Schriftsteller - Buchblogger

Kategorie: Kurzrezension (Seite 2 von 11)

Meron Mendel: Über Israel reden

Über Israel wird hierzulande viel zu viel geredet und zu wenig anderen zugehört. Ein Streifzug durch Abgründe einer immer grotesker werdenden Debatte, die der Lösung des Konfliktes zwischen Israelis und Palästinensern in keiner Weise verpflichtet ist. Cover Kiepenheuer&Witsch, Bild mit Canva erstellt.

Am 07. Oktober 2023 verübte die Hamas einen umfassenden Terrorangriff auf Israel. Meron Mendels Buch Über Israel reden erschien gut ein halbes Jahr vor dieser unmenschlichen, grausamen und propagandistisch umfassend orchestrierten Attacke. Was im Gefolge dieser mitleidlosen Schlächterei an Zivilisten geschah, hat mich persönlich fassungslos gemacht.

Offener und versteckter Antisemitismus, Israelfeindlichkeit (was nicht dasselbe ist, wie Mendel darlegt) verbunden mit Äußerungen, die frei von Empathie waren, dafür voller ideologischer Formeln, menschenfeindlicher Phrasen und Versuchen der Instrumentalisierung. Es erschien allein wichtig, sich zu positionieren, Haltung zu zeigen, sich von der eigenen Anhängerschaft beklatschen zu lassen und anders Denkende als »Feinde« zu diffamieren und zu behandeln.

Aktuell gib es kaum noch einen Raum, in dem man die Situation in Israel und den palästinensischen Gebieten offen analysieren könnte – jenseits von ideologischen Festlegungen und Vorurteilen. Derzeit scheint der einzige Zweck einer Debatte darin zu bestehen, die jeweils eigene Position zu verkünden, von Fans bestätigen zu lassen und die Ansichten des Gegners zu delegitimieren.

Meron Mendel: Über Israel reden

Mittlerweile hat sich mein Bild etwas geklärt, was vor allem an dem Buch von Mendel liegt. Der Autor unternimmt eine weite Reise in den Abgrund, er beschreibt und analaysiert eine ganze Reihe von Dingen, wie sie im Gefolge des Terrors zu erleben waren. Der Untertitel Eine deutsche Debatte verrät seinen Schwerpunkt, dennoch ist es auch dann hilfreich, wenn man auf Äußerungen von Greta Thunberg, linken US-Demokraten, Promis aller Genres usw. stößt.

In Deutschland geschieht der Umgang mit Israel wegen des Holocaust sehr speziell. Mendel geht auf den historischen Umgang mit der Judenverfolgung und -vernichtung ein, er befasst sich mit dem Wandel, der sich in den zurückliegenden siebzig Jahren vollzogen hat. Es ist bemerkenswert, wie sehr sich linke Positionen teilweise soe veränderten, dass sie konsensfähig mit dem wurden, was auf ultrarechter Seite postuliert wurde.

Atemberaubend sind manche Bemerkungen, von denen der Autor berichtet. Seien es deutsche Lehrer, Weltautoren wie Günter Grass, Journalisten der Springer-Presse, Terroristen der RAF, FDP-Politiker, Altgrüne, aber auch auf den ersten Blick harmlos wirkende Bemerkungen, wie Angela Merkels Wort von der »Staatraison« Deutschlands, Israel zu schützen. (Was heißt in dem Zusammenhang eigentlich »Staatsraison«?)

Mendel stellt vieles infrage und stellt manches auch bloß. Wenn der Schleier verschwindet, blickt man in die Fratze allzu vertraut wirkender Vorurteile, Plattitüden, antijüdischer Zuschreibungen und Verschwörungsgeraune. Um Israel bzw. den Konflikt zwischen Juden und Palästinensern geht es in den Äußerungen dabei selten genug, eher um Schuldzuschreibungen und Entlastung von historischer Verantwortung.

