Gleich mehrere Sätze aus diesem Tagebuch einer Invasion haben mich lange beschäftigt. Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow bringt an einer Stelle auf den Punkt , was ein Frieden á la Putin für die Ukraine bedeuten würde. Ein Frieden, von dem in Deutschland Briefeschreiber und Petitions-Signierer sprechen, über die Köpfe der Betroffenen hinweg, die – man muss es so deutlich sagen – die Friedensbewegten kein Stück interessieren.
Statt [der Ukraine] wird es hier einen Friedhof geben mit einer Friedhofswärterhütte, in der eine Art Generalgouverneur hocken wird, den man aus Russland geschickt hat, um die Gräber zu bewachen. 08.03. 2022
Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion
Das ungeheuerliche Bild, das Andrej Kurkow hier malt, ist erschütternd, hellsichtig und leider nicht überzogen, wie man spätestens seit Butscha wissen müsste. Russland führt gegen die Ukraine einen Vernichtungskrieg und ein Frieden mit dem Segen des Kreml gibt es nur, wenn die Auslöschung von Staat und Volk vollendet wäre. Es wäre ein Siegfrieden, dem Friedhofsruhe folgen würde. Alle anderen Annahmen sind bloße Augenwischerei.
Kurkows Satz ist entlarvend. Jene, die im friedlichen Deutschland sitzen, und ihre »Vorschläge« unterbreiten, tun dies in einer kolonialistischen, menschenfeindlichen Haltung, es geht um ihren eigenen Frieden, den hilflosen Versuch, ein Weltbild zu retten, das Schiffbruch erlitten hat, und ihre eigene Ohnmacht zu überdecken. Es ist durchaus menschlich, das Überwältigende wegzudrücken, aber nicht auf Kosten anderer, die ihren Kopf dafür hinhalten müssen. Das wird durch Kurkows Tagebuch deutlich.
Zu den unangenehmsten Passagen des Buches gehören jene, in denen Kurkow von westlichen, vor allem deutschen Journalisten und ihre dummen Fragen spricht, Fragen, die selbst jene leeren, formelhaften Interviews von Fußballern nach Ligaspielen unterbieten. Ob man bereit wäre, für die Ukraine zu sterben – die wohl dümmste von allen, denn sie stellt sich jenen nicht, für die es keine Wahl gibt. Fragen, als hätte es Mariupol nicht gegeben.
Umso seltsamer ist es, dass man in einer solchen Situation Fragen wie diese von ausländischen, häufig deutschen Journalisten hört: »Sprechen Sie bereits mit Ihren russischen Schriftstellerkollegen darüber, wie Sie einander nach dem Krieg begegnen werden?« 23. März 2022
Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion
Das ist von atemberaubend ideologischer Verbohrtheit und nicht untypisch für deutsche Medien aller Couleur. An diesem Tag, dem 23. März 2022, hat Kurkow notiert, dass sich alles langsam nach einem »versuchten Völkermord« anfühle. Europa, so seine Diagnose, habe noch nicht das Ausmaß des Schreckens erfasst; viele wollen das nicht, bis heute nicht und stürzen sich in groteske Verschwörungserzählungen.
Der Schriftsteller Kurkow ist von diesem Krieg aus der Bahn geworfen worden, von einem Tag auf den nächsten ist sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt, seine Existenz in mehrfacher Hinsicht bedroht und die Zukunft ungewiss. Vor allem aber ging es ihm so, wie es mit Sicherheit vielen anderen in der Ukraine ebenfalls erging: Er habe es »einfach nicht wahrhaben« wollen, dass tatsächlich ein Krieg ausgebrochen war.
Es sind die Tage der Fassungslosigkeit, der Versuch, die neuen Realitäten zu sortieren, jene Bedingungen, unter denen lebenswichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, vor allem jene: Kyjiw verlassen oder nicht. Heute ist die Stadt nicht mehr von russischen Truppen bedroht, wird aber unverändert mit Raketen und Drohnen beschossen. Damals aber dräute eine Einkesselung der ukrainischen Hauptstadt, was das Leben von Millionen in Gefahr gebracht hätte.
