Dieser Roman hat mir erstmals eine Enttäuschung bereitet, trotz des Prix-Goncourt konnte er mich nicht überzeugen. Cover btb, Bild mit Canva erstellt.

Der Roman Dann schlaf auf du, ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, hat mich enttäuscht. Er fängt geradezu billig an, ein schockierender Moment, auf den die retrospektiv gestrickte Handlung zuläuft. Mit diesem Kniff wird der Leser bei der Stange gehalten wie ein Esel, der hinter einer Möhre vor seiner Nase hertappt. 

Leider ist auch die Auflösung einigermaßen misslungen. Das Motiv der Täterin wirkt konstruiert und sachlich zweifelhaft, ihr tödlicher Akt übertrieben und aus dem, was im Roman beschrieben wird, nicht vollständig nachzuvollziehbar.

Zum Glück bleibt es zwischen dem blutigen Bug und Heck des Romans interessant. Slimani hat keinen Psychothrillers im Stile des Films Die Hand an der Wiege von 1992 geschrieben, sondern ein karstiges, sprachlich erstaunlich schlichtes Sammelsurium an Handlungen, eingeflochtenen Rückblenden und Abfolgen grenzwertiger bzw. übergriffiger Aktionen.

Stärken zwischen blutigem Bug und Heck

Und doch hat der Roman seine Stärken, die ihn trotz der vorgebrachten Kritik lesenswert machen. Wer einmal angefangen hat, kann sich der Sogwirkung der Handlung nicht entziehen. Wir sind eben doch alle Lesel (Leser + Esel) und folgen brav den Verlockungen der Möhre. Doch gibt es noch viel mehr. 

Slimani zeigt am Beispiel von Myriam und Paul Massé, was unter hochglänzenden Lügen über erfolgreiche Jungfamilien steckt, die ihr Leben zwischen Beruf, Ehe und Erfolg im Griff haben und nichts anderes als glücklich zu sein scheinen. Es geht unter die Haut, allerdings keineswegs überemotional oder schwärmerisch, sondern nüchtern und oft abstoßend.

Die Akteure machen viel richtig. Sie reflektieren ihre Handlungen und Fehler, sprechen miteinander und versuchen, Lösungen zu finden. Und doch verstricken sie sich immer stärker in das nahende Unheil, das Schatten wirft, die bagatellisiert oder ignoriert werden.

Den Erfolgreichen zur Seite und auch gegenüber stehen jene, deren Leben dazu dienen, den Bessergestellten die Steine aus dem Weg zu räumen, der zum beruflichen Erfolg führt. Sie haben viele Gesichter und werden von Slimani mit der gleichen Distanz und präzisen Beobachtung geschildert, wie die Erfolgreichen.

Louise, die Kinderbetreuerin (und Mädchen für alles) der Massés, ist weiß und damit eine Ausnahme unter den Nounous, die Wurzeln in vielen Ländern außerhalb Frankreichs haben. White Trash, könnte man sagen, denn sie gehört zu jenen Existenzen, die als »sozial schwach« gelten.

Slimani mischt noch eine weitere Kehre in die Personen hinein, denn die Myriam hat nordafrikanische Wurzeln und ist – im Gegensatz zum gängigen Weltbild – in diesem Buch die erfolgreiche Aufsteigerin.

Keine Problemlösung

Niemand kann eigentlich genau sagen, woher die Probleme kommen, geschweige denn, wie sie sich lösen ließen. Darum geht es in „Dann schlaf auch du“ nicht, sondern um die (Selbst-)Lügen, die alles verschärfen. Und darum, dass selbst gut gemeinte Hilfsangebote ins Leere laufen können. So wie Louise, die Kinderhüterin und selbstherrliche Herrin über deren Leben, in diesem Fall.

Es gibt in diesem Buch keine einzige durchweg positive Figur, Rettung naht von nirgends. Slimani lässt zum Beispiel eine Schwiegermutter der Massés sich einmischen, in himmelschreiend bigotter Manier, zum Teil motiviert durch eigene (unerfüllte) Wünsche, Pläne und Vorstellungen. Konsequenzen werden nicht gezogen, bestenfalls angedroht, aus einer spontanen, schnell verlöschenden Neigung heraus.

Um ihre Schwiegertochter auf die Palme zu bringen, nennt sie die Kinder “meine aus dem Nest gefallenen Vögelchen”. Sie bemitleidet sie gerne dafür, dass sie in der Stadt leben, inmitten von Schmutz und Achtlosigkeit. Sie möchte den Horizont dieser Kinder erweitern, die dazu verdammt sind, korrekte Leute zu werden, zugleich unterwürfig und autoritär. Hosenscheißer.

Leïla Slimani: Dann Schlaf auch du

So treibt die Handlung auf das bereits im ersten Kapitel geschilderte Fiasko zu, das in einiger Hinsicht überflüssig wirkt, denn es bringt über die Bluttat hinaus nichts Wesentliches. Die Polizistin, die verstehen will und hartnäckig forscht, könnte als Aufforderung zum genauen Hinsehen verstanden werden. Als Weckruf für eine Nation, deren Eliten es sich bequem gemacht haben, wie ein Säugling eingelullt von einem Wiegenlied.

Der Titel lautet im Original Chanson Douce, also Wiegenlied. Die deutsche Übersetzung verzichtet auf dieses Wort, was wohl zu bieder und nicht verkaufsträchtig genug erschien; stattdessen greift man einen Uralt-Wiegen-Schlager von Heino Gaze, den Heinz Rühmann berühmt machte. Die letzte Verszeile »drum schlaf’ auch du« liefert die Vorlage für den zurechtgeschliffenen Buchtitel.

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du
btb 2018
TB 224 Seiten
ISBN: 978-3-442-71742-2