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Blogmonat April 2025

Zum achtzigsten Mal nähert sich das Ende des Zweiten Weltkrieges, eine Graphic Novel skizziert in dramatischen Bildern den apokalyptischen Untergang. Zwei brillante Roman (und eine Enttäuschung), eine informative Abhandlung zu Hannah Arendt und vorzügliche über Leo Perutz sowie drei interessante Essays rund um das Schweigen. Ein feiner Lesemonat.

Verlage sind Unternehmen und handeln wie jedes andere Unternehmen auch. Sie sind keine Kultur- oder gar Bildungsinstitutionen, sie verfolgen primär Ziele, die aus betriebswirtschaftlichen Überlegungen hervorgehen. Gesellschaftliche Aspekte spielen eine untergeordnete Rolle. Es wird outgesourct, Kosten werden gesenkt (KI), Abläufe optimiert und aggressives Marketing (auf der Basis von Algorithmen) betrieben. Mit einem Wort: Ein Verlag macht im Kern das Gleiche wie etwa Amazon. Wirtschaftlichkeit ist dabei nichts Schlechtes, sondern das Fundament jeder Unternehmensexistenz.

Das sollte man im Auge behalten, wenn man sich mit dem Thema Verlage und Qualität von Literatur befasst. Verlage können mit Blick auf die Wirtschaftlichkeit keine Gralshüter literarischer Qualität sein, nicht nur Quell für Innovation, Progression oder Originalität. Ein Streifzug durch die Verlagsprogramme bestätigt das. Was dort an Ähnlichem und Austauschbarem präsentiert wird, ist bemerkenswert; inhaltliche Schmalspur-Massenproduktionen verpackt in knallige, ewig-gleiche Cover und farbenfrohe Buchschnitte gibt es reichlich. Umtost wird das alles von dramatisch-himmelstürmenden Lobesworten, unter »genial«, »brillant«, »Meisterwerk« oder »wichtig« geht es nicht.

Ist ein outgesourctes Lektorat für einen Verlag per se besser als eines für einen Selbstpublizierenden? Ich habe Zweifel. Doch selbst wenn das so ist, heißt »besser« nicht gut. Ein »besseres« Lektorat macht aus einer literarischen Ente noch lange keinen Schwan. Auch ein (freier) Lektor unterliegt wirtschaftlichem Druck, eine wie auch immer beschaffene literarische Qualität ist zwangsläufig zweitrangig. Das gilt erst recht für Übersetzungen, dicke Kostenbrocken in der Bilanz. Welcher Verlag wird der Verlockung der KI widerstehen, auch wenn das zu Lasten literarischer Qualität geht?

Und welchen Stellenwert kann Qualität in einer Welt haben, in der der fünfhundertste Aufguss der gleichen Geschichte noch immer Leser findet? Viele (international) erfolgreiche Buchreihen, deren Anfangsbände originell sind, erschöpfen sich in wiederholten Erzähl- und Handlungsmustern. Leser wollen nicht unbedingt überrascht, herausgefordert und schon gar nicht gegängelt werden. Sie suchen risikoscheu nach (scheinbarer) »Sicherheit«. Wer bei der Buchproduktion auf die Verkaufszahlen schaut, erliegt schnell der Versuchung, nur noch den vermeintlichen Leserwillen zu bedienen – bald mittels KI, die Bestseller vorhersagt.

Wer nun glaubt, ich sänge hier das Hohelied des Selbstpublizierens, irrt. Das wäre irrlichternder Nonsens, der eine sehr bequeme Weltsicht bedient, in der Gut und Schlecht einander gegenüberstehen müssen. Denkbar wäre ja auch Schlecht und Schlechter. Schon ein kleiner Streifzug durch Buchanfänge macht schnell manche Zumutung selbstpublizierter Bücher sichtbar. Auch Selbstpublizierer unterliegen den Mechaniken des Marktes, auch sie müssen auf die Kosten schauen. Die mantraartig vorgetragene Behauptung, ein Lektorat mache ein Manuskript besser, hilft wenig, wenn es nicht refinanziert werden kann.

Der Blick auf die Cover, Buchschnitte und bevorzugten Genres zeigt gerade auch bei Selbstverlegern einen erstaunlichen Konzentrations– und Konformitätsprozess. Die bisweilen lautstark behauptetet Progressivität und Diversität im Eigenverlagswesen wird gelegentlich auch unter Selbstublizierern als bloße Attitüde bekrittelt. KI wird von der Mehrheit – wie bei Verlagen – zur Kostensenkung und Ausstoß-Erhöhung verwendet, von Skeptikern gegenüber diesem Buch-Erstellen »Offenheit« eingefordert. Kritik begegnen viele KI-Schreiber mit einer Abwehrhaltung, die an Raucher bei Diskussionen um gesundheitliche Folgen des Tabakkonsums gemahnt.

