Nachtmahr

Eine Kugel pfiff an Joshuas Kopf vorüber, er spürte ihren
Lufthauch auf der Haut wie das Streicheln einer zarten
Hand, der Hand des Todes.
Vergeblich versuchte er, seinen Körper noch dichter an den
Felsen zu pressen. Allzu gern wäre er mit ihm verschmolzen,
stattdessen stachen die Spitzen des Steins schmerzhaft in
seinen Rücken. Sein blutdurchtränktes Hemd bot dagegen
so wenig Schutz wie gegen die Kugeln.
Eine würde ihn treffen.
Vielleicht schon die nächste.
Rauchschwaden trieben gleichmütig vorüber und bissen
ihn in die Nase, ließen seine Augen tränen und das Atmen
zur Qual werden.
Im gräulichen Dunst verschwammen alle Konturen.
Handelte es sich bei den verwaschenen Gestalten um Feinde
oder um Freunde?
Auf Hilfe brauchte er nicht zu hoffen. Seine Freunde
konnten ihn nicht sehen und der Schlachtenlärm hätte seine
Rufe verschluckt, wenn er denn in der Lage gewesen wäre, zu
schreien. Seine Kehle war vor Angst wie zugeschnürt.
Was hatte ihn bloß getrieben?
Er war allen anderen vorangestürmt, direkt gegen die
feindliche Stellung, mitten hinein in das Gewehrfeuer,
brüllend und mit einer Entschlossenheit, als könnten ihm
die Kugeln nichts anhaben.
Doch das konnten sie.
Ein Geschoss hatte ihn am linken Arm getroffen, wie ein
Schlag oder Stoß mit einem stumpfen Knüppel hatte es jäh
seinen Sturmlauf gestoppt und ihn von den Beinen gerissen.
Benommen hatte er sich wieder aufgerichtet und bemerkt,
dass sein linker Arm nicht mithalf. Er hatte ihn verwundert
betrachtet, zugesehen, wie sich der Stoff seines Hemdes
dunkel färbte, als gösse jemand Wasser darüber. Die ersten
Tropfen waren auf den Boden gefallen, der Staub hatte sie
aufgesogen. Blut. Sein Blut.
Ich bin getroffen!, hatte er entgeistert gedacht.
Wie ein verwundetes Tier war er zu der Felswand ge-
krochen, getrieben von einem einzigen Gedanken: Ich
muss den schützenden Stein unbedingt erreichen.
Das hatte er tatsächlich geschafft, saß seitdem aber end-
gültig fest. Seine Rettung erwies sich als Falle, aus der er
nicht lebend herauskommen würde.
Eine weitere Kugel sauste höhnisch jaulend heran, riss
ihm eine blutige Schramme in die Kopfhaut. Panik flammte
auf. Sie hatten ihn! Die nächste Kugel würde ihn töten.
Joshua musste seine gesamte Kraft aufwenden, um nicht
zusammenzusacken oder nach vorn zu fallen. Es wäre sein
sofortiger Tod. Er röchelte, presste verzweifelt die Waffe an
seine Brust.
Das Gewehr!
Ein Hoffnungsschimmer glomm in ihm auf. Er konnte
sich wehren! Kaum hatte sich dieser Gedanke geformt,
verblasste er auch schon wieder. Sein linker Arm hing
schlaff hinab, als gehörte er nicht mehr zu ihm, wäre bloß
übergestreift wie der leere Ärmel einer Jacke.
Wieder sauste eine Kugel vorüber und schlug direkt vor
seinen Füßen ein. Die Feinde befanden sich oberhalb von
ihm, auf den Felsen, von denen aus sie ihn unter Feuer
nahmen. Ein kleiner Vorsprung über seinem Kopf hatte
ihn bislang vor dem Tode bewahrt.
Er durfte sich nicht rühren.
Mühsam schwenkte er den Gewehrlauf ein wenig nach
oben. Hatte er seine Waffe überhaupt geladen? Er wusste
es nicht. Und was würde das ändern? Er konnte nicht
schießen. Er würde es niemals können. Nicht auf einen an-
deren Menschen.
Eine Kugel prallte neben seinem Kopf vom Felsen ab
und heulte nach oben davon. Er spürte die kleinen Stein-
splitter auf der Haut. Das Geschoss war nicht von oben
herangejagt wie die anderen.