Breiten Raum bekommt das Phänomen namens BDS, was für Boycott, Divestment and Sanctions  steht. Bewusst ist hier von »Phänomen« die Rede, das scheint doch eher eine geisterhafte Erscheinung zu sein, vielfältig, schillernd, amorph, vernetzt und totalitär, aber trotzdem keine zentrale Organisation. Das erschwert den korrekten Umgang mit klar israelfeindlichen und antisemitischen Äußerungen und Aktionen des BDS.

Für jemanden, der in Israel geboren und sozialisiert wurde, und sich selbst als links empfindet, ist es schwer erträglich, wie linke Gruppierungen mit dem Thema umgehen. Ein beliebter Ansatz Linker ist die Unterteilung der Welt in Opfer und Täter, da Juden und Palästinenser zwei Opfergruppen sind, werden dramatische Verbiegungen unternommen, um Juden zu Tätern umzudichten und in die antiamerikanische Weltsicht einzuhegen.

Die Debatte ist emotional aufgeladen, von einem ganzen, immer größer und komplizierter werdenden Strauß an Interessen geprägt, deren Wortführer jede Gelegenheit wahrnehmen, das Thema Israel zu instrumentalisieren. Über Israel reden zeigt dem Leser auf eine bemerkenswert sachliche und differenzierte, nachdenkliche Weise, wie seit Jahrzehnten von wem in Deutschland geredet wird.

Recht oft musste ich während des Hörens an das Buch von Die Verlockung des Totalitären von Anne Applebaum denken. Die dort genannte Diagnose, dass viele Menschen mit totalitären Neigungen weder Widersprüche noch den sich daraus ergebenden Streit bzw. Lärm noch die fehlenden einfachen Lösungen aushalten können, trifft wohl auch auf viele Äußerungen zum Thema Israel zu.

Das wäre vielleicht auch eine Antwort auf die Frage, warum sich so viele sich in unerbittlicher, ja totaler Weise zum Thema äußern, obwohl sie weder betroffen noch von Kenntnis geküsst sind.

Meron Mendel: Über Israel reden
Eine deutsche Debatte
Kiepenheuer&Witsch 2023
Gebunden 224 Seiten
ISBN: 978-3-462-00351-2

Michael Kempe: Die beste aller möglichen Welten

Einen schönen Einblick in das Leben und universale Denken von Gottfried Wilhelm Leibnitz gibt das Buch von Michael Kempe, insbesondere das letzte Kapitel ist imponierend. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt

Das Wort »Welten«, insbesondere der Plural, ist in Bezug auf Gottfried Wilhelm Leibniz treffend gewählt, das wird beim Hören oder der Lektüre des vorzüglichen Buches von Michael Kempe rasch klar. Der Gelehrte mit »universalem Denkhorizont« war gedanklich und persönlich in einer ungeheuerlichen Vielzahl an Welten unterwegs.

Allein die Zahl der Korrespondenzpartner ist überwältigend. Mit mehr als eintausend stand Leibniz in brieflichem Kontakt, er ist Teil gewesen, was Kempe als Gelehrtenrepublik (ein Motiv, das in dem wunderbaren Roman Der Kaffeedieb eine wichtige Rolle spielt) bezeichnet, ein Austausch über die stets anschwellende Zahl und Komplexität der Fragen, in einer Zeit, in der das Wissen regelrecht explodierte.

Wohlgemerkt vor mehr als dreihundert Jahren, also mit einem Schreibprozedere, das – wie viele andere heute unvorstellbare Umstände – ein wenig beleuchtet wird. Ein Brief wird nicht etwa in einen PC, Smartphone oder Tablett getippt und per E-Mail versendet, gar nicht zu reden von jenen Myriaden an Kurznachrichten, die in Echtzeit beim Empfänger eintreffen.

Feder und Tinte, teures Papier, das für Notizen wiederverwendet wird, was auch ein Grund dafür ist, dass Leibniz einen Berg an Zettelchen hinterlassen hat. Insgesamt umfasst diese Hinterlassenschaft rund 100.000 Schriftstücke aller Art und Größe. Zunächst wurden ein oder mehrere Entwürfe angefertig, die von einem Schreiber in Reinschrift gebracht und eventuell abgeschrieben sowie mit einem Postskriptum versehen wurden, ehe sie an den Empfänger abgingen.