Die neue Realität in der Ukraine übertrifft meine schriftstellerische Vorstellungskraft bei Weitem. 23.02. 2022
Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion
Wie Millionen andere Ukrainer geht auch der Schriftsteller mit seiner Frau wenige Tage nach dem Angriffsbeginn in den Westen des Landes und kommt dort so lange unter, bis er nach Kyjiw zurückkehren kann. Im Exil angekommen, versucht er, wieder zu schreiben – eigentlich stünde die Arbeit an einem Roman an, doch ging das nicht. Bei einer Lesung hat Kurkow das auch damit in Zusammenhang gebracht, dass er auf Russisch schreibt, der Gebrauch der Sprache des Angreifers im Vernichtungskrieg aber für einige Zeit unmöglich war.
Stattdessen informiert er sich, folgt dem Geschehen in den Sozialen und herkömmlichen Medien und beginnt selbst, Artikel und Beiträge zu verfassen, Interviews zu geben, zu erklären, erläutern und berichten, insbesondere dem Westen deutlich zu machen, was in der Ukraine tatsächlich geschieht. Sein Tagebuch einer Invasion geht weit über das hinaus, was ein gewöhnliches Tagebuch leistet – es enthält lange, ausgearbeitete Streifzüge und Betrachtungen durch historische Zusammenhänge und Ereignisse, die Gegenwärtiges im richtigen Licht erscheinen lassen.
Da wären zum Beispiel die Deportationen von Ukrainern, die in den von Russland besetzten Gebieten seit Kriegsbeginn wieder im großen Stil durchgeführt werden. Vom Staatsgebiet der Ukraine wurden in der Stalinzeit nicht nur die Krimtataren deportiert, sondern auch viele ukrainische Bauern. Kurkow schildert, dass Stalin zum einen unliebsame Elemente aus der Ukraine entfernen ließ, andererseits das menschenleere und wenig attraktive Sibirien mit dringend benötigten Arbeitskräften versorgte.
In dieser neuen Epoche erleben wir nun, wie sich die Geschichte wiederholt. 05.03. 2022
Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion
Je länger man das Tagebuch liest, desto eindrücklicher wird das Bild vom Krieg, von seinen Widersprüchen, Überraschungen, der unglaublichen Kraft einer Zivilgesellschaft, die sich organisiert und den Widerstand gegen die Invasoren von der Graswurzel aus führt – was im Westen von den selbst ernannten Friedensbewegten überhaupt nicht wahrgenommen wird.
Besonders beeindruckend ist Kurkows Schreib- und Erzählweise, mit der es ihm gelingt, den Leser die verheerenden Seiten des Krieges nachempfinden zu lassen. Ein schönes Beispiel ist das Kapitel »Brot mit Blut«. Brot ist etwas Alltägliches, was jeder kennt. Zunächst schildert Kurkow das Verhältnis seiner Familie zum Brot, auf dem Dorf habe er mehr davon gegessen als in der Stadt, denn »Dorfbrot war schon immer leckerer als das in der Stadt«.
