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Schlagwort: Afrika

Émilie Aubry, Frank Tétart: Die Welt der Gegenwart.

Grundsätzlich ein sehr lobenswerter Ansatz, die für alle Menschen bedeutsame Geopolitik in einem kurzen, informativen und durch viele gute Karten anschaulichen Buch darzustellen. Leider gibt es einige problematische Passagen. Cover C.H. Beck Verlag, Bild mit Canva erstellt.

So bestimmt die Geopolitik mehr und mehr unser tägliches Leben, von der Pandemie über den Krieg in der Ukraine bis hin zum beschleunigten Klimawandel, und eine Serie von Krisen führt zu der Feststellung, dass im 21. Jahrhundert niemand die übrige Welt ausblenden kann.

Émilie Aubry, Frank Tétart: Die Welt der Gegenwart.

Angesichts der dramatischen Umwälzungen in den frühen 2020er Jahren, allein in Europa in Form von Covid-19, dem genozidalen russischen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und dem Terrorangriff der Hamas auf Israel direkt spürbar, ist ein Atlas mit geopolitischem Schwerpunkt grundsätzlich ein sehr begrüßenswertes Vorhaben. Das gilt noch mehr, wenn ein globaler Ansatz verfolgt wird, denn die genannten Disruptionen sind nur ein Teil weltweiter Veränderungen, die fortschreitende Erderhitzung allen anderen vorangehend. Ausblenden lässt sich das alles nur noch mit einiger Mühe.

Die Welt der Gegenwart von Émilie Aubry und Frank Tétart nimmt sich dankenswerterweise vieler Perspektiven an, die auch Leser von großen, überregionalen Tageszeitungen nicht immerverfolgen können. Alle fünf Erdteile werden in den Blick genommen, es ist tatsächlich positiv, dass zum Beispiel Schweden und Polen in Europa oder nicht ganz so oft im Fokus stehende Länder wie Äthiopien oder Australien mit ihren sehr spezifischen Problemen und Sichtweisen ins Bild rücken.

Ein wenig erinnert der Atlas dem »Weltspiegel« in schriftlicher Form. Die vielen übersichtlichen und multiperspektivisch, d.h. nicht nur aus der Sicht Europas gezeichneten Karten, werden von zusammenfassenden Info-Texten begleitet. Selbstverständlich führt diese Herangehensweise zu Verkürzungen und Verzerrungen, die unvermeidbar Analysetiefe vermissen lassen.

Es ist völlig unmöglich, einen Atlas in seiner Fülle an Informationen in einem Beitrag zu würdigen, ohne sich in Plattitüden und Leerformeln zu verlieren. Ausführlich widme ich mich in diesem Beitrag dem Kapitel über Russlands Krieg gegen die Ukraine, und zwar mit einem kritischen Tonfall. Viele dort genannte Aspekte sind in ihrer Darstellung fragwürdig, sie atmen an einigen Stellen das Propaganda-Gedröhn des Kreml, was bei etwas mehr (sprachlicher) Sorgfalt hätte vermieden werden können.

Sprache ist ein gutes Stichwort, denn Die Welt der Gegenwart setzt mittelbar »russischsprachig« mit »prorussisch« gleich. Die Trennung der Sprachen und politischen Ausrichtung in einen westlichen, ukrainischsprachigen und prowestlichen und einen östlichen, russischsprachigen und prorussischen Teil entspricht  dem Propaganda-Narrativ des Kreml und dem Bedürfnis nach einfachen Zuschreibungen, ist aber falsch.

Die russische Sprache gehört uns, wir geben sie Putin nicht her.
(Oleksiy Radynski)

»Alles ist teurer als ukrainisches Leben«

Man könnte es sich einfach machen und auf die vielen Millionen russischen Muttersprachler in der Ukraine verweisen, die gegen Russlands Invasion kämpfen oder Opfer von dessen Aggression werden. Aber auch in klugen Beiträgen ukrainischer Autoren (Alles ist teurer, als ukrainisches LebenAus dem Nebel des Krieges), russischprachiger ukrainischer Schriftsteller (Andrej KurkowTagebuch einer Invasion) oder den Büchern von westlichen Historikerinnen wie Gwendoly Sasse, die von »kontextabhängiger Bilingualität« sprechen, wird ein differenzierteres und wirklichkeitsnäheres Bild gezeichnet.

