Alexander Preuße

Schriftsteller - Buchblogger

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Lange habe ich mir einen Roman aus (nord-)vietnamesischer Sicht gewünscht, hier ist er. Oftmals überwältigend angesichts des endlosen Leids der Menschen. Cover Insel, Bild mit Canva erstellt.

Seltsam gesichtslos sind die Nordvietnamesen in jenen Filmen, die in Vietnam zur Zeit des Krieges spielen. In diesem Punkt unterscheiden sich Platoon, Full Metal Jacket, Der stille Amerikaner, Good Moring Vietnam, Apocalypse Now, Deer Hunter und andere nicht wirklich voneinander. Sie wirken weniger wie Individuen, eher wie eine amorphe Masse, verborgen hinter rassistischen Ausdrücken und Spitznamen wie »Charlie«.

Menschen in Uniform verlieren einen Teil ihrer Individualität, während Nordvietnamesen fast immer als Teil des Vietcong oder der regulären nordvietnamesischen Streitkräfte auftreten, sind die Zivilisten faktisch unsichtbar. Diese amerikanischen Filmdarstellungen sind auch ein Echo auf den Umstand, dass die Amerikaner einem Feind gegenübertraten, der asymmetrisch focht, oft aus dem Verborgenen heraus, eine Kriegführung, die traditionell wie ein Katalysator auf Kriegsverbrechen wirkt.

Eine der Folgen ist, dass die gnadenlose Bombardierung Nordvietnams in Deutschland faktisch in Vergessenheit geraten ist, ausgerechnet in jenem Land, dessen Städte durch den so genannten »strategischen Bombenkrieg« während des Zweiten Weltkrieges vernichtet wurden. Über Nordvietnam wurden noch mehr Bomben abgeworfen, ohne entscheidende militärische Wirkung zu erzielen. Dafür traf es die Zivilbevölkerung mit unerhörter Härte – im Verborgenen.

Nguyễn Phan Quế Mai lüftet mit ihrem Roman Der Gesang der Berge den Schleier. Schon im ersten Kapitel sehen sich Hu´o´ng und ihre Großmutter Diệu Lan in Hanoi einem amerikanischen Luftangriff ausgesetzt. Der Leser wird mitten hineingerissen in einen Alptraum, die hektische Suche nach einem Bunker; es folgen Flucht aufs Land, Hunger, Rückkehr in eine zermalmte Stadt und eine Existenz am Rande des Hungertodes.

Die Herausforderungen, die das vietnamesische Volk im Lauf der Geschichte meistern musste, sind so groß wie die höchsten Berge.

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Das steht am Angang eines schier endlosen Laufs von Gewalt. Die Struktur des Romans, der zwischen den Zeiten und Erzählstimmen stetig wechselt, verstärkt diesen Eindruck, aber selbst eine lineare Erzählung würde daran wenig ändern: Franzosen, Japaner, Amerikaner haben als Kolonialherren, Eroberer oder Kriegspartei über Jahrzehnte dem Land Unheil und Verwüstung gebracht; die Kommunisten zudem noch einen Krieg gegen das eigene Volk entfesselt.

Wie erzählt man davon? Nguyễn Phan Quế Mai wählt einen geschickten Weg, um den Leser nicht in einer Flut an unerträglicher Gewalt zu ertränken. Die Hauptfiguren in Der Gesang der Berge sind Frauen, sie schultern die Ungeheuerlichkeiten, denen sie ausgesetzt sind. Die vielfältigen Kriege wirken auf sie auf ganz verschiedene Weise ein, etwa durch die Abwesenheit ihrer Liebsten, die an fernen Fronten kämpfen und jahrelange Ungewissheit bei den Zurückgebliebenen sorgen.

Die haben zwar nicht direkt mit dem Gegner zu kämpfen, dafür mit tödlichem Hunger, der viele Menschen in erbarmungslose Bestien verwandelt, und mit den Auswüchsen des kommunistischen Ideologie. Die kommt in Gestalt der »Landreform« daher und – man ahnt es – schauerlichen Gewalttaten. Die Neigung, Ideen zur Rechtfertigung brutalster Handlungen gegen Mitmenschen zu missbrauchen, scheint ortsunabhängig eine anthropologische Grundkonstante zu sein.

