Rückkehr nach Castelduro
Als das Krähennest Castelduro meldete, richteten sich die
Augen aller an Bord der Chatou nach vorn, obwohl sich am
Horizont kaum mehr als der winzige Schattenriss des Ei-
lands abzeichnete.
Pete befahl Gefechtsbereitschaft. Unter den sich im Wind
stolz bauchenden Segeln verwandelte sich das Hauptdeck in
ein wirbelndes Durcheinander. Männer hasteten auf ihre
Posten, unter Deck machten die Geschützbedienungen ihre
Kanonen bereit, Pulver wurde eilig herangeschleppt, wäh-
rend jede freie Hand nach Gewehr, Pistole und Säbel griff.
Mit grimmiger Zufriedenheit verfolgte Pete vom Ach-
terdeck aus, wie die Männer seine Anweisungen ausführten.
Noch immer hegte er ein gewisses Misstrauen gegenüber
der Mannschaft, waren doch die meisten Seeleute lange
Jahre unter dem Kommando von Blutlocke auf der Beast
über die Meere gefahren und hatten an zahllosen Über-
fällen und Raubzügen teilgenommen. Nur wenige waren
zwangsweise rekrutiert worden, ohne die Niederlage vor
dem Felsenhort wären sie noch immer Piraten.
Wie loyal waren sie also ihm gegenüber?
Als erfahrener Kaperfahrer und Seemann wusste Pete
genau, wie er mit diesen Männern umzugehen, mit ihnen
zu reden hatte. Auf dem Felsenhort hatte er mit jedem
einzelnen von ihnen gesprochen, um sie kennenzulernen
und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich von ihrem neuen
Kapitän ein Bild zu machen.
Jetzt aber nahte der Zeitpunkt, an dem sich die Mann-
schaft möglicherweise bewähren musste; zumindest der
erste Eindruck war ermutigend, doch blieb Pete wachsam
und behielt die ehemaligen Piraten im Auge.
»Schiff klar zum Gefecht, Kapitän!«, meldete Maat
Higgins, einer der wenigen Männer, die aus der Mann-
schaft der Schwarze Wolke auf die Chatou gewechselt waren.
Es klang noch immer unwirklich. Kapitän! Er, der Junge
ohne Zukunft aus einer Familie ohne Vergangenheit war
Kapitän eines Schiffes.
Begleitet von einem stummen Fluch verscheuchte Pete
den aufkeimenden Stolz, der sich immer zum falschen
Zeitpunkt einstellte, und eilte zum Bug. Jeremiah folgte
ihm. Beide richteten ihre Fernrohre auf die Insel, um mög-
lichst früh jede denkbare Gefahr auszumachen.
Wie immer war Chatou nicht fern und hockte auf der
Schulter seines Freundes – ohne Fernrohr versteht sich, was
ihn nicht davon abhielt, Jeremiahs Armbewegung nachzu-
ahmen und beide Pfoten vor die Augen zu halten.
Niemand wusste, wie es um Castelduro stand. Waren
Eisenkralle und seine Leute zurückgekehrt? Aus Blutlocke
war nichts herauszubekommen, er grinste nur höhnisch und
schwieg. Die ehemaligen Piraten der Beast behaupteten,
Black hätte es vorgezogen, auf einen anderen Stützpunkt
auszuweichen; einige wollten sogar wissen, er hätte Castelduro
ohnehin aufgeben wollen.
Selbst wenn das stimmen sollte, konnte er einen Er-
kundungstrupp dorthin ausgesandt und eine Besatzung
zurückgelassen haben. Vielleicht lag auch eines seiner
Schiffe auf der Lauer, um ihnen wie beim Felsenhort eine
Falle zu stellen. Niemand konnte ausschließen, dass andere
Piraten oder wer sonst noch die Karibik in diesen Zeiten
befuhr, auf der verlassenen Insel Fuß gefasst hatten.
Es gab genug Gründe, besondere Vorsicht walten zu lassen.
Während Pete und Jeremiah Castelduro vom Bug aus an-
gespannt beobachteten, blieb Joshua auf dem Achterdeck,
wo er sich meistens aufhielt, wenn er einmal die Kapitäns-
kabine verließ.
Die Mannschaft begegnete ihm mit Ablehnung, in seiner
Gegenwart schien die Luft manchmal regelrecht zu vereisen.
Diese Männer erinnerten sich nur zu gut daran, wem Blut-
locke seine Niederlage zu verdanken hatte. Trotz allem war
das auch ihre Niederlage und sie lasteten sie ihm an.
An Bord der Chatou fühlte sich Joshua fremd, mehr
noch als während seiner ersten Tage auf der Schwarze Wolke.
Entsprechend erleichtert hatte er den Alarmruf aus dem
Krähennest vernommen, denn auf Castelduro würde sich
seine Lage endlich bessern. Das hoffte er zumindest.
