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Martin Schulze Wessel: Die übersehene Nation

Buchcover von Die übersehene Nation von Martin Schulze Wessel vor dem Hintergrund einer zerstörten Stadt. Das Zitat auf dem Bild lautet: ‚Ukrainer, die Juden halfen, riskierten ihr Leben.‘ Das Buch thematisiert die Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine seit dem 19. Jahrhundert.
Das Bild im Hintergrund zeigt die ukrainische Hauptstaddt Kyjiw während des Zweite Weltkrieges. Wird die Zukunft der Millionen-Metropole auch so aussehen? Noch halten sich die Schäden durch die russische Aggression in Grenzen, doch im Osten des Landes sind wie im deutschen Vernichtungskrieg Städte und Dörfer ausgelöscht worden. Cover C.H.Beck, Bild mit Canva erstellt.

Die Geschichte der deutsch-ukrainischen Beziehungen ist bemerkenswert kurz und hat zu Beginn recht karge Wurzeln. Wer sich überhaupt mit der Region befasste, wusste oft gar keinen Namen. Das lag auch daran, dass das Staatsgebiet der heutigen Ukraine vor 1914 zu Russland, Polen, Österreich-Ungarn gehörte; nach einem kurzlebigen ukrainischen Staat zwischen 1918 und 1921 war das Staatsgebiet wieder aufgeteilt, doch hatte sich viel verändert. Keineswegs nur zum Guten.

Die deutsch-ukrainischen Beziehungen waren und sind von Ignoranz geprägt. Das ist übrigens nicht verwunderlich. Wer in den 1970er und 80er Jahren aufwuchs, kannte die Sowjetunion als (auf Karten geographisch verzerrt dargestellten) Riesenklotz; dessen Zusammenbruch und Aufteilung nach 1991 ließ nicht nur die Ukraine aus dem Schatten der Geschichte hervortreten. Doch werden die „ehemaligen Sowjetrepubliken“ weiterhin als Objekte politisches Handelns und weniger als handelnde Subjekte wahrgenommen, also übersehen. Wer weiß schon adhoc, wo Tadschikistan liegt, geschweige denn, welche politischen Ambitionen dort gehegt werden?

Die geographische Zersplitterung der Sowjetunion nach 1991 ist ein treffendes Bild für die Freiheit. Sie ist kompliziert, anstrengend und für viele Menschen überfordernd, so dass der verschlichtende Blick („ehemalige Sowjetrepublik“) bevorzugt wird. Man schaut daher, aber auch aus kühlem Kalkül über das Detail hinweg. Im Extremfall wie Reinhold Heydrich, der in den Ukrainern „ein durchweg als kommunistisch eingestelltes und (…) außerordentlich rückständiges Volk“ sehen wollte, was mit der Wirklichkeit wenig zu tun hatte, aber vortrefflich in die Weltanschauung passte. Heydrich ist nur der Extremfall in einer langen Linie deutscher Zerrbilder der Ukraine, bis in unsere Gegenwart.

Die deutsch-ukrainischen Beziehungen sind aber für beide Seiten existenziell gewesen.

Martin Schulze Wessel: Die übersehene Nation

Diese Einschätzung von Martin Schulze Wessel steht im Kontrast zu der beharrlichen Ignoranz von deutscher Seite gegenüber der Ukraine. In Deutschland machte man sich den imperialen Blick Russlands auf die Ukraine zu eigen, noch Bismarck sprach von „Kleinrussland“, eine Fortsetzung des preußischen Blicks gen Osten. Erst Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts begann man zu begreifen, dass es eine eigenständige Ukraine gab. Die sich zögerlich entfaltenden Beziehungen mit ihren tiefen Abgründen sind Gegenstand von Die übersehene Nation.

Bei der Lektüre verfestigt sich der Eindruck einer Unstetigkeit und Widersprüchen geprägten Schieflage deutscherseits als Konstante der Ukraine-Politik bis in die Gegenwart. Es gab mehrere Strömungen in der deutschen Politik, doch schien sich immer die schlichteste, dem zeitspezifischen Eigennutz verpflichtete durchzusetzen, die in der Ukraine bestenfalls ein Mittel zum Erreichen der eigenen Ziele sah. Der Reichtum an Ressourcen war ein wesentliches Motiv deutscher Wahrnehmung, mit fatalen Folgen während des Zweiten Weltkrieges. Bis heute ist dieser Aspekt in der Weltpolitik lebendig, wie der gescheiterte Versuch der ukrainischen Führung zeigt, Donald Trump auf ihre Seite zu ziehen.  

Gewalt ist seit 1918 ein weiteres Motiv. Im letzten Kriegsjahr besetzten deutsche und österreich-ungarische Truppen die Ukraine, Belarus und die baltischen Staaten. Im Gegensatz zu den Verwüstungen auf den Schlachtfeldern im Westen verlief dieser Vormarsch glimpflich. Da kein tragfähiges Konzept für die Ukraine vorhanden war, zeigte sich die kaiserliche Politik jedoch sprunghaft, widersprüchlich und letztlich erfolglos. Der kurzlebige ukrainische Staat überlebte den Rückzug der deutschen Truppen nur kurz, im Bürgerkrieg folgte die erste Welle entgrenzender Gewalt. Betroffen davon waren auch die jüdischen Bewohner des Landes, die Opfer von Pogromen wurden.

Insgesamt gab es in der Ukraine nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches über 1000 Pogrome mit weit über 100.000 Opfern.

Martin Schulze Wessel: Die übersehene Nation

Der amerikanische Historiker Jeffrey Veidlinger hat diese Pogrome in Mitten im zivilisierten Europa behandelt und sieht darin einen Auftakt für den Holocaust. Mit seiner Kritik an der Arbeit Veidlingers berührt Schulze Wessel einen sensiblen Punkt: den Historikerstreit um die Thesen Ernst Noltes, denen im Kern völlig zurecht die „Relativierung der deutschen Verbrechen“ attestiert wird. Die Diagnose, Veidlinger bewege sich in ähnlichen Argumentationsbahnen wie die Verharmloser und Relativierer, deckt sich nicht mit meinem Leseeindruck. Ich meine, Veidlinger stellt zwei Dinge nebeneinander, die für kurze Zeit Hand in Hand gingen.

So entlastet Veidlinger weder Wehrmacht noch SS, noch stellt er den deutschen Vernichtungswillen infrage. Er bekräftigt die Verantwortung für den Holocaust „durch Kugeln“ durch die deutschen Einsatzgruppen und ergänzt sie durch einen zeitlich befristeten Vorgang, der an die Pogrome Anfang der 1920er Jahre erinnert. Die langfristigen Wurzeln des deutschen und ukrainischen Antijudaismus werden davon nicht gar nicht berüht. Vor allem gilt: Der Kampfbegriff des „jüdischen Bolschewismus“ war ein gern gesehenes Propaganda-Instrument, das die bestehende Verschwörungserzählung gegen die jüdische Bevölkerung erweiterte.