Richtig ist, dass der Kreml die angebliche Kombination aus russischsprachig und prorussisch nutzt, um Einfluss auf ehemalige Sowjetstaaten auszuüben, und zwar als vorgeschobene Rechtfertigung für eine aggressive Politik der Einmischung bis hin zur Annexion. Der folgen Deportationen, Filtrations- bzw. Folterlagern, in denen jene, die keine Russen sein wollen, mit Gewalt zu solchen gemacht werden, sowie die Ansiedlung von ethnischen Russen – alles in wohlbekannt stalinistischer Tradition.

Das alles verschwindet hinter der Begrifflichkeit, die in Die Welt der Gegenwart verwendet wird. Das gilt auch für den sorglosen Gebrauch von Begriffen wie »Ukrainekonflikt« bei gleichzeitiger Vermeidung der zutreffenden Begriffe wie Vernichtungskrieg und Angriffskrieg. Mit nebulösen Formulierungen wie der nachfolgenden wird der Eindruck erweckt, beide Seiten begingen im gleichen Maße Kriegsverbrechen.

In den Augen der Europäer ist dies die Rückkehr eines Territorialkrieges, eines »schmutzigen Krieges« samt Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Émilie Aubry, Frank Tétart: Die Welt der Gegenwart.

Russland ist der einzige Aggressor in diesem Krieg, es allein zielt mit Terrorangriffen auf Zivilisten, zivile Infrastruktur und Energieversorgung, außerdem gehen gezielte Massentötungen, Folter, Deportationen von Zivilisten allein auf das Konto russischer Streitkräfte. Der Ukraine wird durch die fehlende Nennung von Ross und Reiter ein ähnliches Maß an Kriegsverbrechen unterstellt.

An anderer Stelle wird ein unzulässiger Zusammenhang zwischen den so genannten Minsker Abkommen und dem im Budapester Abkommen vom Westen und Russland (!) anlässlich der freiwilligen Abgabe der ukrainischen Atomwaffen garantierten Staatsgebiet der Ukraine und der »schwierigen Umsetzung« der des »Vertrages« hergestellt. Die »Kontrolle  ihrer Grenzen« wäre für den »ukrainischen Präsidenten Selinskyi (sic!) eine nicht verhandelbare Vorbedingung für eine Einigung«. Die Rolle von Täter (Russland hat ein ganzes Bündel bestehender Verträge gebrochen) und Opfer wird so vertauscht.

Leider wärmen die Autoren das längst widerlegte Motiv der Nato-Osterweiterung abermals auf. Mit der Aufnahme der baltischen Staaten stünde »von nun an die Nato an den russischen Grenzen und [ließ] das Gefühl der Einkreisung wiederaufleben«. Allein der Begriff der »Einkreisung« (vom »wieder« gar nicht zu reden) ist angesichts der Grenzen mit Kasachstan, der Mongolei und China unangebracht, ebenso, da Russland im Zuge der verheerenden Niederlagen in der Ukraine sämtliche Grenzen mit der Nato militärisch entblößt hat.

Ímmerhin verweisen die Autoren auf die verhängnisvollen Aktivitäten Russlands im Nahen Osten und Afrika, auch wird die Allianz unter Ungleichen mit China beleuchtet und es werden auch die zunehmend dramatischen Folgen für die wirtschaftliche und soziale Lage in Russland erwähnt. Gemeinsam mit den sehr informativen Karten entspricht das dem, was von einem modernen Atlas mit geopolitischem Schwerpunkt zu erwarten wäre, umso bedauerlicher erscheinen die problematischen Darstellungen im Zusammenhang mit der Ukraine.

Wie wichtig sprachliche Genauigkeit ist, zeigt sich auch am Beispiel des sogenannten »Sechstagekrieges«. Die im Buch gewählte Formulierung erweckt den Eindruck, Israel habe einen Angriffskrieg unternommen und dabei »seine heutige territoriale und geopolitische Stellung« erobert. Die vom ägyptischen Präsidenten vorher unternommenen Schritte, Sperrung einer wichtigen Seestraße für israelische Schiffe und Aufmarsch einer mächtigen Angriffsarmee an der Grenze Israels, bleiben unerwähnt.