Die Kinder lieben das Brot, insbesondere das der Lieblingsbrotmarke Makariw, ein »weiches Kastenweißbrot«, das in der Makariw-Bäckerei im Ort gleichen Namens gebacken wurde. In Kyjiw gebe es diese Kostbarkeit nur vereinzelt in kleinen Läden, nicht im Supermarkt. Die Erinnerung an den Geschmack ist jedoch von dem nach Blut unterlegt, als habe ihm jemand die Lippe blutig geschlagen. Denn:
Am Montag wurde die Makariw-Bäckerei von Russlands Truppen bombardiert. Die Bäcker waren bei der Arbeit. Ich kann mir den Duft vorstellen, der sie in dem Moment umgab, als der Angriff stattfand. Von einem Augenblick zum nächsten wurden dreizehn Bäckereimitarbeiter getötet und neun weitere verletzt. Die Bäckerei gibt es nun nicht mehr. Makariw-Brot gehört der Vergangenheit an. 08.03. 2022
Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion
Eine Bäckerei, ein Lieblingsbrot kennt jeder. Wer könnte diesen Verlust nicht nachempfinden, wer nicht das brillante und nahegehende Bild des nach Backstube duftenden Ortes, der von einer Rakete in einen Ort des Todes verwandelt wurde? Solche Passagen bringen den Kriegschrecken dem Leser näher, sie verbinden ihn mit dem Denken und Fühlen, reißen ihn aus der Grauzone des Abstrakten.
Kurkow macht auf diese Weise deutlich, was Sätze, wie etwa jene über die Kriegsziele Putins in der Ukraine in der Lebenswirklichkeit der Menschen bedeuten – nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart, wenige Flugstunden von Deutschland entfernt. Es ist ein abstraktes Ziel, die UdSSR oder das Zarenreich wieder errichten zu wollen, dessen versuchte Verwirklichung durch Krieg sehr blutige, schmerzhafte und irreversible Folgen in der Realität der Menschen zeitigt.
Zu den Kuriositäten, ja grotesken Dingen des Krieges gehört, dass zerstört wird, was angeblich geschützt werden soll. Die vorgeschobene Begründung Putins, die Russen und ihre Sprache schützen zu wollen, ist eine Lüge. Das Gegenteil ist der Fall, wie Kurkow am eigenen Leib erfahren muss, denn er ist ethnischer Russe mit Russisch als Muttersprache, die ebenfalls unter Feuer gerät.
Putin zerstört nicht nur die Ukraine, er zerstört Russland und damit auch die russische Sprache. 13.03. 2022
Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion
Wer es im Westen einfach mag, und das gilt durch alle Bevölkerungs- und Bildungsschichten, ordnet gern zu: Russischsprachig ist gleichzusetzen mit »nach Russland orientiert«. Der Osten der Ukraine wäre demnach eher russlandfreundlich, der Westen eher Europa zugeneigt. Das entpuppt sich bei näherem Hinsehen als naseweiser Nonsens, der Sprachgebrauch ist viel flexibler gewesen, als es diese Zweiteilung nahelegt, vor allem hat die Sprache nichts mit der politischen Orientierung gemein.
Von den Anfängen des Krieges folgt das Tagebuch einer Invasion dem Lauf der Ereignisse bis in den Sommer hinein und hinterlässt ein sehr eindrückliches Bild von dem, was Kurkow wahrnimmt und einordnet. Deutschland kommt dabei nicht gut weg, es hat vielmehr einen verheerenden Eindruck hinterlassen, der angesichts der zögerlichen, aber dann doch umfangreichen Hilfe auch in militärischer Hinsicht nicht ganz fair ist. Die Kommunikation, das wird auch in diesem Fall deutlich, ist ein einziges Desaster gewesen.
Viele hoch interessante Themen berührt der Autor in seinen Beiträgen, darunter auch wenig rühmliche, die aber zu jedem Krieg gehören. Kollaboration etwa oder auch Verbrecher, die aus der Kriegssituation Kapital schlagen wollen. In manchen Dingen irrt Kurkow, etwa in der Annahme, Russland würde den Informationskrieg in Europa verlieren – das wäre schön, entspricht aber nicht den Realitäten. Umso wichtiger sind Bücher wie dieses, in denen jene ausführlich zu Wort kommen, die von Putins Vernichtungskrieg betroffen sind und um ihr Leben und ihre Freiheit kämpfen müssen.
Andrej Kurkow: Tagebuch einer Invasion
Aus dem Englischen von Rebecca DeWald
Haymon-Verlag 2022
Klappenbroschur 352 Seiten
ISBN 978-3-7099-8179-5
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