Der Hinweis auf Polen, wo der Vernichtungskrieg schon 1939 begann, unterstützt mit Blick auf die Ereignisse, die Jan T. Gross in Nachbarn am Beispiel von Jedwabne beschrieb, eher die Sichtweise eines Nebeneinanders von Vernichtungskrieg und „indigener Gewalt“ gegen die jüdische Bevölkerung in den ersten Kriegstagen 1941. Der Hinweis auf die Gewalttaten der Bolschewiki in der Ukraine Anfang der 1920er Jahre gegen die jüdische Bevölkerung widerlegt Veidlingers Ansatz auch nicht. Sachlich widerlegen die Untaten der Roten Armee gegen die jüdische Bevölkerung zwar das Verschwörungsraunen vom „jüdischen Bolschewismus“, doch liegt es in der Natur von Verschwörungs-Erzählungen, über alle Fakten hinwegzusehen. Flat-Earther oder Impfgegner seien meine Zeugen.

Die deutschen Diplomaten erkannten die genozidale Konsequenz des Holodomor.

Martin Schulze Wessel: Die übersehene Nation

Besonders interessant ist Schulze Wessels Hinweis auf den Lerneffekt, den man auf deutscher Seite durch den Holodomor gewann. Stalin ließ Anfang der 1930er Jahre Millionen Menschen in der Ukraine verhungern, indem er das Korn mit Gewalt nehmen und exportieren ließ, um an dringend benötigte Devisen zu kommen. Nach Schulze Wessel hätten die Deutschen aus diesem genozidalen Massenmord gelernt, dass sich mit entgrenzter Gewaltanwendung nationale Bestrebungen brechen ließen. Die Nationalsozialisten hätten diese Erkenntnis in ihre eigenen Eroberungs- und Herrschaftspläne integriert, die in den berüchtigten Generalplan-Ost einflossen. Das ist nicht nur eine für mich ganz neue Facette des Holodomor, sondern auch kurios, denn damit hätte der „Bolschewismus“ eine Art Handlungsanweisung für die bereits vorhandene nationalsozialistische Vernichtungspläne geliefert.

Wie das deutsche Vernichtungshandeln in den Jahren 1941 bis 1945 aussah, behandelt Die übersehene Nation in einem düsteren Kapitel. Nach der Lektüre von Die Schlafwandler und Auf Messers Schneide hege ich Zweifel, dass Deutschland 1914 nach der Weltmacht griff, auch wenn es griffig klingt, für das Jahr 1941 muss man das aber so formulieren. Der Weg zur Weltmacht führte über ein Massengrab, über dem das Banner des „Generalplans Ost“ flatterte, der den millionenfachen Tod der jüdischen und slawischen Bevölkerung einkalkulierte.

Eindrücklich schildert Schulze Wessel, wie die ukrainischen Nationalisten (OUN-B) um Stephan Bandera in ihrem Bestreben, den Krieg für die Wiederbelebung der Ukraine zu nutzen, einem Fehlschluss über die Ziele der deutschen politischen Führung aufsaßen. Die Nähe zum Totalitarismus der OUN-B wird beleuchtet, aber auch die gleichzeitige Distanz zum Nationalsozialismus wie auch zu Adolf Hitler. Das sind heute noch wichtige Aspekte, denn Bandera ist und bleibt ein Beelzebub der russischen Propaganda.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Ukrainer und ihr Land mit einem rein kolonialen Blick wahrgenommen wurden. Kolonialismus wird oft genug nur auf die so genannte Dritte Welt wahrgenommen, auf überseeische Gebiete westlicher Nationen; der nationalsozialistische Kolonialismus wird als solcher nicht benannt, wie auch der russische Kolonialismus in Moskaus Imperium bis heute einfach übergangen wird. Es ist sehr zu begrüßen, dass Schulze Wessel mit dem Zitat des General-Kommissars Erich Koch den kolonialen Blick deutscherseits auf den Punkt bringt: „Weiße Neger“ seien die Ukrainer.

Stellt man fest, dass Mitglieder der Hilfspolizei und der OUN am Holocaust „beteiligt“ waren, so ist es wichtig, die Art dieses Anteils genau zu betrachten.

Martin Schulze Wessel: Die übersehene Nation

Bis in die Gegenwart ist das Motiv der ukrainischen Beteiligung am Holocaust virulent. Schulze Wessel zeigt das an einem Youtube-Interview des Bloggers Thilo Jung und dem damaligen Botschafter Andrij Melnyk. Beide leisteten sich „eine starke Reduktion des Sachverhaltes und damit eine Verfälschung“; in der Öffentlichkeit wurde nur Melnyk skandalisiert, nicht aber die Behauptungen Jungs. Ein Beleg für den bis heute herrschenden schiefen Blick auf die Umstände des Vernichtungskrieges 1941 und den darin eingebetteten Holocaust.

Entscheidend ist, dass die Deutschen die „Tathoheit“ hatten, wie Schulze Wessel es nennt, und nicht etwa die Ukrainer. Das ist wesentlich, wenn man von einer ukrainischen Beteiligung am Holocaust spricht, denn der Anteil an den Untaten ist extrem ungleich verteilt. In der Ukraine verfolgten Wehrmacht und SS die Ermordung der jüdischen Bevölkerung als „Kernziel der deutschen Besatzung“, die Ukrainer waren – wie oben gezeigt – an einem eigenen Staat interessiert.

Bandera versuchte sich durch scharfe antijüdische Agitation und das Befeuern von Pogromen den Deutschen zu empfehlen; die Nationalsozialisten wollten die Ukrainer zu Komplizen machen, ohne an Zugeständnisse zu denken. Entsprechend sah die Reakton auf den Versuch aus, einen Staat Ukraine auszurufen. Bandera (OUN-B) und Melnyk (OUN-M), die Führer der Nationalisten, wurden kaltgestellt und im KZ inhaftiert. Die Kollaborateure unter den Ukrainern wurden oft zwangsrekrutiert und besaßen nur minimale Handlungsspielräume, während sie Beihilfe am Holocaust leisteten.

Ukrainer, die Juden halfen, riskierten ihr Leben.

Martin Schulze Wessel: Die übersehene Nation

Wie sehr die ukrainische Bevölkerung Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges wurde, skizziert Schulze Wessel in Abschnitten, die sich mit der Realität der Besatzungsherrschaft, dem brutalen Umgang mit Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern, militärischer Kooperation und Widerstand beschäftigen. Den ukrainischen Hilfen für jüdische Mitbürger wird ebenfalls eine Passage gewidmet, so entsteht ein eindeutiges Bild: In der überwältigenden Mehrheit waren die Ukrainer Opfer, nicht Täter. Tragischerweise setzte sich nach dem Krieg der Leidensweg für viele Ukrainer fort. Sie fanden sich als „Verräter“ gebrandmarkt im Gulag wider, wenn sie nicht gleich getötet wurden.  

Für die gegenwärtige deutsche Politik gegenüber der Ukraine sind diese Einsichten von einer Wichtigkeit, die kaum überschätzt werden kann. Noch immer wird in weiten Kreisen vom Volk von Kollaborateuren geraunt, noch immer werden die Millionen Opfer übersehen, die Zerstörungen durch die Taktik der „verbrannten Erde“ seitens der Roten Armee 1941 und der Wehrmacht 1943/44 sowie die stalinistischen Gewalttaten, sei es der Holodomor, seien es die Deportationen, sei es der Bürgerkrieg. Überwehen wird die Traumatisierung der ukrainischen Augenzeugen deutschter Gewalttaten.