Letztlich zeigt sich an diesem Beispiel auch, wo die generellen Erkenntnisgrenzen eines Buches wie Die Welt der Gegenwart sind. Wichtig wäre, diese explizit zu nennen und auf weiterführende Literatur oder Webseiten zu verweisen, die umfassender informieren.

[Rezensionsexemplar]

Émilie Aubry, Frank Tétart: Die Welt der Gegenwart.
Ein geopolitischer Atlas
Aus dem Französischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube
C.H.Beck / arteEDITIONS 2024
Klappenbroschur 224 Seiten
ISBN: 978-3-406-81404-4

Wolfgang Herrndorf: Sand

Ein wilder, brutal-ehrlicher und zielstrebiger »Wüstenroman«, der bar aller Romantisierung den Zufall zum Herrn über Leben und Tod macht. Cover Rowohlt-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Alle Menschen müssen sterben. In der Regel liegt der Zeitpunkt des Todes in einer unbestimmten Zukunft. Es gibt Ausnahmen: Freitod; Hinrichtung; Strafbataillon der Roten Armee oder Wehrmacht; Vernichtungslager; eine tödliche, nicht therapierbare Krankheit, wie ein Glioblastom, an dem der Autor Wolfgang Herrndorf litt; Folter. In diesen Fällen nimmt der gewöhnlich nebulöse Tod eine sehr konkrete Gestalt an.

Es handelt sich um unerbittliche, erbarmungslose Situationen. Sie verheeren denjenigen, der ihnen ausgesetzt ist. Es gibt Literatur, verfasst von jenen, die eine Ausnahme dieser Ausnahmen waren und überlebten, was niemand überleben kann; und es gibt Arbeit und Struktur, einen Blog, der als Buch herausgegeben wurde, in dem Herrndorf die Zeit von der Diagnose bis kurz vor seinem Freitod niederlegt.

Der Roman Sand, den der Schriftsteller seinen »Wüstenroman« nennt, ist zumindest in Teilen während dieser Phase verwirklicht worden. Er stellt in gewisser Hinsicht ein Echo dessen dar, was in Arbeit und Struktur dem Leser entgegentritt. Herrndorf ist sprachmächtig gewesen und hat dort die richtigen Worte und Sätze gefunden, um dem, was ihn bewegte, auf eine Weise Ausdruck zu verleihen, die oft genug wie ein durchdringender Speerstoß wirkt. Und genau so ist auch Sand.

Von jeder Romantik, was »die Wüste« anbelangt, allem Märchenhaften ist das Werk weit entfernt. Diestelig wäre ein schönes Attribut, denn es geht zur Sache, bisweilen blutig und brutal, vor allem aber fern aller Heimeligkeit. Dabei hat Herrndorf wunderbar originelle Einfälle und auf eine messerscharfe Weise offen. Der Mensch und das angeblich unteilbare Menschenrecht werden zu einer Zahl degradiert.

Wichtiger als ein Menschenleben? […] Nichts ist wichtiger als ein Menschenleben. […] Auch wenn es das Leben eines Lügners ist, das Leben eines Schmugglers, eines Idioten und Berufsverbrechers. Jedes Leben ist unbezahlbar, einzigartig und schützenswert – sagt der Jurist. Das Problem ist, wir sind keine Juristen. Wir stehen nicht auf dem Standpunkt, dass man das Leben nicht gegen andere Güter oder andere Leben abwägen kann. Wir sind eher so die Statistikabteilung und Statistikabteilung bedeutet, es besteht eine einprozentige Wahrscheinlichkeit, dass es so ist, wie du sagst. […] Es besteht aber auch eine neunundneunzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass das nicht der Fall ist. […] Neunundneunzig Prozent, dass wir hier den Weltfrieden sichern. […] Und nur ein Prozent, dass unser peinliches Verhör einen Rückfall ins Mittelalter darstellt.

Wolfgang Herrndorf: Sand

Nur ein Zitat in der Buchvorstellung diesmal, dafür eines mit Wucht. Ein anachronistisches Echo auf 9/11 und was sich die USA herausgenommen haben, als sich die Menschenrechte doch als teilbar erwiesen. Willkommen in der Wirklichkeit. Denn die wiedergegebenen Worte stammen aus der Romanzeit im Jahr 1972 und könnten eben auch begründen, warum die USA den Weg in die Dunkelheit eingeschlagen haben.

