einer globalen Demokratisierungswelle rollt eine autokratische Gegenreformation. Aufstände, Demokratiebewegungen und Modernisierung werden ebenso gnadenlos wie effizient unterdrückt. Warum das so ist und was man dagegen tun könnte und müsste, schildert Applebaum mit schonungsloser Offenheit. Es wird eine Dauerschlacht bergan, nicht erst seit dem 05. November 2024.

Der Dystopie-Roman Born von Kris Brynn enttäuscht. Ein Thriller, wie ihn die Gattungsbezeichnung verspricht, ist Born nicht, die Handlung ist recht dynamisch und wendungsreich, aber der Thrill will sich nicht einstellen. Immerhin ist die Welt, in der Taxifahrerin Nalani unterwegs ist, durchaus interessant angelegt und böte die nötigen inhaltlichen Schwungräder für die Erzählung; sie bleiben ungenutzt. Sehr schön ist das Hologramm auf dem Beifahrersitz gelungen, Fergus sorgt für Komik und groteske Dialoge. Einige andere Figuren wirken gegenüber dem Hologramm eher wie Skizzen, denen man ihre Handlungsweise und Persönlichkeit nicht recht abnehmen möchte. Verschenktes Potenzial.

Blog-Gestöber

Vor einigen Jahrzehnten habe ich ihn gelesen, den Roman Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin. Es wird allerhöchste Zeit, sich das Buch wieder einmal vorzunehmen, das hat mir nicht zuletzt der schöne Beitrag von Julian Zündorf auf seinem Blog lectorinfabula gezeigt. Sein Beitrag Biberkopf in Babylon ist ausgesprochen lesenswert. Zu meiner großen Freude habe ich dort auch einen Text über den Roman Wallenstein gelesen, denn die Abhandlung zu Berlin Alexanderplatz ist Teil eines Leseprojektes zu Döblin. Äußerst anregende Bloglektüre!

Von Virginia Woolfe habe ich noch nichts gelesen, eigentlich eine Schande. Auf einer meiner zahlreichen Lese-Listen steht ein Büchlein von ihr – über das Lesen. Nun hat mit der Blog-Beitrag Mrs. Dalloway auf den gleichnamigen Roman neugierig gemacht. Von den Referenz-Romanen sind mir Ulysses und Berlin Alexanderplatz bekannt, ich mochte beide sehr gern. Das wäre also eine weitere Möglichkeit, eine Lese-Lücke zu schließen. Ob ich mir den Roman im Original zutraue? Eher nicht.

Heilfroh bin ich, dass es so fleißige Bloggerinnen gibt, die über Buchmessen, Preisverleihungen und Lesungen schreiben. Wer etwas über die aktuell Literatur-Nobelpreisträgerin Han Kang und ihre Bücher erfahren möchte, wird bei literaturleuchtet fündig. Bei literaturreich gibt es einen schönen Bericht zur Frankfurter Buchmesse 2024. Ich war noch nie auf einer Buchmesse und bin immer wieder an Eindrücken interessiert.

Piratenbrüder – Sequel

Der Weg Eillirs und des Wikinger-Fürsten Stígandr wurde in Vinland – Piratenbrüder Band 4 soweit erzählt, wie es für die Geschichte um die Piratenbrüder Joshua und Jeremiah wichtig war. Was danach geschah, bleibt einem eigenständigen Roman vorbehalten, einem Sequel der Piratenbrüder-Serie.

Vinland – Piratenbrüder Band 4 hat ein offenes Ende. Im Rahmen einer Buchserie ist das wenig verwunderlich, Joshua und Jeremiah werden in drei weiteren Büchern Abenteuer zu bestehen haben. Was ist aber mit den Wikingern um Stígandr, Rydr und Eillir, deren Geschichte parallel auf einer zweiten Zeitebene erzählt wird? Auch hier kommt die Erzählung zu einem Ende, das eine Fortsetzung offensichtlich nahelegt.

Die große Fahrt Stígandrs nach Westen ist beendet. Alles, was für die Handlung der Piratenbrüder wichtig ist, wurde erzählt. Der Leser weiß, woher diese ominöse Karte stammt, die Erik zu Beginn von Vinland als Wegweiser zu einem geheimnisvollen Schatz präsentiert hat. Der Leser weiß auch, ob es den Schatz wirklich gibt und – wenn ja – was er enthält. Wie es danach weitergeht mit der Geschichte, bleibt offen. Eine große Leerstelle tut sich auf, die gefüllt werden möchte.