Aus diesen historischen Abgründen resultiert eine tiefe Verantwortung seitens Deutschlands gegenüber der Ukraine und ihrer Bevölkerung. Ist die demokratische Bundesrepublik, insbesondere in seiner vergrößerten Gestalt seit 1990 dieser Verantwortung gerecht geworden? Schulze Wessel zeichnet den Weg ins Desaster nach, das bereits Anfang der 1990er Jahre (!) durch Äußerungen der russischen Seite absehbar war, und in einen vollumfänglichen Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine führte. Die Invation 2014/2022 ist mit zunehmender Sicherheit nicht etwa das Ende dieses Weges, sondern der Anfang einer blutigen Renaissance des Landkrieges in Europa. Hätte es sich auch durch eine andere deutsche Politik verhindern lassen? Zumindest hätte man nicht Vorschub leisten sollen. 

Die machtpolitische Lösung der deutschen Frage hing mittelbar damit zusammen, das die ukrainische ungelöst blieb.

Martin Schulze Wessel: Die übersehene Nation

Die Ausführungen über die politischen Entscheidungen nach 2004 lassen gerade mit Blick auf die Gegenwart frösteln. Allerdings überzeugen die Einlassungen über die Gründe für die merkwürdig passive, inkonsequente, ja, geradezu janusköpfige Ukraine-Politik der Merkel-Regierung nicht in allen Punkten. Schulze Wessel arbeitet sich an den negativen Auswirkungen der Rückbesinnung auf den Ersten Weltkrieg unter besonderer Einflussnahme von Christopher Clarks Die Schlafwandler ab. Zu viele westliche Politiker, besonders in Deutschland, hätten sich von der Vorstellung beeindrucken lassen, man könne wie vor 1914 in einen großen Krieg hineinschlittern. Dabei betont Schulze Wessel, dass Clarks Erklär-Ansatz überholt sei.

Die verhängnisvolle Zögerlichkeit steht außer Frage, ebenfalls die allzu offene Furcht vor den russischen Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen. Doch wirkt der direkte und fast exklusive Bezug, insbesondere bei Angela Merkel, auf die Wirkung von Christopher Clarks Schlafwandler nicht recht nachvollziehbar. Zunächst einmal zeigt Clark die dramatischen Fehlurteile und -einschätzungen der handelnden Akteure im Sommer 1914 in ganz Europa auf und entlarvt die fehlende Wachheit der Eliten in dieser kritischen Situation, verbunden mit mangelnden Handlungsspielräumen.

Es war doch eher der Missbrauch des Titels »Schlafwandler« als enorm verkürzender Kampfbegriff, um die eigene Ohnmacht, den Handlungsunwillen und die jahrelangen Irrtümer bei der Einschätzung Putins zu bemänteln. Das eigentlich Problem lag in der falschen historischen Analogie. Treffender als der Rückgriff auf 1914 wäre das Münchener Abkommen von 1938 gewesen, denn in einem Punkt hat Schulze Wessel völlig recht. Es ist ein Aggressor mit imperialen Absichten am Werk, der nicht in der Ukraine anhalten wird. Dank Donald Trump kommt für Deutschland und Europa noch schlimmer. Neben vielen anderen klugen Gedanken und Einsichten gibt der Autor von Die übersehene Nation dem Leser eine ebenso düstere wie wahrscheinliche Zukunftsoption mit auf den Weg.

Überlegenen Mächten allein gegenüberzustehen – die Grunderfahrung der Polen seit dem 18. Jahrhundert, der Ostdeutschen, Ungarn und Tschechoslowaken im Kalten Krieg – droht heute auch den einst weltbeherrschenden Nationen Europas.

Martin Schulze Wessel: Die übersehene Nation

Ich bedanke mich beim C.H.Beck-Verlag für das Rezensionsexemplar

Martin Schulze Wessel: Die übersehene Nation
Deutschland und die Ukraine seit dem 19. Jahrhundert
C.H.Beck 2025
Gebunden 288 Seiten
ISBN: 978-3-406-821745

Neue Lektüre: Deutschland und die Ukraine

Der Titel ist sehr passend und stellt die erstaunliche Diagnose, dass man die flächenmäßig größte Nation Europas »übersehen« kann. Der Mensch ist zu wahrhaftigen Glanztaten fähig.

Am Anfang meiner Beschäftigung mit der Ukraine stand der Action-Film Mission Impossible. Wenn ich mich richtig erinnere, ist an einer Stelle von „Ukrainisch“ die Rede. Ich war damals verdutzt. Ukrainisch? Ist das eine eigene Sprache? Ich dachte, das wäre so etwas wie Bayerisch oder Nordhessisch, eine Mundart. Auch in der Romanreihe von Martin Cruz-Smith um den russischen Polizisten Arkadi Renko ist im fünften Teil von den angeblich geringen Unterschieden zwischen Russisch und Ukrainisch die Rede.

Mittlerweile habe ich mich eines Besseren belehren lassen. Das russische Imperium führte einen regelrechten Sprachkrieg gegen das Ukrainische, die Auslöschung der Ukraine stand und steht ganz oben auf der Agenda. Gen Westen wird Propaganda betrieben, der auch ich erlegen bin. Bücher wie Alles ist teurer als ukrainisches Leben sind ein wunderbares Gegengift. Doch wandelte sich mein Blick auf die Ukraine früher.

Anfang der 2000er Jahre habe ich in einem Atlas oder einer Ausgabe der Le Monde diplomatique eine Karte der Ukraine lange betrachtet, die mir erstmals ein präziseres Bild von dem Land verschaffte. Es ging um Geostrategie, Rohstoffe und Infrastruktur, aus der Karte ging hervor, wie reich die Ukraine eigentlich ist oder sein könnte. Über die problematischen gesellschaftlichen Zustände, aber auch die erste große Welle des Wandels in Gestalt einer »Farben«-Revolution konnte ich in meiner Tageszeitung einiges erfahren.

Trotzdem gingen auch die journalistischen Artikel über die Ukraine immer noch an den Realitäten vorbei. Die Süddeutsche Zeitung, die ich bis 2014 abonniert hatte, war weder in Bezug auf die Ukraine noch auf Putin und seine Machenschaften auf der Höhe der Zeit; sie ist es bis heute nicht. Sie hat keine angemessene Sprache gefunden, die für die Beschreibung der Wirklichkeit geeignet ist. Putin einen „Präsidenten“ zu nennen, weil er sich selbst so bezeichnet, ist eine Unwahrheit, notdürftig kaschiert mit einer angeblichen Neutralität des Beobachters. Trump und Steinmeier werden auch als „Präsident“ bezeichnet, so wahllos verwendet verliert jedes Wort seinen Sinn.

Die angeblich so neutrale Sichtweise hat es sich bequem gemacht in den Floskeln und Formeln russischer Lügen, etwa über die innere Teilung des Landes in einen prowestlichen und prorussischen Teil, deckungsgleich mit der angeblichen Trennung durch „Sprache“; oder dem angeblich »bürgerkriegsähnlichen Konflikt«, mit dem man schlicht die russische Tarnformulierung der aggressiven Intervention übernommen hat. Wer nun auf Trump zeigt, sitzt im Glashaus.

So stellte 2014 einen Bruch dar, auch in meiner Wahrnehmung. Längst hatte mich die Behandlung des Landes durch die deutsche Politik im Merkel-Zeitalter aufgebracht, die Verweigerung der Nato-Mitgliedschaft und der Bau von Nord-Stream 1. Bis heute bin ich fassungslos über Nordstream 2; die Entscheidung für die russische Pipeline trotz des verdeckten Krieges gegen die Ukraine und den Westen war die schwärzeste Stunde der flügellahmen Merkel-Jahre.