Die Umrisse der Dörfer am Horizont sahen aus wie Frauen, deren Rücken sich unter der Last des Lebens beugt.

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Hu´o´ng und ihre Großmutter kämpfen ums Überleben. Immer wieder werden ihnen die Grundlagen dafür entzogen; insbesondere ihre Flucht vor der »Landreform« nach Hanoi ist schwer erträglich. Um am Leben zu bleiben, muss die Fliehende ihre Kinder zurücklassen, mit der vagen Aussicht, in der Stadt unerkannt eine neue Existenz aufzubauen. Erst dann kann sich die Mutter auf die Suche nach ihren Kindern machen.

Beeindruckend fand ich den unerbittlichen Familienzusammenhalt, den die Autorin schildert. Dieser geht so weit, dass ein Mitglied seine eigene Frau und Kinder in die USA fliehen lässt und selbst zurückbleibt; das klingt so befremdend wie ich es beim Lesen empfunden hätte – wäre da nicht diese ungeheuerliche Zerrissenheit von Land, Familien und Menschen. Familienbande erscheinen wie eine Art Gegenkraft zu der alles zerreißenden Destruktion.

Besonders gefallen hat mir die Entscheidung der Autorin, dem Vietnamesischen einigen Raum zu geben. Das bleibt nicht bei den Eigennamen, wie Saigon (»Sài Gòn«), es werden ganze Sätze in der originalen Sprache abgebildet – und natürlich gleich darauf übersetzt. Dieser Kniff verstärkt beim Leser den Eindruck der Fremdheit und der kulturellen Distanz und erhöht die Wahrhaftigkeit des Erzählten.

Wir haben genug Tod und Gewalt gesehen, um zu wissen, dass wir nur auf eine Art über den Krieg sprechen können: aufrichtig.

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Für meinen persönlichen Lesegeschmack ist der Roman an manchen Stellen ein wenig zu emotional geraten, doch das ist Teil des Stils, der dem Erzählten auch angemessen ist und viele andere Leser eher ansprechen könnte. Am Ende von Der Gesang der Berge steht wie am Ende jedes Lebens der Tod. Nguyễn Phan Quế Mai verbindet das Ableben gekonnt mit Leitmotiven ihres Romans und entlässt auf eine friedvolle Weise den Leser in die Stille, die jedem guten Buch folgt.

[Rezensionsexemplar]

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge
Aus dem Englischen von Claudia Feldmann
Insel Verlag 2021
Gebunden 429 Seiten
ISBN: 978-3-458-17940-5

Alexander Demandt: Diokletian

Die Biographie über einen Kaiser in Zeiten größter Not für das Römische Reich. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Das dritte Jahrhundert nach Christus gilt als Zeit einer tiefgreifenden, ja existenzbedrohenden Krise des Römischen Imperiums. Lange Kriege im Osten, weitreichende Überfälle und Raubzüge germanischer Völker auf Reichsterritorien, Bürgerkrieg wegen zahlloser Kaiser und Gegenkaiser in wenigen Jahren, Sonderreiche und Usurpatoren – die Bedrohungen waren umfänglich. 

Diokletian gilt als jener Kaiser, dem es gelang, die Krise halbwegs zu bändigen. Vor allem aber verfolgte er eine Politik, die möglicherweise das Zeug hätte haben können, dem Reich ein stabileres Fundament zu geben. Die Tetrarchie, die geplante Herrschaft mehrerer Männer, wäre vielleicht ein Weg gewesen, dem Elend blutiger Bürgerkriege im Innern ein Ende zu setzen.

Meine Erwartung an die Biographie ist durchaus gewesen, in dieser Hinsicht mehr zu erfahren. Das leistet Alexander Demandts Diokletian bedauerlicherweise nicht. Der Autor setzt auf eine paraphrasierende Nacherzählung dessen, was die Überlieferung hergibt. Die Quellenlage wird beleuchtet, sie ist dünn, das setzt selbstverständlich Erkenntnisgrenzen; dennoch wäre ein wenig übergreifende Interpretation wohltuend gewesen.