Ein Alptraum, dem der Leser nicht entkommt. Wann immer es scheint, als würde sich endlich etwas zum Guten wenden, dreht und wendet und windet sich alles wieder und die wilde, nicht enden wollende Jagd geht weiter. Erschöpft wie die Hauptfigur, die übrigens keineswegs am Anfang eingeführt wird – ätsch, ihr Schreibratgeber! – taumelt man Seite für Seite voran, die Glieder schwer, der Kopf erschöpft und das Gemüt von schwindender Hoffnung auf ein Happy-End getrübt.

Schon der Weg ins Buch ist verworren. Wer gewöhnlich durch sauber geflieste, geputzte und barrierefreie literarische Flure schreitet, behütet von Triggerwarnungen und austarierter Diversität, und alles darüber hinaus als unerträgliche Zumutung betrachtet, sollte diesen Roman besser meiden. Sand schmerzt. Wer einmal einen Sandsturm erlebt hat, weiß, wie schräg ins Gesicht gefegter Sand sticht. Man muss dazu keine Wüste aufsuchen, ein stürmischer Nachmittag an der dänischen Nordsee reicht. Und so ist dieser Roman.

Langsam und auf verschlungenen Wegen entblättern sich die Hinter- und Abgründe der Figuren in diesem Drama. Herrndorf inszeniert das als wildes, brutales Puzzle scheinbar sinnloser Schnipsel, Fetzen einer gemarterten Erinnerung. Dabei kommt es zu grotesken Begegnungen, etwa mit potenziellen Informanten, mehr oder weniger organisierten Verbrechern, der Staatsmacht und Geheimdiensten.

Wer schon eine Weile lebt und seine Zeit mit Büchern und Filmen gefüllt hat, wird unweigerlich einmal, wahrscheinlich recht oft mit der Situation konfrontiert worden sein, die für die meisten Menschen großen Horror beinhaltet. Jemand will etwas von einer anderen Person und setzt diese unter Druck indem er die Angehörigen bedroht, sei es direkt oder indirekt, durch das Ankündigen von Gewalttaten.

Eine brillante Idee findet sich im fortgeschrittenen Teil des Buches, wenn Herrndorf diese geradezu klassische Szenerie durch die Beigabe einer Zutat namens Amnesie zu etwas Neuem, beunruhigend Spannendem und Verstörendem aufwertet. Was, wenn derjenige, der durch Drohungen gegenüber seinen Verwandten gebeugt werden soll, sich nicht mehr an sie erinnert? Was, wenn die Befrager das nicht wissen können und das Verhalten falsch einschätzen?

Herrndorf hat in seinem »Wüstenroman« das Szenario integriert und gekonnt bis zum Äußersten exekutiert. Es verbietet sich, es hier aufzulösen, ja wie an meinen windigen Formulierungen zu sehen, auch jede Kleinigkeit, die darauf hindeutet, wem es widerfahren wird und was sich daraus entwickelt. Und doch zeigt diese Neuerung, was der leider früh verstorbene Autor für ein literarisches Potenzial mitgebracht hat.

Sand ist ein spektakuläres Buch, voller Verwicklungen, Knoten, die sich nicht lösen lassen, Fäden, die im Nichts zu beginnen scheinen und sich mit anderen verschlingen und wieder in der Luft flattern. Und im Hintergrund schimmert die Zeitgeschichte, wenn etwa abends die Nachrichten im TV gesehen werden und man hört: Olympia. München. Jüdische Sportler. Palästinensisches Volk. 50 Jahre sind vergangen und was hat sich eigentlich geändert?

Wolfgang Herrndorf: Sand
Rowohlt 2013
Taschenbuch 480 Seiten
ISBN: 978-3-499-25864-0

Arturo Pérez-Reverte: Der Schlachtenmaler

Ein brillanter Roman, leider nur noch antiquarisch erhältlich. Cover btb, Bild mit Canva erstellt.

Wenn sich der Leser dem Ende dieses Romans nähert, jene finalen Twists nicht mehr fern sind, die den Schleier endgültig lüften , weiß man bereits, dass Arturo Pérez-Reverte mit seinem Der Schlachtenmaler ein ganz besonderes Buch gelungen ist. Es hängt nach. Wie jedes gute Buch.