Der Titel des Buches Die übersehene Nation von Martin Schulze-Wessel ist sehr gut gewählt. Das bewusste oder unbewusste „Übersehen“ passt perfekt auf die deutsche Ostpolitik, angesichts der Größe der Ukraine zeigt es auch die gewollte Blindheit, an der sich bis zum heutigen Tag zahlreiche deutsche Politiker wie besessen festklammern. Umso besser, dass es Bücher gibt, die sich der Ukraine und ihren Beziehungen zu Deutschland und umgekehrt in den Fokus nehmen.

Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg

Kurkow gelingt das Kunststück, den schrecklichen Alltag des Krieges näherzubringen, ohne den Leser damit zu überfordern. Cover Haymon-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Es mag seltsam erscheinen, aber die Lektüre von Andrej Kurkows Im täglichen Krieg ist eine Art literarische Impfung gegen lähmende Angst, Überforderung und Ohnmacht. Die Beiträge des ukrainischen Autors schildern Ausschnitte des Alltags im russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der wird bekanntlich nicht nur an der Front, sondern auch gezielt gegen die Zivilbevölkerung geführt. Russland beabsichtigt eine vollständige Vernichtung der Ukraine.

Wer in den vergangenen Jahren nicht im seligen Tiefschlaf verbracht hat, weiß auch um die Aggressivität des Putin-Regimes gegen den demokratischen Westen. Dabei kann sich der Diktator auf eine Achse der Autokraten stützen, deren Ziel die Zerstörung der unliebsamen, für die Bevölkerung trotz aller Misslichkeiten viel lebenswerteren Staaten, die dem »Westen« zugerechnet werden. Diese sind für Alleinherrscher eine Bedrohung, weil sie als Alternative wahrgenommen werden könnten.

Faktisch führt Russland unter der Hand einen verdeckten Krieg gegen den Westen. Eine grundsätzlich bedrohliche Situation, die oft von interessierten Kreisen verschärft wird. Ein unschönes Beispiel ist die bewusst herbeigeführte Abhängigkeit Deutschlands von Russland bei Energielieferungen. Zu Kriegsbeginn drohten erhebliche wirtschaftliche und soziale Verwerfungen. Menschen reagieren auf Krisen ganz unterschiedlich, nicht wenige mit Verdrängung von Tatsachen und der Neigung, sich falschen Versprechungen zu öffnen.

Auch jene, die offen der Gefahr ins Auge sehen und etwas tun wollen, werden mit einer flatterhaften Flut an Meldungen, Nachrichten, Aufrufen, Lügen, Desinformation, verharmlosenden Medienberichten konfrontiert. Besonders auf den einschlägigen Plattformen im Internet kann der Nutzer schnell das Gefühl bekommen, überrollt zu werden. Ohnmacht ist die düstere Schwester der Angst, beide lähmen und lassen die Neigung wachsen, sich abzuwenden.

Das Schlimmste ist vielleicht, dass der Verlust eines Menschenlebens zu etwas Alltäglichem geworden ist. Im Krieg arbeitet der Tod am Fließband.

Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg

Im täglichen Krieg wirkt diesen Zuständen entgegen. Wie das Zitat zeigt, hat Kurkow keine Freudenbotschaften zu verbreiten, er verharmlost die schockierenden Verbrechen in der Ukraine nicht. Doch schildert er den Alltag im Krieg auf eine unaufgeregte Weise. Der Stil des Autors, bekannt aus seinen Romanen Samson und Nadjeschda oder Graue Bienen, ist ist ein großes Plus des Buches. Ein ruhiger, gemessener Erzählduktus führt den Leser durch das jeweilige Thema, der ohne aufmerksamkeitsheischende Übertreibung auskommt.

Zunächst einmal ist es grundsätzlich wichtig, jene zu Wort kommen zu lassen, die von diesem Krieg betroffen sind – die Ukrainer. Deren Befindlichkeiten sollten bei allem, was über den Krieg zu berichten, einzuschätzen und entscheiden ist, die wesentliche Rolle spielen. Die »Zeugen des Sofas« (Christoph Brumme) im Westen sollten ihre Befindlichkeiten hintanstellen. Wer zuhört, beginnt nicht nur zu begreifen, was der Krieg vor Ort anrichtet, sondern auch, was die Kampfhandlungen hier verändern. Jeder Krieg hat einen langen Arm. 

Kurkow erlebte den Beginn des Krieges in Kyjiw, er war Binnenflüchtling und kehrte zwischenzeitlich wieder in die Hauptstadt zurück. Über den Alltag der permanenten Bedrohung durch russische Luftangriffe weißt er eine Menge zu erzählen. Etwa über das bekannte Motiv, bei Luftalarm zwei sichere Wände möglichst weit von den Außenmauern und Fenstern entfernt aufzusuchen, um Verletzungen durch Glassplitter bei berstenden Scheiben zu vermeiden. Der Flur ist zum Lebensort geworden.

Das sind Äußerlichkeiten. Der Krieg geht aber im Innern weiter, auch wenn man sich äußerlich von den Kämpfen und Bedrohungen entfernt. Kurkow beschreibt anschaulich, wie er auf Auslandsreisen die Umgebung automatisch daraufhin überprüft, wo er im Falle eines Angriffs am besten Schutz findet. Etwa einen Ort, an dem er nicht einem Regen aus Glassplittern ausgesetzt wäre, wenn in der Nähe eine russländische Rakete einschlagen sollte. Kriege enden nicht für jene, die ihm ausgesetzt sind, auch wenn sie sich außerhalb der Reichweite der Waffen begeben.

Wie eine Krankheit bestimmt der Krieg unser Verhalten, unsere Gedanken und sogar unsere Gefühle. Der Krieg übernimmt das Denken für uns. Er entscheidet sogar für uns.

Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg

In einem Kapitel beschreibt Kurkow, wie das Fortleben des Krieges von der Sowjetunion im Falle des Zweiten Weltkrieges verstärkt wurde. Als Kind wurde er von Geschichten über den propagandistisch verzerrten Großen Vaterländischen Krieg überhäuft. Veteranen in Schulen, Filme im Fernsehen und Romane erzählten von Heldentaten sowjetischer Soldaten. Hinzu kamen Kriegsspiele (d.h. »Truppenübungen«) in der Schule, Ausflüge zu Kriegsmuseen und Schlachtfeldern. Solche »Fieberträume vom Krieg«, wie sie Michail Schischkin einmal nannte, wurden in Putins Russland instrumentalisiert.

Kurkow hofft, dass die ukrainische Kultur nach dem jetzigen Krieg einen anderen Weg geht. Sie sollte den »Ukrainern helfen, den Krieg hinter sich zu lassen und ihre Traumata zu bewältigen«. Sie solle für Meinungsfreiheit und Vielfalt eintreten, zugleich aber eine einigende Kraft werden. Diese kurzen Abschnitte zeigen, wie gewaltig die kulturelle Kluft zwischen der Ukraine und dem propaganda- und hassgesättigten Russland mittlerweile ist.