Demandts Vorgehensweise liefert aber eine Menge interessanter Detailinformationen, darunter einige Perlen. Etwa die »Usurpation aus Notwehr« durch Carausius, der sich in zeitüblicher Weise von seinem Heer zum Kaiser erheben ließ, allerdings aus einem besonderen Grund: Ihm hing ein Todesurteil durch Verleumdung an. Carausius unternahm die Flucht nach vorn, zog nach Britannien und etablierte sich dort als Herrscher.

Interessant sind auch einige der vielfältigen Rechtsentscheidungen Diokletians. Es gilt als Binsenweisheit, dass Urteile und Gesetze einen Fingerzeig auf Missstände darstellen, weil es sie sonst nicht gäbe. Wenn also Inzest explizit  verboten wird, kann man davon ausgehen, dass es in der historischen Wirklichkeit beachtlichen Raum einnahm.

Nicht verboten war Inzest in Persien und Ägypten unter den Ptolemäern. Wenn Demandt von einer »Kulturkonstante« spricht, bleibt die Frage, ob diese beiden Gesellschaften von Kultur ausgeschlossen sind?

Überhaupt enthält die Schrift fragwürdige Wertungen. Den von Demandt bekräftigten Sittlichkeitsdrang der Spätantike mag man mit Blick auf das Christentum als Leitidee mancher Kreise noch nachvollziehen, doch sein Postulat, Diokletian hätte eine Rückkehr zu altrömischer Zucht angestrebt, befremdet. Dieser Begriff dürfte doch eher Ausgeburt einer phantasierten Vergangenheit sein; vor allem stellt sich die Frage, was Zucht überhaupt sein soll, ob das ein Wert an sich ist und einen relevanten Beitrag zur Überwindung der existentiellen Krise Roms hätte leisten können.

Der Leser bleibt am Ende bezüglich der großen Fragen recht ratlos zurück. Diokletians Idee, das Reich durch eine Tetrarchie zu stabilisieren, ist zweifelsfrei positiv zu werten. Doch warum funktionierte sie nicht? Lag es allein an Constantin und seinem Machtdrang? Oder einer generellen Machtsucht der Eliten? Ist Rom bezüglich seiner Sozialstruktur zum Untergang verdammt gewesen? Warum dauerte es dann so lange, bis das Reich zumindest im Westteil tatsächlich zerbrach?

Insgesamt wirkt die Biographie über Diokletian ein wenig aus der Zeit gefallen. Trotz aller Detailfülle und dem Reichtum an Informationen sowie dem sicherlich verdienstvollen Einblick in die dünne Quellenlage bietet das Buch zu wenig für den Leser zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dazu fehlen die übergreifenden Gedanken und Ideen, während gleichzeitig viele mittelbare und unmittelbare Wertungen unzeitgemäß wirken.

[Rezensionsexemplar]

Alexander Demandt: Diokletian
C.H.Beck 2022
Gebunden 434 Seiten
ISBN: 978-3-40678731-7

Don Winslow: Frankie Machine

Politthriller sind das Kerngeschäft des US-Autors Don Winslow. Man hat immer das Gefühl, er weiß, wovon er schreibt. Cover Droemer, Bild mit Canva erstellt.

Ab und zu gönne ich mir ein Buch zum Schmökern. Gönnen heißt nicht, dass ich sonst wie ein Galeerensklave durch die Seitenmeere anstrengender Literatur rudere, sondern ganz bewusst meinen Kopf mit etwas Action und Unterhaltung fülle. Don Winslow ist immer eine gute Wahl, seine Bücher bieten Thrill und eben auch etwas mehr.

Bei diesem Thriller hat mich zunächst der Titel abgeschreckt, der – bei allem Respekt – ein wenig billig klingt. Im Original heißt er The Winter of Frankie Machine, das klingt besser. Insbesondere, weil die Handlung den Leser nach San Diego versetzt und man die endlosen Strände der amerikanischen Westküste eher nicht mit Winter zusammenbringt.