Stígandr hegt große Pläne, Ryldr will ihm dabei zur Seite stehen und aus persönlichen Gründen Rache nehmen, während Eillir gar keine andere Wahl hat, als die beiden zu begleiten. Gern wüsste man auch, welches Schicksal den starken Frauen Werengis und Aldis beschieden ist; wie Agda sich in ihrem neuen Leben zurechtfindet. Und dann ist da noch Berengar von Werra, der Tyske aus dem Reich der Ostfranken. Schließlich umgibt Eillirs Herkunft noch ein dichter Nebel.

Die Leser möchten wissen, wie es weitergeht. Mehrfach bin ich ermuntert worden, die Geschichte um Eillir weiterzuerzählen. Zum Glück habe ich das schon beim Schreiben von Vinland erwogen. Kaum war die erste, grobe Version getippt, habe ich mir Gedanken über eine Fortschreibung der Geschichte um »meine« Wikinger gemacht. Ich habe recherchiert und eine Skizze mit wichtigen Figuren und Konfliktlinien eines Historischen Romans erstellt.

Vielleicht hat mancher Leser auch erwartet, ich würde im fünften Teil der Piratenbrüder-Serie wieder auf zwei Zeitebenen schreiben. Möglicherweise sind sogar einige enttäuscht darüber, dass es jetzt »nur« mit den Piratenbrüdern weitergeht. Alles andere wäre jedoch keine gute Idee gewesen. Vinland hat das erzählt, was beide Zeiten miteinander verbindet; danach gehen beide Geschichten eigene Wege. Die Berührungspunkte, die es zwischen Piraten und Wikingern historisch gegeben hat, sind auserzählt.

Der Roman hat ein offenes Ende, was das Schicksal der Wikinger um Eillir, Stígandr und Ryldr anbelangt. Von Anfang an hatte ich die Idee, die Geschichte in einem eigenständigen Roman zu erzählen. Das ist mein nächstes Roman-Projekt.

Was Stígandr, Eillir und Ryldr erwartet, würde auch den Erzählrahmen völlig sprengen. In Vinland habe ich schon einige Themen und Motive angedeutet, die eine Rolle spielen werden. Da wären etwa die Kriege in den nordischen Ländern um die Macht, aber auch der Kampf um die Krone in England. Sven Gabelbart (was für ein toller Name!) hat sich dem Ziel verschrieben, König zu werden. Wie das historisch endete und was danach folgte, kann man auf Wikipedia kurz nachlesen.

Meine Wikinger erwartet jedenfalls ein Hexenkessel, so viel sei an dieser Stelle verraten. Das soll und muss mit einem eigenen Roman gewürdigt werden.

Nach Beendigung des letzten Romans um die Piratenbrüder werde ich mich zunächst um diesen Wikinger-Roman kümmern und danach der epischen High-Fantasy-Serie widmen. Da in der Fantasy-Welt auch eine Art »Nordmänner« ihr Unwesen treibt, ist die Recherche für den Wikinger-Roman gleich ein wenig Vorgriff auf das Fantasy-Abenteuer.

Der Wikinger-Roman wird weniger Jugendbuch sein als die Piratenbrüder, allerdings werde ich weiterhin Zurückhaltung üben, wenn es um Schlachten, Kämpfe und Sex geht. Die brutale Grausamkeit der Zeit will ich selbstverständlich nicht verschweigen, aber das geht auch ohne explizite oder blutrünstige Schilderungen. Wer so etwas will, wird anderswo fündig.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Der Fluss spielt im brillanten Roman Grenzfahrt eine wichtige Rolle. Er trennte bis zum 22. Juni 1941 Wehrmacht und Rote Armee, ehe das apokalyptische Unternehmen »Barbarossa« seinen Anfang nahm. Cover Suhrkamp-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Keine eigene Geschichte, nur die der anderen. Der Russen, der Deutschen. Sie waren gekommen, hatten Schutt und Asche hinterlassen und waren wieder gegangen.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Große Teile des Romans werden aus einer mittleren Perspektive erzählt. Zwar ist der Ort in Polen gelegen, doch könnte man das alles auch auf ganz Mittelosteuropa beziehen. Dazwischen. Hier die Deutschen, dort die Sowjets, Hammer und Amboss, alle anderen dazwischen. An einem Fluss, der die beiden Gebiete trennt. Die Gegend am Fluss präsentiert als geschichtsloser Raum, den die anderen, die Russen und Deutschen, gefüllt haben.