Kurkow verschweigt auch nicht, dass die Ukrainer durch den immer länger sich hinziehende Krieg unter Druck geraten. Kriege zermürben. Die vielgerühmte Resilienz ist kein unerschöpflicher Brunnen, gerade im Angesicht eines Gegners, der auf Vernichtung aus ist, treten Überforderungen auf. Atempausen vom Krieg, von der Belastung, dem Terror sind nötig, aber schwierig, denn auch in ruhige Gegenden reisen Terror und das schlechte Gewissen mit.

In vielen Passagen wird das Bemühen Kurkows deutlich, sich selbst eine Funktion im Krieg zuzuschreiben. Es klingt nach dem Versuch, das Schreiben zu rechtfertigen, eine Tätigkeit, die recht fern vom Kampf, von Rettung oder Wiederaufbau ist. Was ist die Aufgabe eines Schriftstellers im Krieg? Hilft die eigene Tätigkeit oder ist es nur die Ablenkung von der Ohnmacht? Anders als das Liken und Retweeten in den Sozialen Medien ist das Schreiben keineswegs sinnlos, wie ich bei der Lektüre von Im täglichen Krieg an mir selbst feststellen konnte.

Das Thema Verrat ist in der Ukraine ganz und gar kein beliebtes und wird definitiv nur höchst ungern angesprochen.

Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg

Die Ukraine ist kein idealer Staat, ihre Bürger sind weder Engel noch Lichtgestalten. Auch nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gibt es genügend Probleme – wie könnte es auch anders sein, hat doch der seit 2014 schwelende Krieg im Osten des Landes eine Modernisierung und Reformierung massiv behindert. Kurkow verschweigt viele der Schwierigkeiten nicht, Korruption, fehlende Bunker, kontraproduktive »Hilfe«, Versagen der Behörden, Politspielchen.

Seine Herangehensweise ist nicht nur konstruktiv, sondern auch enorm kreativ. Ein schönes Beispiel für Kurkows originellen Stil ist das Kapitel mit der auf den ersten Blick etwas seltsamen Überschrift »Bienen und Verräter«. Der Autor verwebt in jedem Abschnitt wenigsten zwei Motive, die augenscheinlich nichts miteinander zu tun haben. Doch gelingt ihm ein Brückenschlag, der den Blick auf die vielschichtige und widersprüchliche, chaotische Wirklichkeit des Kriegsalltags freigibt.

Einige der vielen Helfer in der Ukraine kümmern sich um verwaiste Katzen aus den Frontgebieten. Dort lebten vor dem Krieg zahllose Bienenzüchter, einer davon ist Hauptfigur in Kurkows fabelhaften Roman Graue Bienen. Zehntausende Bienenvölker könnten infolge des Krieges verloren gehen, die Bienen verwildern und vor dem Lärm fliehen. Ein Soldat mit Imker-Kenntnissen nimmt sich bei Bachmut eines Bienenvolkes an und gibt ihm in einer Munitionskiste ein Zuhause. Als der Imker versetzt wird, können die Bienen dank eines Freiwilligen (ohne Imker-Kenntnisse) in ihrer Kiste nach Westen fliehen.

Von den Bienen kommt Kurkow auf die Menschen im Frontgebiet, die zum Teil abwarten, statt zu fliehen. Neben pro-ukrainischen gibt es darunter jedoch auch verräterische Abwartende, die bei erster Gelegenheit mit den Invasoren kollaborieren. Ein unangenehmes Thema, das Kurkow über das Bienen-Motiv ansteuert: Ukrainer, auch in hohen Positionen, haben sich kaufen lassen, schon 2014.

In den besetzten Gebieten müssen viele Menschen mit den Russen kooperieren, denn ihnen werden vielfältige Daumenschrauben angelegt. Doch auch in den nur kurzfristig eingenommenen Dörfern um Kyjiw gab es Kollaborateure, die den Russen bei ihren Kriegsverbrechen halfen, darunter ein ehemaliger Mönch aus einem Kloster des Moskauer Patriarchats in Andrijiwka. Nach dem Rückzug der Russen blieben ihre Hinterlassenschaften, Müll, Gerümpel und auch Waffen.

Die wiedergewonnene Freiheit in den befreiten Orten liegt unter dem Schatten der überstandenen Besetzung. Betrunkene feuern mit den russischen Waffen bei Nacht, niemand will sie anschwärzen, wegen dem, was die »Alkoholiker« unter der Knute russischer Soldaten durchmachen mussten.

Es ist ein seltsames Nebeneinander in dieser neuen Hölle. Einige Bewohner bemühen sich um Normalität, andere stehlen das Gemüse aus dem Garten des Nachbarn, um Alkohol vom Erlös zu kaufen. Einer dieser »Täter« ist ausgerechnet Bienenzüchter. Das Eingangsmotiv dient zu einem Kommentar Kurkows: Eines der Bienen-Völker des räuberischen Alkoholikers wird sich aus dem Staub machen, denn:

Vernachlässigung ist auch eine Form des Verrats und genauso wie Menschen tun sich Bienen schwer damit, Verrätern zu vergeben.

Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg

Kurkow lässt seinen Lesern Raum, um selbst über unangenehme Themen wie Verrat, Kriegsverbrechen, Kollaboration und Traumata nachzudenken, indem er auf literarische Weise für die nötige Entlastung sorgt. Angst frisst nicht nur die Seele auf, sie verhindert auch Denken und Empathie. Auf diese Weise bringt Im täglichen Krieg dem Leser den Kriegsalltag nahe, ohne diesen damit zu erschlagen. Auch aus diesem Grund ist das Buch unbedingt lesenswert, wie schon der erste Teil, Tagebuch einer Invasion.

[Rezensionsexemplar]

Andrej Kurkow: Im täglichen Krieg
Aus dem Englischen von Rebecca DeWald
Haymon Verlag 2024
Klappenbroschur 432 Seiten
ISBN: 978-3-7099-8230-3

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Auf die beiden Herren geht die Autorin in ihrem Buch auch ein, sie verbindet mehr als nur ein Handschlag. Cover Siedler Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Schon auf den ersten Seiten dieses Buches ist der Leser ein Stück klüger und orientierter. Anne Applebaum betont gleich zu Anfang von Achse der Autokraten, dass sich hartnäckig eine karikaturhafte Vorstellung vom Alleinherrscher an der Spitze eines autokratischen Staates hält. Putin, Ji, Lukaschenko, Erdogan, Trump – die Liste der gegenwärtigen Autokraten ist lang. Doch ein Autokrat allein macht keine Autokratie.

Autokratien sind Netzwerke mit kleptokratischem Geschäftsmodell, die sich auf einen vielschichtigen Apparat stützen: Armee, paramilitärische Verbände, Polizei und andere Sicherheitsorgane wie Geheimdienste, unterstützt von High-Tech- und IT-Experten, die sich um Propaganda und Desinformation kümmern. Die Netzwerke sind nicht auf ein Land beschränkt, sondern mit Netzwerken anderer Länder verbunden. Das können auch Netzwerke in Demokratien sein, es müssen nicht einmal antidemokratische Parteien wie AfD oder BSW, Teile von Union und SPD gehören eben auch dazu.