Überrascht schaute Joshua nach rechts. Fünfzehn, zwan-
zig Schritte von ihm entfernt, von den Rauchschwaden
halb verborgen, standen zwei Schatten.
Feinde.
Unwillkürlich drehte er den Körper etwas zur Seite
und machte einen Schritt nach vorn, aus seiner Deckung
heraus, und hob den Lauf seines Gewehres. Eine letzte,
törichte Geste.
Im Rauch blitzte es, einen Wimpernschlag später hieb
etwas gegen seine linke Brust, riss ihn nach hinten. Er
wirbelte herum, taumelte, stürzte und fiel auf den Rücken.
Der Aufprall raubte ihm fast das Bewusstsein, während
sein Oberkörper von innen in Flammen zu stehen schien.
Er war erneut getroffen worden – diesmal durch das
tödliche Geschoss.
Mit schwindendem Bewusstsein nahm er wahr, wie weitere
Kugeln um ihn herum einschlugen. Vielleicht trafen sie
seinen Körper und er spürte nur nichts mehr davon, weil
sich sein Geist bereits löste und gen Himmel fuhr.
Gen Himmel, dachte Joshua, lächerlich!
Da schob sich ein Schatten in sein Gesichtsfeld. Zu-
nächst konnte er wenig mehr als den dunklen Umriss eines
Kopfes erkennen, der sich langsam zu ihm hinabbeugte,
ehe sich ein Gesicht aus den gräulichen Schwaden schälte.
Einige Zöpfchen waren in einen mächtigen schwarzen
Bart eingeflochten, die spitze Nase stieß auf ihn herab, wie
der Schnabel eines Raubvogels. In den mitleidlosen Augen
schimmerte Genugtuung.
Eine schreckliche, schwarze Stille breitete sich in Joshua
aus. Nach einigen Momenten richtete sich die Gestalt wieder
auf und stellte ihm auf seinem Weg in die Dunkelheit
eine letzte Frage:
»Hast du wirklich geglaubt, du könntest mir entkommen?«
Plick!
Joshua fuhr aus dem Schlaf. Er riss die Augen auf und
keuchte, als wäre er gerade den langen Weg vom Zuckerbäcker
nach Hause gerannt. Sein Nachthemd klebte an der
schweißbedeckten Haut. Beklommen tastete er mit der
rechten Hand über seinen Brustkorb.
Nichts.
Kein Schmerz.
Keine Wunde.
Er hob den linken Arm – keine Wunde.
Erleichtert schloss Joshua die Augen.
Ein Traum.
Ein verfluchter Albtraum!
Nichts weiter.
Nichts weiter?, dachte er bitter.
Albträume verfolgten ihn fast jede Nacht, seit er in
Boston eingetroffen war. Der gerade durchlebte war einer
der besonders unangenehmen, denn er starb am Ende unter
den selbstzufriedenen Blicken dieses Bärtigen.
Joshua wusste, wer ihm ins Gesicht geschaut hatte:
John Black, genannt Eisenkralle. Der ehemalige Kaper-
fahrer von Queen Anne und King George und langjährige
Pirat, der grausamste seiner Zunft.
Er hatte Black nur ein einziges Mal gesehen. Im fahlen
Morgenlicht, auf viele Meter Entfernung durch einen mil-
chig-bläulichen Nebel hindurch, am Kai des Felsenhortes,
als er sich mit Jeremiah auf dem Dachboden des Treibanker
versteckt und halb benommen vom Schrecken über den
Angriff dem Treiben zugeschaut hatte.
Blacks Gesichtszüge waren auf die Distanz nicht zu er-
kennen gewesen, seine Phantasie fügte in eigener Regie
welche hinzu.
Joshua begegnete Black nur selten in seinen Albträumen.
Manchmal glichen sie verzerrten Erinnerungen an die
Gefechte auf dem Felsenhort und Castelduro, in denen
seine Freunde von Kanonenkugeln in Stücke gerissen oder
Gewehrkugeln niedergestreckt wurden.
Er, Joshua, stand dann abseits. Hilflos, unbewaffnet oder
mit gesenkter Klinge und wie am Boden festgewachsen
sah er dem Gemetzel zu, hörte die verzweifelten Hilferufe.
Retten könnte er seine Freunde nur mit einer Waffe in der
Hand und wenn er in der Lage wäre, diese zu gebrauchen.
Plick!

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