Die Geschehnisse spielen im Spätfrühling 1941, es ist Ende Mai, Anfang Juni, der nahende Vernichtungskrieg, die große Blutmühle des 20. Jahrhunderts liegt bereits schwer in der warmen und heißen Luft. Geschütze stehen von Tarnnetzen verborgen im Garten, Panzer, Opel Blitz, Motorräder und marschierende Infanterie wirbeln Staub auf, der große Aufmarsch ist im Gange. Auf der anderen Flussseite Bunker, Wachen, Patrouillen. Nachts erhellen Leuchtraketen den dunklen Himmel.

In diesem seltsamen Zwischenraum zu dieser Zwischenzeit vor dem hereinbrechenden Verhängnis tummeln sich die unterschiedlichsten Menschen, die sich unter gewöhnlichen Umständen nie getroffen hätten. Dörfler, Bauern, Hirten; Partisanen mit großen Reden und brutalem Verhalten; Schmuggler; Fliehende, oft Juden, die nach Osten wollen; Rückkehrer aus dem Osten, weil dort auch kein Ort zum Überleben ist.

Eine der Hauptpersonen ist der Fährmann, der in dunklen Nächten sein bereits vor dem Krieg betriebenes Geschäft fortführt. Er lässt sich für das große Risiko bezahlen, ist aber ein ehrlicher Mensch, betrügt seine menschliche Fracht nicht. Er arbeitet auf dem Fluss, dem Dazwischen, pendelt und gerät auch in anderer Hinsicht zwischen die Fronten. Eine lebensbedrohliche Lage für ihn, in einer Zeit, in der das einzelne Leben seinen Wert eingebüßt hat.

Er betrachtete die Spuren der Raupe und begriff nicht, warum die Deutschen gekommen waren und warum sie weiterziehen wollten.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Erzählt wird in wechselnden Perspektiven. Die Sichtweisen sind zum Teil außergewöhnlich, wenn etwa jener hinterwäldlerische Dörfler staunend die Wehrmachts-Kolonnen betrachtet, völlig ahnungslos, woher die Deutschen kommen, was um alles in der Welt sie in seiner Heimat wollen und – ein noch größeres Rätsel – warum sich die Deutschen mit den Sowjets anlegen werden. Und ja, das fragt sich der Leser dann auch.

Stasiuk hat seinen Roman Grenzfahrt mit einer weiteren Zeitebene versehen, in der der Ich-Erzähler mit seinem Vater in ebenjener Gegend sich aufhält, Jahrzehnte später, wenn das große Vergessen alles in den Abgrund zieht, was damals dort geschehen ist. Die Spuren sind rar, das Bedürfnis des Ich-Erzählers, etwas über die Zeit zu erfahren, viel größer als die Neigung des Zeugen, davon zu berichten.

Eine magische Passage erzählt von einem Foto, das der Erzähler betrachtet. Ein „Bild aus jener Zeit“. Er beschreibt die Personen, die zu sehen sind, wohin sie schauen. Sie sehen Dinge, die man auf dem Foto nicht sieht, die aber trotzdem da sind. Der Ich-Erzähler weiß, dass vor dem Foto-Betrachter ein Fenster ist,  eine Tür, er kennt das Haus, hat früher aus dem Fenster geschaut. Trotzdem wusste der Ich-Erzähler lange nicht, was von der Landschaft, die er gesehen hat, noch verborgen ist.

Es kann sein, dass gut fünfzig Kilometer weiter schon die Feuer von Treblinka brennen.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Darüber wurde nicht gesprochen, nicht mit den Kindern. Der Erzähler hat seiner Großmutter zugesehen, wie sie ohne Licht in der Nacht die Kühe gemolken hat. Weiße Milch, ein ganzer Eimer voll aus dieser „tiefsten Finsternis“, die „tiefer als die Nacht selbst“ war. Wer denkt hier nicht an Celans berühmte Gedichtzeile aus der Todesfuge? Schwarze Milch der Frühe. Stasiuk hat seine Grenzfahrt auch zu einer Reise in poetische Bilder gemacht, die – passend zu dem, was in der Vergangenheit geschah – grundlegende Fragen der menschlichen Existenz berühren.