Nun steht Winter aber auch für das letzte Lebensviertel eines Menschen, jene Zeit, die oft Ruhestand genannt wird. Frank Macchiano ist das nur in einer Hinsicht, nämlich als Profikiller des Organisierten Verbrechens. Jenseits davon halten ihn vier Jobs, zwei Frauen und eine Tochter auf Trab.

Winslow breitet das Leben von Frankie gemächlich vor den Augen des Lesers aus, ehe er dieses aus den Fugen geraten lässt. Wie und warum das geschieht, enthüllt der Autor peu á peu genussvoll in Rückblenden, während eine gnadenlose Jagd entfesselt wird. Verrat, üble und überraschende Wendungen machen das Buch zum Pageturner, was mich besonders fesselt, ist das nie nachlassende Gefühl, dass Winslow sehr genau weiß, wovon er schreibt.

Don Winslow: Frankie Machine
Aus dem amerikanischen Englisch von Chris Hirte
Droemer 2018
TB 384 Seiten
ISBN: 978-3-426-30659-8

Lesemonat Mai 2023

Sehr gute Romane und Sachbücher bei einer deftigen Enttäuschung – mein Lesemonat Mai war großartig. Cover jeweiliger Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Drei Bücher dieses Lesemonats haben einen ähnlichen Wesenskern: Sie befassen sich in autofiktionaler Manier mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Protagonisten und ihre Familien. Jedes Buch unternimmt das auf eine sehr eigene Weise, was allein wegen des Blickwinkels kein Wunder ist: Während Andreas Fischer mit Die Königin von Troisdorf die deutsche (Nachkriegs-)Perspektive im Fokus hat, dreht sich Stefan Hertmans’ Der Aufgang* um den aus Belgien stammenden Kollaborateur Willem Verhulst; die Familie im Der Stammhalter* von Alexander Münninghoff stammt aus der Niederlanden, ist vor Kriegsausbruch im Baltikum ansässig und kehrt in die Niederlande zurück.

Mich haben alle drei Bücher fasziniert. Sie machen fühlbar, wie sehr der Zweite Weltkrieg die Verhältnisse in Europa umgewälzt hat, wie tiefgreifend die Folgen gewesen sind und dass nach dem letzten Schuss nicht alles »vorbei« war. Alexis Jenni hat es in seinem großen Roman Die französische Kunst des Krieges so formuliert: »Die Stille nach dem Krieg ist immer noch Krieg.« Das haben die folgenden Generationen zu spüren bekommen.

Auch Garten der Engel* von David Hewson führt in den Zweiten Weltkrieg, nach Venedig im Jahr 1943. Nachdem das Land die Seite gewechselt hat, weht durch die von der Wehrmacht besetzten Gebiete ein rauer Wind; den Bürgern jüdischen Glaubens droht die Vernichtung in den Blutmühlen des Naziregimes. Hewson strickt darum einen fesselnden Roman, der – trotz kleiner Schwächen – unbedingt lesenswert ist.

Das gilt auch für Serhij Zhadans Himmel über Charkiw. Kurz gesagt: Beeindruckende Impressionen aus der Frontstadt in der Ukraine aus den ersten Wochen des russländischen Überfalls. Das ist auch das Thema von Christoph Brumme, der deutsche Schriftsteller lebt in Poltava, unweit Charkiws, und schreibt wegen seiner Herkunft auch mit einem scharfen Blick in seine alte Heimat. Im Schatten des Krieges* lebt es sich wesentlich unbequemer als auf dem Sofa der Selbstgefälligkeit.

George Orwell ist vor allem durch seinen epochalen Roman 1984 berühmt und bekannt; doch hat er auch viel im journalistischen Bereich publiziert, unter anderem auch Beiträge, die in den Wochen und Monaten um die deutsche Kapitulation 1945 herum entstanden sind. Diese finden sich in dem kurzen Büchlein Reise durch Ruinen und sind bis heute sehr lesenswert; wie auch das vorzügliche Nachwort von Volker Ullrich.

