Was für ein genialer Roman! Ich habe mir bewusst Zeit gelassen für die Lektüre dieses 1.600 Seiten starken Opus Magnum und es hat sich gelohnt. Cover Fischer-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Ich stelle mir den Leser als Baumstamm vor, der in einem gewaltigen Fluss treibt, den Dutzende von großen, hunderte von mittleren und kleinen und ungezählte unsichtbare Zuflüsse speisen. Gemächlich treibt der Leser mit der Strömung dem Meer entgegen, während er voller Staunen beobachtet. Nicht nur, was an den Ufern vorüberzieht, sondern was eingespeist wird, Dinge, die im wahrsten Sinne des Wortes weithergeholt sind.

So ließe sich meine Lektüre des Opus Magnum von Javier Marías am besten beschreiben. Der 2022 verstorbene Autor hat mit Dein Gesicht morgen ein gewaltiges Werk geschaffen, für das der Begriff »ungewöhnlich« nicht annähernd ausreicht. Eine Handlung gibt es auf den rund 1.600 Seiten auch, sie wäre in wenigen Sätzen erzählt.

Marías lässt aber den Gedanken und Assoziationen seiner Hauptfigur freien Lauf und diese nutzen den Freiraum für ausgedehnte Exkursionen, von denen sie bisweilen erst nach einigen Kapiteln zu dem zurückkehren, was man Handlung nennen könnte. Die Verknüpfungen sind bisweilen verblüffend.

Auf der Suche nach einer Person dringt der Erzähler in eine Damentoilette ein, ein schönes Gesicht lässt ihn über ausgedehnte Umwege auf den Gedanken kommen, die Frau hätte ihrem Aussehen etwas nachgeholfen; eine Gedankenkette windet sich weit hinein in Zeit und Raum, um bis zu der SS-Größe Reinhold Heydrich vorzudringen. Das Bindeglied: Botox. Botulinum Toxin. Für den einen tödliches Gift, für die andere ein Faltenglätter.

Was wäre ein Opus Magnum ohne Thema? Mit Heydrich ist bereits ein wichtiger Fingerzeig gegeben, um was es geht. Gewalt. Irgendwann stellt eine Person aus dem Umfeld die banal klingende Frage, warum man nicht einen anderen Menschen schlagen, ihn töten könne. Ja, warum eigentlich nicht? Warum sollte man nicht brutale, menschenverachtende Gewalt ausüben?

Es geht um die Schatten des menschlichen Lebens, der Kriege, die geführt werden und wie das geschieht. Natürlich liegt der Gedanke an den 11. September 2001 nahe, in dessen Folge die USA zwei Angriffskriege führten und selbst tief in den Schatten hineinglitten – etwa durch Abu Ghraib. Dein Gesicht morgen weiß dazu eine Menge zu erzählen, gerade auch einem Baumstammleser, der vorübertreibt und staunt.

Ganz so leicht lässt der Autor den Leser nicht entkommen. Er treibt nicht einfach, gemächlich ins Meer. Der letzte des dreiteiligen Werkes ist handlungsstärker, um im Bild zu bleiben: Die Ufer rücken nahe, der Flußlauf beschleunigt sich, Steine liegen im Flussbett und verwirbeln das Wasser, man läuft Gefahr, sich zu verletzen – ehe ganz am Ende die Dinge vom Anfang erneut aufgegriffen werden, ein riesiger Bogen, der sich über die ganze Handlung hinwegschwingt, wieder den Boden berührt.

Javier Marías: Dein Gesicht morgen
aus dem Spanischen von Elke Wehr und Luis Rub
FISCHER  2022
Taschenbuch 1632 Seiten
ISBN: 978-3-596-70344-9