Das konnte dauern. Ein Brief aus dem fernen China war mehr als ein Jahr zu Leibniz unterwegs, was keineswegs nur an der Entfernung, sondern auch politischen und geistlichen Kalamitäten lag: Man konnte für die falsch geäußerte Meinung in Lebensgefahr geraten oder der Spionage bezichtigt werden. Die Gelehrtenrepublik war grenzübergreifend, die Briefe und ihre Autoren mussten diese beachten, wählten Verschlüsselungen, Pseudonyme und falsche Namen.

Derlei schildert Kempe gewissermaßen en passant, das macht Die beste aller möglichen Welten sehr lebendig, spannend und abwechslungsreich. Der Leser wohnt einem Gelehrtenleben in seinen Umständen bei, das trotz hoher Posten und großem Ruhm von einer fundamentale Prekarität geprägt war. Dazu trägt  allerdings auch die  Lebensführung eines »Rolling Stone« bei, eines stets in Bewegung bleibenden, sich gern Optionen offenhaltenden Mannes.

Imponierend ist Kempes Schlussbetrachtung zu Leibniz und seinem Nachwirken, ausgewogen, nachdenklich wird der weitreichende Einfluss seines Denkens auf die Nachwelt dargelegt, ohne die Grenzen des Gelehrten zu verschweigen. Ja, gerade seine Irrtümer machen ihn für den Autor besonders wertvoll, denn der spezifisch leibnizsche Umgang mit dem Scheitern ist, ein rundum gelungener Abschluss für dieses Buch.

Michael Kempe: Die beste aller möglichen Welten
Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Zeit
S.Fischer Verlag 2023
Taschenbuch 352 Seiten
ISBN: 978-3-596-70968-7

Tom Hillenbrand: Der Kaffeedieb

Ein ganz wunderbarer Schmöker mit einer sehr gelungenen Mischung aus Abenteuer und Raubzug, wie er auch in modernen Filmen á la Ocean’s Eleven umgesetzt wird. Cover Kiepenheuer&Witsch-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Als passionierter Kaffeetrinker hat mich der Titel natürlich sofort angesprochen und selbstverständlich furchte sich meine Stirn bei der Frage: Wie kann man Kaffee stehlen? Besser gesagt: Warum sollte man Kaffee stehlen, wenn man ihn doch mehr oder weniger überall erstehen kann bzw. in der Welt, in der Hillenbrands Roman Der Kaffeedieb leicht erwerben konnte? Gut, das Angebot war geringer, es handelte sich um ein Luxusgut, aber wer würde ohne Not für einen Diebstahl die grausamen Strafen dieser Zeit in Kauf nehmen?

Es ist ein richtig guter Buchtitel, das machen meine einleitenden Worte schon deutlich, denn die offenen Fragen erzeugen Neugier und damit die Motivation, ein Buch lesen zu wollen. Die Erzählung, die Der Kaffeedieb zu bieten hat, konnte alle Erwartungen deutlich übertreffen. Das beginnt schon mit der Notlage, in die sich der Held Obediah Chalon bringt. Als alter Börsianer weiß ich es sehr zu schätzen, wie er sich verspekuliert und auch noch mit gefälschten Wechseln. Herrlich!

Auch die Strafe, die er erdulden muss, ist sehr originell – sie dient als klassische Mausefalle für einen Gestrauchelten, der so vor eine Wahl gestellt wird, die gar keine ist: Obediah muss einen Auftrag annehmen, der einem Himmelfahrtskommando ohne sonderliche Aussichten auf Erfolg gleicht. Sein Auftraggeber ist zudem für seine brutale, gewissenlose Grausamkeit bekannt: die Niederländische Ostindienkompanie. Kompanie meint hier: Gesellschaft.