Ab und zu behaupte ich, dass ich Krimis nicht gern läse. Stimmt nicht, denn das betrifft nur wirkliche Kriminalfälle á la Tatort; whodunit interessiert mich meistens nicht, es sei denn, es geht in dem entsprechenden Roman um mehr. So verhält es sich bei den Büchern von Tony Hillerman. In Blinde Augen* geht die Navajo-Police wieder auf Verbrecher-Jagd, ganz wunderbar werden Fall und Aufklärung mit Mystik und Kultur der Navajo verbunden, aber auch mit dem Genozid an den indianischen Gemeinschaften. Sehr spannend ist es obendrein.

Differenziert und wohltuend unaufgeregt setzt sich Jens Balzer mit dem Thema Appropriation auseinander und entwickelt einen eigenen Ansatz, mit dem Thema umzugehen. Seiner Ethik der Appropriation kann man folgen oder nicht, jedenfalls ist der Leser nach der Lektüre um einiges klüger. Erfreulich: Balzer unterstreicht, dass jenes aktivistische Eintreten für die historisch Geknechteten einen imperialen, kolonialistischen Gestus beinhaltet. So ist es.

Ich mag keine programmatische Literatur, aus gutem Grund. Pantopia von Theresa Hanning liegt eine tolle Idee zugrunde, die jedoch mit Beton an den Füßen ins tiefe Wasser stolpert und absäuft. Teile dieses Romans klingen wie Parteitagsreden, die beiden Hauptfiguren wirken ebenso künstlich und unwirklich, die Pläne oft naiv, die Gegenspieler sind keine Lichtgestalten und irgendwie schummelt sich die Handlung märchenhaft zum Ende hin durch. Ich habe beim Hören oft gedacht, hoffentlich wird das niemals Wirklichkeit und leider nicht abgebrochen.

Da war ich in einem anderen Fall klüger. Schon nach wenigen Seiten war die tänzelnde, selbstverliebte Sprache nicht auszuhalten. Also ging ich nicht mit auf die Afghanische Reise von Roger Willemsen.

Blog-Monat

Auf meinem Blog gibt es eine Schlagwortwolke. Ich mag das sehr, auch wenn die graphische Umsetzung etwas schlicht daherkommt. Die Wolke aus Schlagworten lädt zum Stöbern ein, außerdem gibt sie Auskunft über die inhaltlichen Schwerpunkte der Bücher, die von mir vorgestellt werden.

Wenig verwunderlich steht Historischer Roman ganz oben, auch das Wort Krieg ist sehr präsent. Politik, Sachbuch, Deutschland, Frankreich und USA sowie Zweiter Weltkrieg gehören auch zu den von mir am häufigsten verwendeten. Tatsächlich ist das der Kern dessen, was in vielen Romanen und Sachbüchern eine wesentliche Rolle spielt.

Die Wolke zeigt aber auch, dass diese Kernbegriffe umgeben sind von einem Schwarm an Schlagwörtern, die auf eine gewissen thematische Breite hinweisen und trotzdem in irgendeiner Weise in das Gravitationsfeld meiner Kernthemen gehören.

Neu sind drei Schlagworte: Familienroman, Generationenroman und Nachkriegsstille. Zuletzt habe ich eine Reihe von Büchern gelesen, die alle drei Aspekte miteinander vereinen: Aufgang, Der Stammhalter, Die Königin von Troisdorf, Garten der Engel – aber auch andere, wie Die Detektive vom Bhoot-Basar oder Der Gesang der Berge, die in Indien bzw. Vietnam spielen.

Familien und Geschichten, die mehrere Generationen betreffen, gibt es rund um den Globus; doch auch das, was ich Nachkriegsstille getauft habe, ist überall anzutreffen. Das Wort geht auf den bereits genannten Satz aus dem Roman Die Französische Kunst der Krieges von Alexis Jenni zurück, der sagt, die Stille nach dem Krieg sei immer noch Krieg.

Nachkriegsstille bestimmt die Zukunft

Wie sehr das stimmt und wie weit diese Nachkriegsstille reicht, wie sehr sie das Schicksal von Generationen nach dem Ende der Kampfhandlungen noch beeinflusst, zeigen diese Bücher eindringlich. Da wir Zeitgenossen eines großen, blutigen Angriffs- und Vernichtungskrieges sind, in der Russland seine brutale imperialistische Tradition fortführt, ist das Thema von beunruhigender Brisanz.