Heroisch ist nichts in diesem Roman. Das gilt auch für die Gruppe an Partisanen, die in der Gegend herumstreift und im Grunde genommen die Bevölkerung drangsaliert. Für den Kriegsverlauf hat das wirre Hin und Her keinerlei Bedeutung, manchmal wirkt die Gruppe wie Schuljungen, die Partisanen spielen. Sie zählen Wehrmachtsfahrzeuge und streiten sich, ob bestimmte Fahrzeuge Panzer sind oder nicht. Nie werden diese Informationen irgendwohin weitergeleitet.

Stasiuk lässt ihre Handlungen brutal, von großen, hohlen Worten umhallt und mit fürchterlichen Folgen erscheinen. Es gibt Tote, man hängt jemanden mit erschütternder scharfrichterlicher Inkompetenz. Ein ähnliches Fiasko ist auch der Versuch, ein Schwein zu töten. Im Grunde genommen sind alle Aktionen der Partisanen sinnlos, gefährlich nur für die Zivilbevölkerung. Eine Bande, Räuber, Marodeure statt heroischer Widerständler.

Der latente Antisemitismus schlägt immer wieder durch, was zwei jüdischen Flüchtlingen fast zum Verhängnis wird. Sie kommen aus der Stadt an den Fluss, in der Hoffnung, dem sicheren Tod im Herrschaftsraum der Deutschen zu entgehen, wenn sie auf die andere Seite, zu den Sowjets gelangen. Eine Illusion, wie so vieles in Grenzfahrt. Stattdessen kumuliert die Handlung in einer schrecklichen Missetat, während die letzten Minuten vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion verrinnen.

Große europäische Literatur.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Suhrkamp 2023
Gebunden, 368 Seiten
ISBN: 978-3-518-43126-9

Auf der Zielgeraden

Was für Aussichten! Doch welche »Mühlsteine« sind eigentlich gemeint? Und an wen richtet sich diese Auskunft mit drohendem Unterton? Antworten auf diese Fragen gibt es ab dem 20. September 2025 in »Verräter« – Piratenbrüder Band 6. Bild mit Canva erstellt.

Die intensivste Phase des Schreibens liegt hinter mir. Gemeint sind die letzten zwei, drei Wochen vor dem Einzug von Verräter – Piratenbrüder Band 6 ins Lektorat. Die Zielgerade auf dem Weg von der Rohfassung zum abgabefähigen Roman. Oft waren ganze Tage und Abende angefüllt mit Korrekturen, Überarbeitungen, Streichen und erneutem Schreiben von Absätzen, Seiten, manchmal auch ganzen Kapiteln. Notizen, digital oder Zettel oder in Notizbüchern, habe ich durchgesehen, verworfen oder eingepflegt. In den Nachtstunden, wenn der Schlaf unterbrochen war, drehte sich der Gedankenkreisel um ungeklärte Fragen, aufgeschobene Entscheidungen und ungelöste Rätsel.

In dieser Zeit gab es kaum Raum für andere Tätigkeiten. Selbst das Lesen fiel in den finalen Tagen schwer, die Gedanken kehrten so beharrlich zum Manuskript zurück, dass die Konzentration flüchtig war. Aus Erfahrung weiß ich, dass allzu fokussiertes Denken Blockaden auslosen kann. Die lassen sich durch etwas Abstand vermeiden oder schnell wieder lösen. Daher zwinge ich mich manchmal dazu, ein Buch zu lesen, obwohl mich doch alles danach drängt, weiter am Text zu arbeiten und ich immer wieder von der Lektüre abschweife. Ein Hörbuch ist auch hilfreich, um die irrlichternden Gedanken für einige Zeit beiseitezudrängen.

Dann war plötzlich das Ende da. Der Text war fertig für das Fegefeuer, auch bekannt unter dem Begriff Lektorat. Dahinter verbirgt sich ein radikaler Perspektivwechsel. Wochen- und monatelang war ich allein in meiner eigenen Schreibwelt unterwegs. Jetzt nimmt meine Lektorin den Text kritisch in Augenschein und – für mich eine durchaus überraschende Erfahrung – ich selbst ändere meinen Blick auf den Text. Es ist, als würde ich eine andere Brille aufsetzen, die nahe Schreib-Sicht durch eine fernere ersetzen.