Obediah nimmt nolens volens an. Eine haarsträubende Geschichte voller abenteuerlicher Wendungen, Begegnungen, beinahen und tatsächlichen Katastrophen, Rückschlägen und überraschenden Fortschritten, Verfolgungen, Schleichwegen, ausufernden Plänen und Absichten, Zufällen und Gefahren in mehr oder weniger fremden, immer gefährlichen Ländern entwickelt sich. Alles, um Kaffee zu stehlen – da ich nicht gern spoilere, belasse ich es bei einer nichtssagenden Angabe: Es geht um mehr als eine Schale voll lauwarmer Kaffee-Plörre.

Der Kaffeedieb besticht durch die Gestaltung seiner Hauptfigur. Ein Virtuoso, weitreichend vernetzt mit anderen Gelehrten dieser Zeit, in der Newton, Leibnitz und wie sie alle hießen das Wissen der Menschheit von den Tumbheiten religöser Eiferei befreiten und auf eine rationale Grundlage stellten. Briefe wurden verfasst und empfangen, man könnte meinen, es hätte so etwas wie einen Gelehrtenstaat gegeben, basierend auf dem Wort, der Schrift und dem Gedanken.

Das gibt dem Roman die gewisse Würze und bewahrt Leser wie mich vor dem bloßen Action-Gedöns – das ich nur selten zu schätzen weiß. Manche mögen das vielleicht als geschwätzig, weitschweifig und langatmig empfinden, weil nicht alle zwei Seiten die Säbel gekreuzt werden und die Kanonen donnern, sondern nachgedacht, gestritten, debattiert und aufgeklärt wird.

Und, ja – da wäre noch der Höhepunkt der Erzählung, wenn der gewagte, gewundene Plan in die Tat umgesetzt wird und Hillenbrand einfach die Perspektive wechselt. Das Spektakel wird in der Rückschau von einem alt gewordenen Augenzeugen berichtet, der seinen Zuhörern, einer Schar Kinder, eine recht eigenwillige Auslegung der Ereignisse darbietet. Der Leser weiß genug, um das alles auf die Pläne Obediahs übertragen zu können – den Rest muss er sich halt selbst ausmalen. Chapeau!

Es gibt Motive in Romanen (und Filmen), die eine Kaminfeuerwärme bei mir erzeugen. Die Zusammenstellung einer Gefährtengruppe gehört dazu. Obediah kann das Unternehmen nicht allein bewältigen, er braucht Unterstützer, die bei so einem Unternehmen nicht gerade zu der sozialverträglichsten Sorte gehören. Der Kaffeedieb schart seinen Trupp eigenwilliger Persönlichkeiten um sich und muss mit ihnen klarkommen – bis zum bitteren Ende. Auch das ist übrigens in jeder Hinsicht sehr gelungen.

Tom Hillenbrand: Der Kaffeedieb
Kiepenheuer&Witsch 2016
Gebunden 480 Seiten
ISBN: 978-3-462-04851-3

Ken Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt

Die Graphic Novel zeichnet einige Stationen aus dem bewegten, ja dramatischen Leben Hannah Arendts nach, gibt aber auch Einblicke in ihre Geisteswelt. Cover dtv, Bild mit Canva erstellt.

Berühmte Zitate oder Wendungen sind beliebt, viele kennen sie, manche führen sie im Munde, doch sind sie oft aus dem Zusammenhang gerissen oder werden missverstanden ohne den Kontext. Das ist mit Carl von Clausewitz und seinem Diktum, Krieg sei nichts anderes als die Fortführung von Politik mit anderen Mitteln, nicht anders als mit Hannah Arendts Wort von der »Banalität des Bösen«.

Klingt gut, schlau und wertet jene auf, die das Zitat verwenden – auch wenn ihnen völlig unklar ist, was eigentlich »Banalität« in diesem Falle meint, gar nicht zu reden, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Auf diese Fragen gibt auch Die drei Leben der Hannah Arendt keine Antwort, im Gegenteil: Es wirf sie und viele andere Fragen erst auf.