Man unterstützt sich mit Ausrüstung, Ausbildung, Informationen; man nennt Ziele und hilft bei der Durchführung von Kampagnen; Medien und Trollfarmen werden dafür eingesetzt. Oder man sorgt für einen positiven Leumund, leistet Hilfestellung bei der Umgehung oder Aufweichung von Sanktionen. Auch aus persönlichen Gründen, denn Autokraten und ihre demokratischen Satrapen sind oft superreiche Unternehmer. Es dürfte kein Zufall sein, dass superreich gewordene Entrepreneure nicht selten autokratische Affinitäten hegen.

Die modernen Autokraten bezeichnen sich als Kommunisten, Monarchisten, Nationalisten und Theokraten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Ideologie spielt anders als im 20. Jahrhundert für die Kooperation keine Rolle. Geld stinkt nicht, weder in der Geschäftswelt noch in der Welt der Autokraten. Machterhalt ist das primäre politische Ziel, die Untergrabung einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung wäre andernfalls vielleicht auch gar nicht nötig. So aber gilt der freie Westen den Autokraten als Quelle für unerwünschte Inspiration für Widerstand gegen die alleinige, unkontrollierte Herrschaft.

Applebaum schildert auf schnörkellose und direkte Weite unsere Gegenwart, es geschieht seit Jahren und es geschieht jetzt. Einige Beispiele, Belarus und Venezuela, deren jüngste Geschichte skizziert werden, sind aus den Medien vertraut, die Akteure sind es ebenfalls. Doch geht die Autorin noch einen Schritt weiter und sagt mit einer Klarheit, die in oft verdruckst formulierenden Medien fehlt: Ohne die gegenseitige Unterstützung der Autokratien würde der Widerstand der eigenen Bevölkerung wohl ausreichen, um die alleinigen Herrscher zu stürzen.

Das ist ein Muster, was auch für den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine greift. Allein wäre Russland vielleicht schon in die Knie gegangen. So löchrig die Sanktionen auch sein mögen, so zögerlich und unzureichend die militärische und wirtschaftliche Unterstützung für die Ukraine auch ist, ohne die Hilfe anderer Autokratien, wäre Russlands Position sehr viel schwächer. Der Westen hilft der Ukraine also nicht nur gegen Russland, sondern gegen eine Achse der Autokraten.

Wie die Oppositionellen in Venezuela oder Belarus mussten sie allmählich erkennen, dass sie in der Ukraine nicht nur gegen Russland kämpften. Sie kämpften gegen die Achse der Autokraten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Bedeutend ist die Erkenntnis, dass Autokratien nur mit Hilfe des Westens an die Macht gelangen und diese konsolidieren können. Es sind westliche Technologien und vor allem das lückenhafte Regelwerk, die den Antidemokraten helfen. Ohne die Finanzierungsmöglichkeiten, etwa durch Geldwäsche, wäre die Macht von Autokraten wesentlich beschränkter, als sie es heute ist. Viele lassen sich einspannen, viele – nicht alle! – bezahlen, um Autokraten zu helfen.

Es sind nicht nur die autoritären Parteien, deren ideologische Zuschreibung als rechts oder links in diesem Punkt mehr verschleiert als erhellt; es sind nicht nur die Zuträger in anderen Parteien, die Einflussnehmer oder -agenten; es sind nicht nur die Interessenvertreter in Verbänden und Lobbyisten, die im Dienste der Putins, Mullahs und Xis stehen, sondern auch Anwälte, Banker, Gewerkschafter und Technologie-Oligarchen, die (fast) legal ihrer Tätigkeit nachgehen.

Hier sieht Applebaum auch einen Ansatzpunkt für die Wende im Kampf gegen die heraufziehende autokratische Dunkelheit: Regulierung. Die Autorin macht sich und ihren Lesern keine Illusionen. Das ist eine brutale Bergaufschlacht, deren Ausgang völlig ungewiss ist. In den USA weht der Wind in die entgegengesetzte Richtung. Doch nicht nur dort ist der Widerstand gegen gesetzliche Regulierungen groß. Ein Beispiel wäre die Verwendung von Bargeld in Deutschland beim Immobilienkauf, eine offene Tür für Geldwäsche, deren Einschränkung von mächtigen und ruchlosen Zeitgenossen bekämpft wird.

Die moderne Auseinandersetzung zwischen autokratischen und demokratischen Gedanken und Praktiken ist keine direkte Fortsetzung dessen, was wir im 20. Jahrhundert erlebt haben.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Zu den ganz besonders spannenden und ernüchternden Abschnitten gehört jener, der sich mit den Veränderungen autokratischer Herrschaft und Herrschaftssicherung befasst. Applebaum erklärt anhand mehrerer Beispiele, wie und was die Autokraten gelernt haben. Zumindest die Vorgänge in Hong-Kong dürften politisch Interessierte verfolgt haben. Die Aktivisten dort haben laut Applebaum sehr vieles richtig gemacht, vergangene Kampagnen studiert und an die lokale Lage angepasst. Sie haben auch gelernt – und sind krachend gescheitert.

Wenn man liest, wie es den Chinesen gelungen ist, die studentische Bewegung in Hong-Kong niederzuwerfen, wird es ungemütlich. Da ist zum einen der Anfang der 1990er Jahre vorherrschende Glaube, die demokratische Regierungsform werden sich quasi von allein durchsetzen. Das »Ende der Geschichte« (Fukuyama) hat sich als verhängnisvolle Illusion entpuppt, an der sich bis in die Gegenwart politische Parteien wie Teile der SPD klammern. Das Konzept »Handel durch Annäherung« oder später »Handel durch Wandel« ist mausetot, geistert aber als Wiedergänger durch die Berliner Korridore der Macht.

Das Beispiel Hong-Kong zeigt auch, wie sehr die Anhänger demokratischer Prinzipien die Lernfähigkeit der Autokraten und die Verlockung des Autoritären an sich unterschätzt haben. Die Autokraten sind überlegen. Sie nutzen die Möglichkeiten geschickter und ruchloser als westliche Demokraten. Ihre mediale Durchdringung Afrikas, des Mittleren Ostens, Südamerikas  zum Zwecke von Propaganda, Desinformation und Destabilisierung ist mächtiger als der naive Glaube, mit seriösen Nachrichten allein werde man bestehen.

In unseren alten Modellen ist kein Platz für die Einsicht, dass mansche Menschen Desinformationen wollen. Sie finden Gefallen an Verschwörungstheorien und haben wenig Interesse an zuverlässigen Nachrichten.

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten

Faktenchecks bringen nicht mehr viel, wenn eine Lüge in der Welt ist – was auch große, überregionale Medien, Tagezeitung und Öffentliche-Rechtliche-Medien nicht wahrhaben wollen. Sie lassen sich sogar ausnutzen, werden Plattformen, über die Propaganda in die Breite getragen und mit einem seriösen Anstrich versehen wird. Präventive Gegenkampagnen wären nötig, eine strategisch gezielte Medien-Öffentlichkeit (nicht gespiegelte Propaganda), die von den Menschen auch bezahlt und zur Kenntnis genommen werden kann, wären nötig.

Dem wirkungsvollsten Mittel, der Schmutzkampagne, wird man selbst damit nicht so einfach Herr. Es ist in Deutschland zu beobachten, wie selbst formal demokratische Politiker die Schmutzkampagne zur Bekämpfung des politischen Gegners benutzen, von den offen autoritären und antidemokratischen Parteien und Gruppierungen gar nicht zu reden. Eine Regulierung des wuchernden Lügen- und Desinformationsgeschwürs wird man allein deswegen nur sehr schwer durchsetzen können.