Meine Lektorin ist nicht die erste Leserin. Die Rohfassung haben schon Testleser gelesen und ihre Anmerkungen gemacht, die mir viel Arbeit bescherten. Bei Verräter brauchte eine Testleserin mehrere Anläufe, um in die Geschichte hineinzukommen. Der Anfang war redundant, zu viel klang nach einer Wiederholung dessen, was ich am Ende von Totenschiff schon erzählt habe. Eine andere Rückmeldung war allzu überschwänglich, die Begründungen weckten meine Skepsis. Ein Lob als Kontraindikator – für mich ein Novum.

Beide Rückmeldungen waren sehr produktiv. Verräter hat einen neuen Beginn bekommen, schon auf der ersten Seite rutscht der Leser unmittelbar in die Geschichte mit ihren Rätseln und Wirrungen, er spürt drohendes Unheil. Bis das eintrifft, vergehen nur wenige Kapitel, in denen anders als in den Vorgängerbänden schon die Perspektive gewechselt wird. Erzählfäden aus dem Auftaktband Eine neue Welt greife ich wieder auf und bringe sie zu einem Ende. Verräter ist der vorletzte Teil der Buchserie, das tiefe (oft auch dramatische) Luftholen vor dem Finale Opfergang. Um den letzten Teil nicht zu überfrachten, enden schon jetzt einige Erzähllinien.

Verräter ist länger geworden. Allein vier Kapitel füllen eine Lücke in der Handlung und lassen meine Piratenbrüder an einem Seegefecht teilnehmen, einem Enterkampf in klassischer Piraten-Manier. In den ersten fünf Teilen gab es das nicht, was nicht zuletzt daran liegt, das Henry de Roche alias Elijah O’Stone alias Einauge das Piratendasein aufgegeben hat. Enterkämpfe verbieten sich daher – eigentlich. Aber Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sondern auch Kaperer. Hier bot sich mir die Möglichkeit, weitere lose Erzählfäden abschließend in die Geschichte einzuweben.

Das Lektorat wird den Text verkürzen. Einige Absätze und Kapitel sind ganz heiße Streichkandidaten. Leider bedeutet das Herausstreichen auch immer den Abschied von liebgewonnenen Ideen. Gegen den Abschiedsschmerz helfen Tricks. Ich versuche, die mir wichtigen Aspekte irgendwo anders unterzubringen und streiche die dann erst in einem späteren Durchgang. Teile und streiche.

Kürzen ist immens wichtig und schadet dem Text selten. Bei der Überarbeitung von Chatou musste ich die Erfahrung machen, dass allzu sorgloses Streichen tatsächlich schädlich sein kann. Die korrigierte zweite Auflage hat das Problem beseitigt.

Manchmal ist ein Abschnitt nicht etwa zu lang, sondern nicht ausreichend ausgearbeitet. Er ist also zu kurz, obwohl er wie eine »Länge« wirkt. Nach der verbesserten Ausarbeitung ist der Abschnitt länger, wirkt aber beim Lesen kürzer. In Verräter gibt es wenigstens zwei solcher Stellen, ganze Kapitel, die potenzielle Streichkandidaten sind.

Ich weiß das. Meine Lektorin weiß das auch. Trotzdem werden wir diskutieren, denn ein Lektorat ist auch eine Art Fußballspiel, das immer nur einen Sieger (Spoiler: es ist nicht der Herr Schriftsteller) kennt. Wolfgang Herrndorf hat das so wunderbar formuliert:

Passig und Gärtner in meiner Küche zum Lektorat. Die beiden verbünden sich sofort gegen mich, schon nach kurzer Zeit führen sie mit 8:1 bei den Änderungen […]

Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur

So ist es.

Bisher erschienen (auf das Cover klicken)

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Auf die beiden Herren geht die Autorin in ihrem Buch auch ein, sie verbindet mehr als nur ein Handschlag. Cover Siedler Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Schon auf den ersten Seiten dieses Buches ist der Leser ein Stück klüger und orientierter. Anne Applebaum betont gleich zu Anfang von Achse der Autokraten, dass sich hartnäckig eine karikaturhafte Vorstellung vom Alleinherrscher an der Spitze eines autokratischen Staates hält. Putin, Ji, Lukaschenko, Erdogan, Trump – die Liste der gegenwärtigen Autokraten ist lang. Doch ein Autokrat allein macht keine Autokratie.