Die Graphic Novel von Ken Krimstein macht den Leser mit einer Reihe von Lebensstationen von Hannah Arendt vertraut, darunter äußerst dramatische, wie die Flucht aus Marseille vor dem Zugriff der mit den Deutschen kollaborierenden französischen Sicherheitskräfte. Die wunderbare, leicht sperrige Art der Illustration macht von der ersten Seite an deutlich, dass es hier um viel mehr geht, als um die Nacherzählung eines bewegten und bewegenden Lebens.

Immer wieder wird der Leser mit philosophischen bzw. politisch-theoretischen Begriffen, Fragen, Betrachtungen und Überlegungen konfrontiert, denn das alles macht das Leben Arendts aus. Sie sucht nach Antworten, bei Kant, in Seminaren, Bibliotheken, Gesprächen mit Gelehrten ihrer Zeit, durch das Schreiben von Essays und die Auseinandersetzung mit Kritikern.

Man macht auch Bekanntschaft mit dem, was jenen widerfahren kann, die Ruhm und Berühmtheit erlangen. Die Erwartungen anderer werden enttäuscht, wenn man nonkonform denkt und sich äußert – man eckt an, wird geschnitten, angefeindet und von Freunden im Stich gelassen. Freiheit und Offenheit hat ihren Preis, immer und überall.

Was heute so gewandt und geläufig klingt, die »Banalität des Bösen« als Beschreibung von Eichmanns Wesen, den viele Zeitgenossen lieber als Monster sehen wollten, hat massive Anfeindungen ausgelöst – kaum vorstellbar in der Rückschau. Damit entsteht eine Leerstelle in der Graphic Novel, die – hoffentlich – viele Leser dazu bringt, vielleicht einmal einen Teil der Lebens- und Lesezeit mit der Auseinandersetzung mit einem Text Hannah  Arendts zu verbringen.

Das Schaurigste in dem Buch ist jedoch etwas anderes. Arendt gehörte zu jenen, die von den Franzosen interniert und nach Südfrankreich gebracht wurden, als die Wehrmacht angriff. Das allein ist bedrückend genug, für mich noch unangenehmer ist die Reaktion der Insassen auf den Vorschlag Arendts, die kurze Phase der Unsicherheit, Anarchie nach dem Zusammenbruch des französischen Widerstands zur Flucht zu nutzen – viele blieben und wurden nach Osten deportiert. Sie haben lieber weggesehen, als dem Übel ins Auge zu schauen. Eine Warnung.

Ken  Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt
Aus dem Englischen von Hanns Zischler
dtv 2018
Klappenbroschur 244 Seiten
ISBN: 978-3-423-28208-6

Sabine Adler: Die Ukraine und wir

Eine Watschn, eher ein Faustschlag für die Koalition der ignoranten Selbstgefälligkeit unter Angela Merkel. Sachlich, nüchtern, wohl-informiert, sehr gut argumentierend – eine Wohltat angesichts der grassierenden Selbstzufriedenheit in Deutschland. Cover C.H. Links-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Es ist keine Watschen, die Sabine Adler in ihrem vorzüglichen Buch austeilt, sondern ein Faustschlag. Empfänger des Hiebes ist vor allem die SPD, wenngleich insbesondere die langjährige Bundeskanzlerin Angela Merkel, das FDP-Duo Linder / Kubicki, der so genannte Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft und pro-putinistisch-russische Trommler einiges um die Ohren bekommen.

Doch tut sich die SPD besonders negativ hervor, aus ganz unterschiedlichen Motiven, in vielfacher Gestalt und Handlungsweise, doch mit insgesamt verheerenden Folgen. Sabine Adler bleibt in ihrem Buch sachlich, nüchtern, schildert ohne Zuspitzungen oder gar unseriösem Geklingel, was viel dazu beiträgt, dass ihre Erkenntnisse wie eine durchschlagende Gerade wirken.