Applebaum weiß das auch. Daher klingt ihre Schrift auch sehr kämpferisch. Ähnliches kann man bei Über Freiheit von Timothy Snyder lesen. Beide beziehen sich übrigens auf Vláclav Havel und seinen Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben. Da die Gegner seit Havels Zeit gelernt haben, müssen die Freunde von Freiheit, Wahrheit und Demokratie auch lernen und neue Strategien entwickeln. Eine Bergaufschlacht, die nicht endet und deren Ausgang völlig ungewiss ist.

[Rezensionsexemplar]

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Siedler Verlag 2024
Hardcover 208 Seiten
ISBN: 978-3-8275-0176-9

Timothy Snyder: Über Freiheit

Gefängnisse in den USA sind Teil der Unfreiheit, so Timothy Snyder in seinem ebenso bereichernden wie herausfordernden Buch, das dem Leser reichlich Anlass zum Nachdenken bietet. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Die Maschinen (d.h. Algorithmen) sperren uns in festere Schubladen: ethnische Herkunft, Geschlecht, Einkommen, Wohnort; sie definieren uns durch unsere wahrscheinlichsten Zustände, durch das, was wir online oder unter Überwachung tun, nicht durch das, was wir auf Berggipfeln oder unter Wasser oder bei lauter Musik oder in unseren Träumen tun.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Es gibt Bücher, an denen führt kein Weg vorbei. Timothy Snyders Über Freiheit gehört für mich dazu. Seit der amerikanische Historiker sein Buch Bloodlands veröffentlicht hat, lasse ich mir gern vom ihm die Welt und seine Sicht darauf erklären. Bloodlands hat meine Perspektive auf Gegenwart und Geschichte derart nachhaltig und tiefgreifend verändert, wie es bei Büchern selten der Fall ist (Ganz normale Männer von Christopher Browning wäre ein anderes Beispiel), dass ich immer sehr gespannt bin, wenn etwas Neues von ihm veröffentlicht wird.

Über Freiheit  wäre ein Buch, das man FDP-Anhängern ganz dringend zur Lektüre empfehlen würde. Deren immer und überall postuliertes »Freiheit« ist hohl wie eine leere Dose, reduziert auf Fingerhutgröße und wird dem Begriff nicht gerecht. Die formelhafte Aushöhlung des Wortes wird in Über Freiheit schön aufgezeigt. Wie umfassend und durchaus vielschichtig »Freiheit« ist, zeigt sich schon auf den ersten Seiten des Buches. Auch wird deutlich, dass Synder es sich und seinen Lesern nicht leicht machen will.

Grundsätzlich ist man gut beraten, bei allem Gedankengut, das aus den USA über den Atlantik herüberschwappt, der Verlockung zu widerstehen, das eins zu ein auf Deutschland und Europa zu übertragen. Ein herrliches Beispiel ist die These, es gebe keinen Rassismus gegen Weiße. Selbst in den USA darf das bezweifelt werden, in Europa ist es schlichtweg falsch und zwar auf allen Bedeutungsebenen. Man braucht dazu nicht einmal den berüchtigten »Generalplan Ost« zu exhumieren, es reicht ein Blick auf das, was über die Ukraine und ihre Bewohner gesagt wird. Aus Russland, aber auch aus dem Westen, kommt eine Menge Rassismus, offenem und verdecktem.

Freiheit kann nicht gegeben werden. Sie ist kein Erbe. […] In dem Moment, in dem wir glauben, das Freiheit gegeben ist, ist sie weg.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Diese Vorsicht ist auch für Über Freiheit von Timothy Snyder angebracht. Wenn dort beispielsweise etwas über das wirtschaftliche und soziale System gesagt wird, meint es vor allem das der USA, nicht aber das der Europäischen Union und erst recht nicht das einzelner europäischer Staaten mit ihren vielfältigen Eigenheiten. Selbstverständlich gibt es globale Einflüsse, die besonders von den USA beeinflusst werden. Trotzdem gibt es dramatische Unterschiede und die sollte man immer im Hinterkopf haben.

Man sollte sich also einerseits davor hüten, die Kritik unreflektiert zu übertragen, andererseits auch keine Kritik am Buch selbst üben, weil das der eigenen Sicht des spezifisch deutschen respektive europäischen Systems widerspricht. Sonst landet man zwangsläufig bei Plattitüden auf der Ebene von »Kapitalismuskritik« oder »Globalisierungskritik«. Man sollte das ernst nehmen, denn nicht umsonst sagt Snyder sagt selbst über sein Vorhaben:

Ich wurde gefragt, wie ein besseres Amerika aussehen könnte. Dies hier ist meine Antwort.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Snyder beginnt sein Buch aber mit einer europäischen Perspektive. Das Vorwort von Über Freiheit ist im Zug von Kyjiw nach Westen geschrieben worden. Das ist in mehrfacher Hinsicht symbolträchtig, denn in der Ukraine entscheidet sich tatsächlich das Schicksal der gesamten Welt für die kommenden Jahre, eventuell Jahrzehnte. Hält die Ukraine dem russländischen Angriffskrieg stand, hält vor allem der Westen dem seit Jahren von Russland geführten hybriden Krieg gegen sein demokratisches und offenes System stand, dann wird vielleicht Schlimmeres abgewendet werden können. Ein Angriff Chinas auf Taiwan etwa, dessen Folgen derart dramatisch sein würden, dass die Turbulenzen aus dem Krieg Russlands recht bescheiden erscheinen mögen.

In der Ukraine wurden von der russländischen Armee im Jahr 2022 Gebiete besetzt und im gleichen Jahr von ukrainischen Streitkräften »befreit«. Snyder erzählt von Marija, einer 85 Jahre alten Dame, die in einer Notunterkunft bei Psad-Pokrovske lebt, nachdem die Invasoren vertrieben wurden.  Der Ort wurde befreit, sie wurde befreit – doch ist sie auch frei? Synder verneint. Er hält den Begriff »Befreiung« für irreführend, »Deokkupation«, wie ihn die Ukrainer gebrauchen, erscheint ihm passender. Denn so erst könnte man die Frage stellen, was eigentlich nötig ist, um »frei« zu sein. Konkret: Was fehlt Marija zur »Freiheit«?

Freiheit ist nicht nur die Abwesenheit des Bösen, sondern auch die Anwesenheit des Guten.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Snyders Mission ist, dem allzu oft gebrauchten, missbrauchten Wort »Freiheit« wieder Leben einzuhauchen, der bloßen Hülle ein Wesen zu geben. Er will den Begriff definieren. Seine amerikanischen (!) Landsleute gebrauchten den Begriff oft als Abwesenheit von etwas, von Besatzung, Unterdrückung, einer Regierung. Das nennt er »negative Freiheit«, der eine »positive Freiheit« gegenüberstellt. Das Begriffspaar wirkt zunächst schematisch und auch konturlos, die Beispiele aber, wie zum Beispiel Ukrainer Freiheit definieren, beinhalten allesamt etwas Positives.