Trotz aller Zuversicht, dass die Streitkräfte der Ukraine letztlich den militärischen Sieg von Putins Russland zu verhindern und selbst triumphieren, wird es ein Verlust sein. Es geht dabei keineswegs nur um die ohnehin dramatischen materiellen Schäden, die in der Ukraine angerichtet wurden, sondern auch die immateriellen, die viel länger und ärger wirken werden.

Und das ist auch eine – sicherlich unangenehme – Lehre aus der Nachkriegsstille. Russland wird nur im Falle einer vollständigen Niederlage überhaupt in der Lage sein, wie Deutschland nach 1945 einen neuen, friedlichen, demokratischen Weg zu beschreiten. Erst der völlige Bankrott der imperialen putinistischen Ideologie wird das Fundament bilden.

Denn: 1939 hat Deutschland Polen nicht allein zerstört, auch die Sowjetunion, in deren direkter Nachfolge Putin Russland stellt, war mit dabei; sie hat Finnland angegriffen, Bessarabien besetzt und auch das Baltikum. Deutschland war Hammer, die Sowjetunion der Amboss, zwischen denen Ostmitteleuropa zermalmt wurde. Dieses Erbe wirkt in Russland frei von jeglichem Verantwortungsgefühl bis heute.

Lesemagnet

Ganz besonders viel Aufmerksamkeit hat im Monat Mai meine Buchvorstellung zu Andreas Fischers Die Königin von Troisdorf erfahren, die am häufigsten von allen Beiträgen von den Besuchern meines Blogs angesteuert wurde. Unter den Sachbüchern fand der Atlas von Christian Grataloup: Geschichte der Welt die meiste Aufmerksamkeit.

Ein Dauerbrenner ist und bleibt mein Beitrag zu dem Roman Propaganda von Steffen Kopetzky, der drauf und dran ist, den bisherigen Leseliebling unter meinen Buchvorstellungen, Nicolas Mathieu, Wie später ihre Kinder, abzulösen. In einigen Wochen erscheint Kopetzkys neuer Roman, Damenopfer, den ich bereits lesen durfte. Die Buchbesprechung auf meinem Blog erfolgt im August.

[*=Rezensionsexemplar]

Tony Hillerman: Blinde Augen

Auch der zweite Teil der Buchreihe um die Navajo-Police ist dem Autor rundherum gelungen: ein spannender Krimi mit Mehrwert. Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.

Man könnte es sich leicht machen und einfach sagen: superspannend! Denn das ist Blinde Augen von Tony Hillerman. Bis zur Mitte des Buches tastet sich Ermittler Joe Leaphorn durch einen Dschungel an Ereignissen, verwirrenden Informationen und seltsamen Erzählungen, was seine Aufklärungsarbeit im Falle zweier Morde behindert. Ein Muster, ein Motiv fehlt.

Das bleibt auch noch lange Zeit so, doch neben dieser Grundspannung wird die Handlung dramatisch. Es beginnt eine spektakuläre Suche, Jagd, Gegenjagd, Flucht mit haarsträubenden Wendungen und tödlichen Gefahren, denen Leaphorn von der Navajo-Police ausgesetzt ist. Stück für Stück setzen sich die Motive und Ziele rund um den Mordfall schließlich zusammen.

Auch für Leser, die vorwiegend auf Handlungsspannung aus sind, ist dieser Krimi eine tolle Lektüre, sofern sie die Geduld aufbringen, in das vielschichtige Durcheinander von Sachverhalten einzutauchen und – wie Leaphorn und das FBI – erst einmal nicht zu begreifen, worum es eigentlich geht. Je mehr sich das Bild klärt, desto mehr sitzt Leaphorn in der Klemme. Das ist großartig!

Irgendwo in diesem Dschungel aus Widersprüchen, Merkwürdigkeiten, Zufällen und unwahrscheinlichen Ereignissen musste es ein Muster geben, einen Grund, etwas, das Ursache und Wirkung erkennbar werden ließ, eine Wirkung, die von den Gesetzen der natürlichen Harmonie und der Vernunft diktiert wurde.