Autokratien sind Netzwerke mit kleptokratischem Geschäftsmodell, die sich auf einen vielschichtigen Apparat stützen: Armee, paramilitärische Verbände, Polizei und andere Sicherheitsorgane wie Geheimdienste, unterstützt von High-Tech- und IT-Experten, die sich um Propaganda und Desinformation kümmern. Die Netzwerke sind nicht auf ein Land beschränkt, sondern mit Netzwerken anderer Länder verbunden. Das können auch Netzwerke in Demokratien sein, es müssen nicht einmal antidemokratische Parteien wie AfD oder BSW, Teile von Union und SPD gehören eben auch dazu.

Man unterstützt sich mit Ausrüstung, Ausbildung, Informationen; man nennt Ziele und hilft bei der Durchführung von Kampagnen; Medien und Trollfarmen werden dafür eingesetzt. Oder man sorgt für einen positiven Leumund, leistet Hilfestellung bei der Umgehung oder Aufweichung von Sanktionen. Auch aus persönlichen Gründen, denn Autokraten und ihre demokratischen Satrapen sind oft superreiche Unternehmer. Es dürfte kein Zufall sein, dass superreich gewordene Entrepreneure nicht selten autokratische Affinitäten hegen.

Die modernen Autokraten bezeichnen sich als Kommunisten, Monarchisten, Nationalisten und Theokraten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Ideologie spielt anders als im 20. Jahrhundert für die Kooperation keine Rolle. Geld stinkt nicht, weder in der Geschäftswelt noch in der Welt der Autokraten. Machterhalt ist das primäre politische Ziel, die Untergrabung einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung wäre andernfalls vielleicht auch gar nicht nötig. So aber gilt der freie Westen den Autokraten als Quelle für unerwünschte Inspiration für Widerstand gegen die alleinige, unkontrollierte Herrschaft.

Applebaum schildert auf schnörkellose und direkte Weite unsere Gegenwart, es geschieht seit Jahren und es geschieht jetzt. Einige Beispiele, Belarus und Venezuela, deren jüngste Geschichte skizziert werden, sind aus den Medien vertraut, die Akteure sind es ebenfalls. Doch geht die Autorin noch einen Schritt weiter und sagt mit einer Klarheit, die in oft verdruckst formulierenden Medien fehlt: Ohne die gegenseitige Unterstützung der Autokratien würde der Widerstand der eigenen Bevölkerung wohl ausreichen, um die alleinigen Herrscher zu stürzen.

Das ist ein Muster, was auch für den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine greift. Allein wäre Russland vielleicht schon in die Knie gegangen. So löchrig die Sanktionen auch sein mögen, so zögerlich und unzureichend die militärische und wirtschaftliche Unterstützung für die Ukraine auch ist, ohne die Hilfe anderer Autokratien, wäre Russlands Position sehr viel schwächer. Der Westen hilft der Ukraine also nicht nur gegen Russland, sondern gegen eine Achse der Autokraten.

Wie die Oppositionellen in Venezuela oder Belarus mussten sie allmählich erkennen, dass sie in der Ukraine nicht nur gegen Russland kämpften. Sie kämpften gegen die Achse der Autokraten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Bedeutend ist die Erkenntnis, dass Autokratien nur mit Hilfe des Westens an die Macht gelangen und diese konsolidieren können. Es sind westliche Technologien und vor allem das lückenhafte Regelwerk, die den Antidemokraten helfen. Ohne die Finanzierungsmöglichkeiten, etwa durch Geldwäsche, wäre die Macht von Autokraten wesentlich beschränkter, als sie es heute ist. Viele lassen sich einspannen, viele – nicht alle! – bezahlen, um Autokraten zu helfen.

Es sind nicht nur die autoritären Parteien, deren ideologische Zuschreibung als rechts oder links in diesem Punkt mehr verschleiert als erhellt; es sind nicht nur die Zuträger in anderen Parteien, die Einflussnehmer oder -agenten; es sind nicht nur die Interessenvertreter in Verbänden und Lobbyisten, die im Dienste der Putins, Mullahs und Xis stehen, sondern auch Anwälte, Banker, Gewerkschafter und Technologie-Oligarchen, die (fast) legal ihrer Tätigkeit nachgehen.

Hier sieht Applebaum auch einen Ansatzpunkt für die Wende im Kampf gegen die heraufziehende autokratische Dunkelheit: Regulierung. Die Autorin macht sich und ihren Lesern keine Illusionen. Das ist eine brutale Bergaufschlacht, deren Ausgang völlig ungewiss ist. In den USA weht der Wind in die entgegengesetzte Richtung. Doch nicht nur dort ist der Widerstand gegen gesetzliche Regulierungen groß. Ein Beispiel wäre die Verwendung von Bargeld in Deutschland beim Immobilienkauf, eine offene Tür für Geldwäsche, deren Einschränkung von mächtigen und ruchlosen Zeitgenossen bekämpft wird.