Mit der Rückkehr zu Blacks ehemaligem Stützpunkt
verbanden sich nicht nur für ihn große Hoffnungen. Dort
lag die halb zerstörte Schwarze Wolke, von der alle hoff-
ten, sie wieder flottmachen zu können. Die Lagerhäuser
waren voller Beute, die Eisenkralle bei seiner Flucht hatte
zurücklassen müssen. Ihr Verkauf würde genug Geld für
die Verwirklichung ihrer Pläne bringen. Mit etwas Glück
fand sich auch ein Hinweis darauf, wo sie nach Black und
seinem Stützpunkt suchen mussten; auch bei dieser Frage
schwieg Bluntsorn beharrlich.
Näher und näher kam das Eiland. Pete und Jeremiah
setzten ihre Fernrohre nur noch ab, wenn sie ihren Augen
eine Pause gönnen mussten. Joshua reckte auf dem Achter-
deck den Hals, um über die vielen Köpfe hinweg etwas zu
erkennen, ohne eigenes Fernrohr eine vergebliche Mühe.
Ab und zu wandte er sich zur Marie. Die kampfstarke
Chatou hatte die Vorhut übernommen, einem Feind würde
sie als Erste gegenübertreten. Sollte die Insel besetzt sein
und sie von einem überlegenen Gegner angegriffen werden,
würden beide Schiffe sofort abdrehen und fliehen; notfalls
sollte Petes Schiff den Rückzug decken.
Mehr als einmal hatte Joshua mit dem Gedanken ge-
spielt, auf die Marie zu wechseln. Dort fühlte er sich wohl,
er beherrschte die Sprache, die Franzosen behandelten ihn
freundlich. Sie hatten nicht zuletzt dank Joshuas Einfalls-
reichtum ihre Freiheit zurückgewonnen und anders als die
ehemaligen Piraten durch ihn keine Freunde und Kamera-
den verloren.
Dennoch blieb er lieber in der Nähe von Jeremiah,
dies war ihre letzte gemeinsame Fahrt und Joshua hielt
es nicht für ausgeschlossen, dass sein Freund trotz seines
Versprechens nicht mit nach Boston käme.
Und täte er es, würde er bleiben?
Es war schwer vorstellbar, dass Jeremiah sich in ein Le-
ben einpassen könnte, das ihm so fremd war wie Joshua
das der Seefahrer. Er spürte den Graben zwischen sich
und der Mannschaft, Jeremiah würde es in Boston genau-
so ergehen.
Und er, Joshua, würde er sich fügen? Die Regeln im
Hause Heat, Mrs. Norways Regiment, Wilson, die Diener-
schaft. Wie würde man ihn behandeln, nach allem, was er
erlebt hatte? Würde er es ertragen, den Belehrungen von
Dr. Penbult zu folgen, wenn der ihm Dinge beibringen
wollte, die mit dem realen Leben wenig zu tun hatten?
Latein? Wozu Latein?
Joshua musste unbedingt weg von der Chatou, doch die
Aussicht, nach Boston zurückzukehren, war nebeltrüb,
auch wenn er dort wieder in Sicherheit wäre. Er fühlte sich,
als stünde er mit einem Fuß in seiner alten und mit dem
anderen in einer neuen Welt; nach vorn konnte er nicht,
also musste er notgedrungen zurück, was er nicht wollte.
Auf Castelduro würde sich entscheiden, wie es weiter-
gehen sollte. Es war geplant, dass er und Jeremiah mit der
Marie nach Charles Town führen, wo Blanc wieder »Ge-
fälligkeiten« erweisen und bei dieser Gelegenheit die Beute
verkaufen wollte. Joshua könnte dort erneut behilflich sein,
ehe er schließlich nach Boston zurückkehren würde. Joshua
Walther Frederic Heat, weitgereister Mitbesitzer eines
Schiffes, Pulvernässer, Feigling, Ideenkönig und Liebes-
bekümmerter – die Salons der Stadt würden sich um ihn
reißen.
Jeremiah und Pete kehrten unterdessen auf das Achter-
deck zurück. Joshua bemerkte sie nicht sogleich, weil er
hinüber zur Marie blickte und seine Gedanken mittler-
weile bei Alba angekommen waren; abwesend betastete er
das Kreuz, das er an der silbernen Kette trug, fühlte ihren
Brief unter seinem Hemd.
Ein Teil von ihm wäre lieber nach San Agustín gefahren
und nicht mit nach Charles Town und Boston. Doch was
würde ihn dort erwarten? Er sehnte ein Wiedersehen mit
Alba herbei, fürchtete es jedoch zugleich, denn auch die
abweisenden Augen Doña Elenas waren unvergessen. Sie
hatte zu ihm kein böses Wort gesagt, doch das war auch
nicht nötig gewesen.
Er hatte Alba nach ihrer Begegnung im Castillo de San
Marco nicht mehr gesehen. Sicher hatte Doña Elena alles
dafür getan, das zu verhindern und würde es auch weiterhin
tun. Seine Hoffnungen waren Träumereien, auf Castelduro
würde also nicht nur ein Abenteuer enden. Es war Zeit,
auch in dieser Hinsicht Abschied zu nehmen.