Dabei hätte es vom Grundansatz auch ein einfaches sein können, auf pure Spannung ausgerichtetet. Verrät doch schon der Klappentext , dass die Hauptfigur, der ehemalige Kriegsfotograf Faulques, in einem einsamen Turm ein großes Wandgemälde erschafft und von einem zunächst Fremden ganz offen mit dem Tode bedroht wird.

Klingt zunächst nach einem Psycho-Thriller.

Tatsächlich bleibt die Todesdrohung während der gesamten Erzählung präsent, wie ein Generalbass untermalt sie die Handlung, ohne sie zu überlagern. Faulques ist Jahrzehnte als Beobachter in die Kriegsgebiete der Welt gereist und hat mit seinen Fotos Preise und einigen Ruhm errungen.

Das Gemälde an der Wand des Turms hat wenig überraschend den Krieg zum Thema. Der ehemalige Fotograf greift nach der Aufgabe seiner Tätigkeit eine Leidenschaft aus seiner Zeit vor dem Fotografendasein auf und bricht zugleich mit seinem Beruf. Und er distanziert sich von seinen Fotos, denn das Wandgemälde zeigt den Krieg in einer ahistorischen Gleichzeitigkeit: ein groteskes Monster entsteht.

Das Medium Bild – gemalt oder fotografiert – stellt das zentrale Symbol des Romans dar. Wieder und wieder wird über Bilder gesprochen oder reflektiert, wer mag, kann im Internet die Werke selbst betrachten, versuchen, die Empfindungen und Gedanken nachzuvollziehen. Manchmal entfalten die Beschreibungen und die Reflexionen der Hauptfigur ein besonderes Maß an Authentizität.

… dass er in den vielen selbst erlebten Kriegen nie jemanden gesehen hatte, der mit einem derart tadellos sauberen Hosenknieteil und Hemd im Kampf starb.

ARturo Pérez-REverte: Der Schlachtenmaler
Das berühmte Bild des Kriegsfotografen Robert Capa.
Der Augenblick des Todes im Spanischen Bürgerkrieg am 5. September 1936.

Faulques weiß , dass Capa zu einer anderen, fast unschuldigen Zeit gehört, denn in der Gegenwart haben Bilder viel von ihrem ursprünglichen Wert verloren. Bilder, auch die bewegten, sind Teil des Krieges, Teil der Propaganda geworden, die jeden mit Waffen ausgefochtenen Konflikt umweht wie der Leichengeruch.

Doch das Buch geht in seinem Kern darüber weit hinaus. Die entscheidende Frage lautet: Kann man in einem Krieg unbeteiligt bleiben, ein bloßer Beobachter, neutraler Fotograf – oder aber ist man nicht automatisch Teil der Kampfhandlungen und trägt Verantwortung, ja lädt sogar Schuld auf sich?

Die zentrale Frage wird kurioserweise im Buch anhand der Physik ins Feld geführt und diskutiert. Mich hat schon immer die so genannte Unschärferelation von Heisenberg (dem deutschen Physiker, nicht Walter White) fasziniert. Grob gesagt kann man ab einer bestimmten Größe bzw. »Kleine« eines Teilchens dessen Position bzw. Geschwindigkeit nicht mehr bestimmen, ohne diese selbst zu beeinflussen.

Je genauer man versucht zu  messen, desto größer wird die Störung. In diesem Sinne verändert der Beobachter die Wirklichkeit. Wenn man will, erschafft er sie tatäschlich, wie ein Bekannter dem Schlachtenmaler erläutert und daraus eine weitreichende Schlussfolgerung zieht:

Es sei ein grundlegendes Element der Quantenmechanik, dass der Mensch die Wirklichkeit schaffe, wenn er sie beobachte. […] Der Mensch sei […] beides zugleich: sowohl Opfer als auch Schuldiger.

ARturo Pérez-REverte: Der Schlachtenmaler

Verhält es sich mit der Kriegsfotografie auch so? Greift jemand, der nur fotografiert, direkt ins Geschehen ein, beeinflusst die Handelnde und wird Partei? Der Roman gibt darauf unterschiedliche, kontroverse Antworten, die den Leser aus seiner Komfortzone scheuchen. Denn das vorgeblich neutrale Beobachten, Nichthandeln, Zögern kann ebenfalls beeinflussen – mit fatalen Folgen.