An dieser Stelle werde ich darauf verzichten, die weite Spanne der Themen und Aspekte nachzubeten, die Adler in Die Ukraine und wir berührt. Wer sich für Politik interessiert und in den letzten fünfundzwanzig Jahren nicht im Tiefschlaf der Selbstzufriedenheit zugebracht hat, wird vieles ohnehin kennen – nicht aber in dieser geballten, wunderbar zusammengestellten und vielschichtigen Form. Die gibt den Blick auf eine Entwicklung frei, für die der Begriff »Versagen« viel zu harmlos wirkt.

Die Wurzeln reichen tief. Sie beginnen bei dem, was heute als »Ostpolitik« Willy Brandts missverstanden oder bewusst falsch dargestellt wird, wenn etwa ignoriert wird, dass Brandt mit einer Bundeswehr im Rücken nach Osten fuhr, die mit vier Prozent des jährlichen Bruttoinlandsproduktes finanziert wurde, weit mehr als das Doppelte dessen, was Schröder-Merkel-Scholz-Deutschland auszugeben bereit war bzw. ist.

Brandt ging mit dem Rückenwind einer schlagkräftigen Armee im Rahmen eines verteidigungsfähigen Bündnisses nach Osten, weshalb die so genannte »Entspannungspolitik« keine verheerenden Folgen zeitigte, wie das sozialdemokratische Appeasement der Gegenwart. Und doch gab es schon da jene Strukturen, die auf die dunkelsten Zeiten deutsch-russischer Zusammenarbeit deuteten.

Adler verweist dankbarerweise auf Rapallo und den Hitler-Stalin (bzw. Molotow-Ribbentrop)-Pakt, die jene bis heute spürbare Ignoranz gegenüber den mittelosteuropäischen Staaten, namentliche Polen, Baltikum, Belarus und Ukraine (zuzüglich Rumänien) begründeten. Die Geschichtsblindheit der Genossen der Gegenwart ist ein Echo dieser fürchterlichen Zeiten – trotzdem sind viele in Deutschland empört, wenn die Übergangenen sich mit scharfen Worten melden.

Polen beispielsweise hat jedes Recht, Deutschland scharf zu kritisieren – das war eben nicht nur die PiS, die ablehnende Haltung reicht weit. Kein Wunder, ist doch zum Beispiel die SPD Anfang der 1980er Jahre mit banger Angst gegenüber der revoltierenden polnischen Arbeiterbewegung (!)  Solidarność aufgetreten, sie setzte auf Systemstabilität! Wen kratzt schon der Freiheitswille der Völker?

Vor allem Gerhard Schröder, aber auch Helmut Schmidt, Egon Bahr und der ewige Friedensapostel Erhard Eppler haben diese kolonialistische Sicht auf Mittelosteuropa gepflegt. Doch auch die Nachfahren, Gabriel, Schwesig, Platzeck und viele andere haben sich das Weltbild zu eigen gemacht und trotz des russländischen Angriffskrieges nicht korrigiert.

Dabei wäre allerspätestens 2014, mit der militärischen Besetzung der Krim und russländischen Truppen im Donbas der Punkt erreicht gewesen, alles infrage zu stellen und einen Politikwechsel, ja: Zeitenwende einzuleiten.

Das geschieht bis heute nicht. Merkel etwa hat ohne Not die verfluchte Ostseepipeline Nordstream 1 nicht gekippt und sogar Nordstream 2 durchgedrückt – gegen alle Widerstände aus West- und Osteuropa. Deutsche Sonderwegs-Pfade im 21. Jahrhundert, die ganz dringend aufgearbeitet werden müssten. Das wird wohl ein frommer Wunsch bleiben.

Doch bieten vorzügliche Bücher wie Die Ukraine und wir eine Möglichkeit, sich selbst wenigstens auf persönlicher Ebene mit den Fragen auseinanderzusetzen. Allein der Titel ist ein Grund, zu danken, rückt er doch das ewige Objekt im deutsch-russischen Spielchen dorthin, wohin es spätestens seit 2022 gehört: in den Mittelpunkt.

Sabine Adler: Die Ukraine und wir
Ch. Links Verlag 2022
Hardcover 248 Seiten
ISBN 978-3-96289-180-0

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