Tony Hillerman: Blinde Augen

Doch bieten Hillermans Romane rund um die Navajo-Police eben auch viel mehr. Die beiden Toten gehörten zu einer Gruppe oder einem Zweig / Clan der Navajo, sie hauchten ihr Leben aus, während eine dritte, überlebende Person ein Gesangsritual ausführte. Wieder ist es faszinierend, wie es dem Autor gelingt, Mythologie und Riten der indianischen Gemeinschaften mit dem Fall zu verweben, ja, diesen darauf zu gründen.

Die Person Joe Leaphorn wirkt auch deswegen so authentisch, weil sie ihre indianischen Wurzeln mit einer vernunftbasierten Weltsicht verbindet. Im Zuge seiner Ermittlungen trifft er auf die Überlebende der Morde, als diese gerade an einem Initiations-Ritus teilnimmt, der eine ganze Nacht andauert. Leaphorn reiht sich ein, ein Fremder, Polizist zudem, der aus traditioneller Gastfreundschaft offen aufgenommen wird.

Diese Szene entfaltet beim Leser eine große Wärme, denn sie ist kein bloßes Echo der weithin bekannten »Indianer«-Klischees. Leaphorn empfindet plötzlich einen »wilden Stolz auf sein Volk und die Feier«, denn sie ist auch ein Zeichen der Gleichstellung von Mann und Frau hinsichtlich der Bewahrung des »Navajo Way« bei den Diné. Und dieser Weg zielt auf die »Harmonie mit der Zeit« – eine wesentliche Voraussetzung, um in einer sich wandelnden Welt zu überleben.

Und so passen sich die ewigen Navajo an und blieben bestehen, während die Kiowa vernichtet wurden, die Ute in hoffnungsloser Armut versanken und die Hopi sich ins Innere ihre Kivas zurückzogen.

Tony Hillerman: Blinde Augen

Hinter solchen Aussagen, die kunstvoll in den Gang der Handlung eingeflochten sind, lässt sich die ungeheure Vielfalt erahnen, die von Worten wie »Indianer« eher verborgen und übergangen werden. Doch Hillerman bleibt dabei nicht stehen, er lässt seine indianischen Figuren ganz menschlich lästern, spotten und sich lustig machen, über fremde Gemeinschaften, Weiße und in sehr spezieller Weise auch über die eigenen Leute und ihre Sonderlichkeiten.

Wirklich bemerkenswert ist, wie in diesem Roman mit Aberglaube umgegangen wird. Hexer gehören beispielsweise in die mythische Welt der Navajo, in der vernunftbasierten sind sie selbstverständlich ausgeschlossen. Hillerman nutzt jedoch einen Kniff, um das Nebeneinander von Moderne und Rückständigkeit, Wissen und religiösem (Aber-)Glauben für die Auflösung des Kriminalfalls zu verwenden.

So verschleiert das abergläubische Geraune die Wahrheit, zugleich gibt es aber jenen, die Begriffe aus dem vernebelten Graubereich übersetzen können, Hinweise auf das, was sich tatsächlich zugetragen hat. Um das Rätsel der Morde und einiger anderer Fälle zu lösen, muss Leaphorn also während seiner Suche nach der Wahrheit alles im Auge behalten; Glaube und Aberglaube dürfen nicht einfach ignoriert werden.

Zu den großen Stärken des Romans Blinde Augen gehören auch die Figuren, die ich allesamt als sehr gelungen empfand. Peu á peu erweitert sich das Arsenal, da taucht die schöne Weiße auf, eine Horde Pfadfinder ist in der Gegend, das FBI natürlich, Vorgesetzte, Zeugen und Informanten – und alles in einer Landschaft, die man im Buch zwar nicht sehen kann, die zwischen den Worten und Zeilen jedoch aufschimmert in ihrer majestätischen Pracht.

Weitere Bücher der Reihe um die Navajo-Police:
Tony Hillerman: Tanzplatz der Toten

[Rezensionsexemplar]

Tony Hillerman: Blinde Augen
Aus dem Englischen von Friedrich A. Hofschuster
Unionsverlag 2023
TB 272 Seiten
ISBN: 978-3-293-20954-1

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