In der Ukraine betrachten laut Snyder die Menschen Städte und Orte erst dann als befreit, wenn der Bahnverkehr wieder funktioniert. (Im Gegensatz sind die Ansiedlungen, die von russländischen Soldaten »befreit« wurden, zerstört.) Die Struktur ist also wiederhergestellt, doch muss sie erst gefüllt werden, um von Freiheit zu sprechen. Die Möglichkeit zur Mobilität ist ein zentraler Punkt für Freiheit, doch muss der Mensch sie auch selbst nutzen, um Freiheit zu erlangen. Sie ist weder einfach so da noch dauert sie an oder kann vererbt werden. Umgekehrt kann eine Voraussetzung für Freiheit bzw. Unfreiheit sehr wohl vererbt werden, Vermögen bzw. vererbte Armut.

Auf insgesamt sechs Feldern versucht sich Snyder dem Phänomen Freiheit anzunähern: Souveränität, Unberechenbarkeit, Mobilität, Faktizität, Solidarität und Regierung. Die Auswahl überrascht vielleicht, damit hätte das Buch den Punkt der »Unberechenbarkeit« schon mal erfüllt. Doch das ist nur die Form, die grobe Struktur, die Snyder mit durchaus verblüffendem Inhalt füllt. Der Autor mutet seinen Lesern einiges zu, etwa die nicht ganz einfache Unterscheidung zwischen »Körper« und »Leib«, bei der er auf die deutsche Philosophin Edith Stein und die französische Philosophin Simone Weil zurückgreift. Er wendet sich Politik-Bereichen zu, die von Macho-Politikern gern als »Gedöns« abgetan wurden und werden.

Eine Gesellschaft, der die Freiheit am Herzen liegt, würde diese Menschen [Care-Tätigkeiten wie Erzieherinnen, Lehrer, Pflegerinnen] mit Respekt behandeln und sie ordentlich bezahlen.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Für Snyder ist essentiell, dass Freiheit aus dem Menschen heraus erwächst und in die Welt hineinwirkt. Das Individuum ist dabei nie allein, isoliert, keine »Ich-AG«, sondern gerade in den ersten Lebensjahren auf andere zwingend angewiesen. Erst in der Verbindung zu anderen wird die Voraussetzung geschaffen, Freiheit und damit Autonomie entstehen zu lassen. Isolierte Kinder, wie sie die Realität tatsächlich kennt, können sich nicht entwickeln und auch nicht frei sein.

Snyders Ansatz ist auf den Menschen zugeschnitten und sehr persönlich ausgestaltet, zunächst spielen »große Politik« oder gar »Geopolitik« gar keine Rolle. Das politische System kommt dabei aber nicht zu kurz, wie der Rückgriff auf Václav Havel zeigt. Das Kapitel heißt »Unberechenbarkeit« und beschäftigt sich mit der Tyrannei durch Berechenbarkeit. Statt der bis 1968 bekannten brutalen Unterdrückung mit militärischen Mitteln setzten die Regime unter dem roten Banner des Kommunismus in der Zeit danach auf Bildschirme.

Wichtig ist dabei, dass diese Form der Unfreiheit nichts mehr mit der Ideologie von Marx, Engels, Lenin oder anderen kommunistischen Denkern zu tun hatte, sondern mit Breshnews Ziel, das seit 1945 bestehende Imperium zu erhalten. Die Bildschirme dienten demzufolge nicht dazu, sozialistische Ideen zu verbreiten, sondern die Konformitäts-Formeln zu streuen und den Zuschauern einzureden, es gäbe nur diese eine und sonst keine Form der politisch-sozialen Ordnung.

In den Führungszirkeln der Sowjetunion nach 1968 glaubte niemand mehr an Sozialismus, in den Rängen der Partei und ihrer Formationen sicher auch viele nicht. Lippenbekenntnisse statt Überzeugung dürften vielleicht auch für die Mehrheit der Menschen das Wesen ihres politischen Lebens gewesen sein. Allerdings hat Zustimmung und Nachbeten einen Haken, nämlich dass diese auf eine Form reduzierte, entleerte Normalität auf den Menschen rückkoppelt.

Sie [die Normalisierung] ist die Gewohnheit, das zu sagen (und dann zu denken), was notwendig erscheint, während man implizit (und dann explizit) übereinstimmt, dass nichts wirklich wichtig ist.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Das ist frappierend. Wenn nichts wichtig ist, dann ist alles egal und implizit durch fehlende Werte auch erlaubt. Das ist der Kern der Putin-Propaganda, die im Grunde genommen keine echte Propaganda mehr ist, sondern eine Weiterentwicklung. »Alles ist Scheiße« steht am Ende einer immer widersprüchlicher, einander letztlich ausschließender Flut von Informations-Müll, der »Lügenkaskaden« (Anne Applebaum). Ohne jeden moralischen Maßstab lässt sich alles rechtfertigen, der Zwang zur Rechtfertigung entfällt.

Über die Bildschirme heute flimmern nicht nur die TV-Programme wie zur Zeit von Václav Havel, auf den Nutzer stürzt eine unüberschaubare, überwältigende Flut an Informationen ein. Zu allem Gesagten kommt noch die rein quantitative Überforderung hinzu, mit der Folge, dass viele Zeitgenossen nicht mehr mit, sondern im Internet »leben« oder wie Snyder sagt: »im Bildschirm«.

Hinter dem, was wir sehen, stehen Algorithmen, die berechnen und berechenbar machen, was der Nutzer sieht; damit wird der Mensch berechenbar und verliert seine Freiheit, wenn man der Analyse von Snyder folgt. Die so genannten Sozialen Medien buhlen um Aufmerksamkeit, um Zeit und bedienen sich dabei jener Tricks, durch die einer Sucht verstärkt werden. Wie alle anderen Süchte ist das eine kurzzeitig bequeme Form, den Herausforderungen des wirklichen Lebens auszuweichen, eine dicke, dichte Schutzschicht zwischen sich und die Welt zu packen, wie es eine von OxyContin abhängige Künstlerin in Imperium der Schmerzen von Patrick Radden Keefe formulierte.

Berichten zufolge soll Mark Zuckerberg die frühen Nutzer von Facebook als »dumb fucks« bezeichnet haben, weil diese voller Vertrauen zu seiner Plattform gewesen seien. Das kann man als sprachliche Entgleisung eines überheblichen CEO sehen, man kann aber darin auch den Keim einer Entmenschlichung derjenigen sehen, die an die Versprechungen einer schönen, neuen Welt geglaubt haben. Das geschah ausgerechnet durch jenen, der das „Soziale“ Medium erschaffen hat und damit Geld scheffelt. Entwürdigungen dieser Art standen oft am Anfang von Entrechtung und Gewalt, der brutalen Form von Unfreiheit in Lagerwelten.

Freie Menschen sind berechenbar für sich selbst, aber unberechenbar für Machthaber und Maschinen.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Spätestens an diesem Punkt muss man als Leser doch innehalten und sich selbst, sein alltägliches Verhalten reflektieren. Den eigenen Umgang mit den Sozialen Medien, das Verhältnis von Bildschirmleben zu »Real Life«, bis hin zur Manipulierbarkeit. Bücher wie Über Freiheit sind in diesem Sinne unbequem gefährlich, denn sie können zu beunruhigenden Fragestellungen an sich selbst führen. Für mich  ist das eines der ganz großen Komplimente, die man einem Werk machen kann, und die Basis für eine dringliche Leseempfehlung.

[Rezensionsexemplar]

Timothy Snyder: Über Freiheit
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
C.H.Beck 2024
Gebunden, 410 Seiten
ISBN: 978-3-406-82140-0

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