Die moderne Auseinandersetzung zwischen autokratischen und demokratischen Gedanken und Praktiken ist keine direkte Fortsetzung dessen, was wir im 20. Jahrhundert erlebt haben.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Zu den ganz besonders spannenden und ernüchternden Abschnitten gehört jener, der sich mit den Veränderungen autokratischer Herrschaft und Herrschaftssicherung befasst. Applebaum erklärt anhand mehrerer Beispiele, wie und was die Autokraten gelernt haben. Zumindest die Vorgänge in Hong-Kong dürften politisch Interessierte verfolgt haben. Die Aktivisten dort haben laut Applebaum sehr vieles richtig gemacht, vergangene Kampagnen studiert und an die lokale Lage angepasst. Sie haben auch gelernt – und sind krachend gescheitert.

Wenn man liest, wie es den Chinesen gelungen ist, die studentische Bewegung in Hong-Kong niederzuwerfen, wird es ungemütlich. Da ist zum einen der Anfang der 1990er Jahre vorherrschende Glaube, die demokratische Regierungsform werden sich quasi von allein durchsetzen. Das »Ende der Geschichte« (Fukuyama) hat sich als verhängnisvolle Illusion entpuppt, an der sich bis in die Gegenwart politische Parteien wie Teile der SPD klammern. Das Konzept »Handel durch Annäherung« oder später »Handel durch Wandel« ist mausetot, geistert aber als Wiedergänger durch die Berliner Korridore der Macht.

Das Beispiel Hong-Kong zeigt auch, wie sehr die Anhänger demokratischer Prinzipien die Lernfähigkeit der Autokraten und die Verlockung des Autoritären an sich unterschätzt haben. Die Autokraten sind überlegen. Sie nutzen die Möglichkeiten geschickter und ruchloser als westliche Demokraten. Ihre mediale Durchdringung Afrikas, des Mittleren Ostens, Südamerikas  zum Zwecke von Propaganda, Desinformation und Destabilisierung ist mächtiger als der naive Glaube, mit seriösen Nachrichten allein werde man bestehen.

In unseren alten Modellen ist kein Platz für die Einsicht, dass mansche Menschen Desinformationen wollen. Sie finden Gefallen an Verschwörungstheorien und haben wenig Interesse an zuverlässigen Nachrichten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Faktenchecks bringen nicht mehr viel, wenn eine Lüge in der Welt ist – was auch große, überregionale Medien, Tagezeitung und Öffentliche-Rechtliche-Medien nicht wahrhaben wollen. Sie lassen sich sogar ausnutzen, werden Plattformen, über die Propaganda in die Breite getragen und mit einem seriösen Anstrich versehen wird. Präventive Gegenkampagnen wären nötig, eine strategisch gezielte Medien-Öffentlichkeit (nicht gespiegelte Propaganda), die von den Menschen auch bezahlt und zur Kenntnis genommen werden kann, wären nötig.

Dem wirkungsvollsten Mittel, der Schmutzkampagne, wird man selbst damit nicht so einfach Herr. Es ist in Deutschland zu beobachten, wie selbst formal demokratische Politiker die Schmutzkampagne zur Bekämpfung des politischen Gegners benutzen, von den offen autoritären und antidemokratischen Parteien und Gruppierungen gar nicht zu reden. Eine Regulierung des wuchernden Lügen- und Desinformationsgeschwürs wird man allein deswegen nur sehr schwer durchsetzen können.

Applebaum weiß das auch. Daher klingt ihre Schrift auch sehr kämpferisch. Ähnliches kann man bei Über Freiheit von Timothy Snyder lesen. Beide beziehen sich übrigens auf Vláclav Havel und seinen Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben. Da die Gegner seit Havels Zeit gelernt haben, müssen die Freunde von Freiheit, Wahrheit und Demokratie auch lernen und neue Strategien entwickeln. Eine Bergaufschlacht, die nicht endet und deren Ausgang völlig ungewiss ist.

[Rezensionsexemplar]

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Siedler Verlag 2024
Hardcover 208 Seiten
ISBN: 978-3-8275-0176-9

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