Der Ausgangspunkt der Handlung, die Todesdrohung gegenüber dem Schlachtenmaler, ist mit dieser Frage verknüpft. Faulques hat auf während des Balkankrieges das Foto eines kroatischen Kämpfers geschossen: Ivo Markovic, der nolens volens in die Kampfhandlungen hineingezogen wurde.

Die Aufnahme wurde prämiert und hat nicht nur ihren Urheber, sondern auch ihr Motiv bekannt gemacht, was für den Kroaten und seine Angehörigen tragische Konsequenzen hat. Das Foto ist auf seine Weise Teil des Krieges geworden. Markovics Absicht, Faulques zu töten, erscheint auf Anhieb wie ein Racheakt – doch das würde viel zu kurz greifen. Seine Absicht geht darüber hinaus:

›Sie sollen verstehen‹, sagte der Kroate. ›Manche Antworten haben Sie ebenso nötig wie ich.‹

ARturo Pérez-REverte: Der Schlachtenmaler

Auch der Leser braucht Antworten. Der Balkankrieg ist bedauerlicherweise schon wieder in Vergessenheit geraten. Europa hat seinerzeit darin versagt, diese unfassbar brutalen Kampfhandlungen einzudämmen und die Zivilisten im Stich gelassen, und sich auf bequeme »Neutralität« zurückgezogen. Ein Muster, das in den folgenden Jahren andernorts immer wieder auftrat: Russlands Kriege gegen Georgien und die Ukraine, sowie der Bürgerkrieg in Syrien.

Die Grausamkeiten auf dem Balkan waren ein Echo des Gemetzels während des Zweiten Weltkrieges. Bis in die Gegenwart hinein hallen weitere Echos. Als Peter Handke den Literaturnobelpreis erhalten hat, ist darauf mit zum Teil massiver Kritik reagiert worden. Sasa Stanisic hat dem Preisträger vorgeworfen, die serbische Verantwortung für die Bluttaten während des Bürgerkrieges in seinen Texten zu verharmlosen, zu verschweigen, ja zu lügen.

Ich tue es auch deswegen, weil ich das Glück hatte, dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt.

Saša Stanišić anlässlich der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2019

Pérez schweigt nicht. Im Gegenteil.

Die Erzählung entfernt sich kaum von dem Turm, in dem der Schlachtenmaler tätig ist. Hier treffen sich Faulques und Markovic und führen ihre Gespräche. Das Bild, das auf der Innenseite des Gebäudes entsteht, ist oft Quelle der Inspiration für die Gespräche zwischen beiden Männern, es löst Assoziationen aus, die in weite Gedankenschleifen der Hauptfigur münden. 

In diesen Ausflügen in die Vergangenheit tritt eine weitere Person in die Erzählung ein: Olvido, eine Kollegin des Schlachtenmalers, seine verstorbene Geliebte. Olvido ist eine Ableitung vom spanischen Verb olividar, das »ich vergesse« heißt oder eben »das Vergessen«. Wie die Gedankenschleifen zeigen, kann Faulques keineswegs vergessen, ebensowenig Markovic. Eine Folge des Krieges, der selbst die Davongekommenen lebenslang in ihren Erinnerungen heimsucht, ja: gefangenhält.

Olivdo hat als Modell gearbeitet, stand also als Objekt vor der Kamera und hat aus dieser Erfahrung ein eigenes Verhaltensmuster beim Fotografieren entwickelt, das hier nicht verraten wird, weil es zu den Antworten gehört, die der Leser aus diesem Buch erhält. Wenn man so will: ein Gegenentwurf zu Social Media. Sie ist Faulques voraus, hat vor ihm begriffen, was dieser erst durch die Konfrontation mit Makovic durchschaut.

Pérez-Reverte führt seinen Roman erfreulich konsequent zu einem Ende, das zumindest aus meiner Sicht sehr zufriedenstellend ist und ein langes Echo hat

Arturo Pérez-Reverte: Der Schlachtenmaler
btb 2009
TB 288 Seiten
ISBN: 978-3442739356

© 2024 Alexander Preuße

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