Ein Räuspern in seinem Rücken riss ihn in die Gegen-
wart zurück. Er fuhr herum und sah Jeremiahs Grinsen und
Petes leichtes Kopfschütteln. Eine unangenehme Wärme
stieg in sein Gesicht.
Verlegen schaute Joshua wieder nach vorn, wo mehr und
mehr Einzelheiten von Castelduro zu erkennen waren.
Pete und Jeremiah nahmen ihre Fernrohre wieder auf
und beobachteten die verwaisten Befestigungsanlagen
entlang des aufsteigenden Bergrückens; augenscheinlich
hatte niemand die Beschädigungen beseitigt, die beim
frühmorgendlichen Angriff der Schwarze Wolke in die
Mauern gerissen worden waren.
Auf dem Hauptdeck herrschte nun eine tiefe Stille, als
käme es darauf an, keinen Laut zu verursachen. Jedermann
war bereit, die friedlich dahinsegelnde Chatou in ein feuer-
speiendes Ungetüm zu verwandeln, sollte sich ein Feind
zeigen.
Auf den Mauern blieb jedoch alles ruhig, es wurden
keine Rohre zwischen die Zinnen geschoben, bereit ihre
tödlichen Geschosse auf die beiden nahenden Schiffe ab-
zufeuern.
»Die Insel sieht völlig verlassen aus«, sagte Jeremiah
nach einer Weile, in der niemand an Bord ein Sterbens-
wörtchen gesagt hatte.
»Irgendwo wird schon jemand sein«, brummte Pete.
Alle hielt die Anspannung fest im Griff, auch die See-
leute, die lange unter Blutlocke gedient hatten. Nicht wenige
von ihnen fürchteten, Eisenkralle könnte die Insel erneut be-
setzt haben, die Chatou wieder in seine Gewalt bringen und
Rache für das üben, was er als Verrat ansehen mochte.
Selbst Chatou war still, für seine Verhältnisse.
Mittlerweile ahnte man halb verborgen vom Morgen-
dunst die massiven Mauern des Castillo de San Felipe.
Pete gab den Befehl, einige Segel einzuholen. Die Chatou
verlangsamte ihre Fahrt.
»Alles wie ausgestorben«, murmelte er.
»Ich habe auch niemanden entdeckt«, sagte Jeremiah.
»Wenn sich jemand auf Castelduro befindet, muss man
uns längst bemerkt haben. Ich kann mir auch nicht vor-
stellen, dass niemand Wache hält.«
»Vielleicht ist es eine Falle.«
»Das werden wir bald erfahren.« Pete sprach in gleich-
mütigem Tonfall, seine Miene aber blieb ernst. Der Hin-
terhalt beim Felsenhort steckte ihm noch in den Knochen.
»Wir bleiben lieber wachsam.«
Wenig später glitt die Chatou in den Hafen, die Marie
blieb zurück und ging in sicherem Abstand zu der Insel vor
Anker. Blanc und Pete hatten vereinbart, dass sie nach-
kommen würde, sobald es gefahrlos möglich war.
Jeremiah kehrte wieder zum Bug zurück und beobach-
tete, wie sich die Chatou vorsichtig in das Hafenbecken
schob. Keine Sperrkette hinderte das Schiff an der Ein-
fahrt. Sie war nicht gespannt worden und ruhte unter der
Wasseroberfläche. Auf dem Hauptdeck drängten sich die
Männer, bewaffnet und bereit. Es herrschte eine Stille wie
vor dem ersten Donnerschlag eines Gewitters; wachsam
spähte jedermann umher, auf der Suche nach einem An-
zeichen von Gefahr.
Doch nichts, alles blieb ruhig.
Im Hafen dümpelten nur einige Fischerboote und ein
kleiner Segler, der ausreichen mochte, um die nächstgrößere
Insel zu erreichen. Die wenigen Menschen dort, einige
Fischer und Käufer ihres Fangs, starrten die Chatou groß-
äugig an, von deren Deck die Blicke nicht minder über-
rascht erwidert wurden.
»Sag ich doch, dass jemand hier ist. Sie haben wirklich
keine Wachen aufgestellt«, wunderte sich Pete. Sein Blick
wanderte entlang der Befestigungsanlagen. »Nirgends.«
»Keine Piraten«, meinte Jeremiah.
Pete gab zunächst nur einen Brummlaut von sich, aber
nach einem letzten wachsamen Rundblick richtete er sich
auf.
»Wie es aussieht, haben wir Glück gehabt.«
Die Erleichterung wehte wie eine kühle Böe über das
erhitzte Deck, auch wenn Pete die Gefechtsbereitschaft
noch nicht ganz aufhob. Die Männer hielten ihre Waffen
griff- und schussbereit. Blanc wurde ein Flaggensignal ge-
geben, dass die Marie unbehelligt in den Hafen einfahren
konnte. Die Kanonen verschwanden rumpelnd im Rumpf,
die Geschützpforten schlossen sich, während die Chatou
die letzten Meter zum Kai zurücklegte, um dort anzulegen.
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