Selbstverständlich gibt es Ausnahmen, Schattierungen sowohl bei Verlagen als auch bei Selbstpublizierern. Und das ist der Punkt: Die Kategorien »Verlag« oder »Selbstverlag« sind im Grunde irrelevant für jene, die nach Qualität, Originalität, Progressivität oder Relevanz suchen. Es ist ein Versuch, eine zunehmend unübersichtlichere Welt zu vereinfachen und diese Vereinfachung zu rechtfertigen. Man kann hier fündig werden und da, man kann hier enttäuscht werden und da.

Die Zukunft in Gestalt von KI, also Programmen, die sich entlang von Wahrscheinlichkeiten (!) hangeln und daher für einen dramatischen Konformitätsschub auf Seiten der Buchschreiber und -publizierer sowie der Leser sorgen werden, sieht auf beiden Seiten – pardon! – so richtig  sch***e aus.

Ich lese selbst aktuell ausschließlich Bücher aus Verlagen, meine Bücher veröffentliche ich jedoch selbst. Ein Widerspruch? Vielleicht. Vor allem ist es aber eine Frage der Zeit und damit der Ökonomie. Mehr als einhundert ungelesene Bücher, hunderte, die noch einmal gelesen (und auf dem Blog) vorgestellt werden wollen. Aus den Vorschauen suche ich mir zweimal im Jahr fünfzig bis sechzig Bücher heraus und versuche, mich auf fünf zu beschränken. Gelegentlich stöbere ich in selbstverlegten Werken, lese den Romanbeginn, irgendwann werde ich auch mal wieder eines vollständig lesen. Interessante Titel und Themen gibt es.

Fast vier Monate früher als geplant erscheint Verräter – Piratenbrüder Band 6. Es ist das dramatische Luftholen vor dem Finale. Das eBook wird exklusiv bei Amazon Kindle erscheinen und auch im Rahmen von Kindle Unlimited verfügbar sein, das Taschenbuch mit 424 Seiten gibt es wie üblich überall zu kaufen, wo man Bücher erwerben kann.

Kurzvorstellung der April-Bücher:

Vor ein paar Jahren las ich in der Sueddeutschen Zeitung einen Beitrag über Historische Romane. Zwei davon kaufte ich mir, neben Alejo Carpentier Die Explosion in der Kathedrale auch Der schwedische Reiter von Leo Perutz. Es ist kein Zeichen von Unbildung, diesen Namen nicht zu kennen. Perutz werde wenig gelesen, erfuhr ich in meiner Stammbuchhandlung. Ein Jammer, denn nach drei weiteren Büchern des Autors darf ich sagen: ein Großer. Ein Vergessener obendrein, wie man dem Buch Über Leo Perutz von Daniel Kehlmann entnehmen kann, das in der Reihe „Bücher meines Lebens“, herausgegeben von Volker Weidermann erschienen ist. Kehlmann ist ein engagierter Verfechter des vergessenen Autors Perutz. Seine paraphrasierende Annäherung an Nachts unter der steinernen Brücke zeigt sehr schön auf, warum das so ist. Perutz’ Hauptwerk ist höchst ungewöhnlich, ein Roman in Erzählungen, der auch etwas über seinen Schöpfer und sein tragisches Schicksal erzählt.

Auf den ersten, flüchtigen Blick scheint es sich bei Nachts unter der steinernen Brücke von Leo Perutz um eine Sammlung unzusammenhängender Erzählungen zu handeln. Einige Figuren tauchen jedoch mehrfach auf, was angesichts der Perspektivwechsel und Zeitsprünge vielleicht nicht sofort auffällt; der Ort des Geschehens bleibt jedoch gleich: Prag, um das Jahr 1600 herum, das Verhängnis des Dreißigjährigen Krieges wirft seinen langen Schatten voraus. Die Menschen selbst, vom Kaiser Rudolf bis hin zum reichen Juden Meisl treiben die Geschichte auf ihren untergründig, vielschichtig miteinander verflochtenen Lebenswegen voran. Durch die zerklüftete Form werden die Verbindungen auch für die Handelnden erst auf den zweiten, dritten Blick sichtbar, wenn es zu spät ist, der Schaden unwiderruflich angerichtet. Die Fiktion verweist auch darin auf die Wirklichkeit.

Mit der Graphic Novel Die letzten 100 Tage Hitlers* begibt sich der Leser auf eine Reise in den Mahlstrom des apokalyptischen Untergangs des so genannten »Dritten Reichs«. Das Buch setzt am 15. Januar 1945 ein, die Ardennen-Offensive ist krachend gescheitert, die Westalliierten stoßen Richtung Rhein vor, während die Rote Armee im Osten den Durchbruch erzwingt und bis an die Oder vorrückt. »Kriegführung bis fünf nach zwölf« nennen das Historiker sehr treffend. Wie das ausgesehen hat, zeigt die Graphic Novel in teilweise dramatischen Bildern. Immer wieder steht Hitlers aberwitziges Gerede im Hauptquartier kontrastierend zu dem, was in der realen Welt geschieht. Es war nicht nur Hitlers Krieg, die Eigeninitiative bei den unsäglichen Gewalt- und Mordtaten ist erschütternd. Ein Manko ist, dass die fürchterlichen Gewalttaten der Roten Armee gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung außen vor bleiben. Doch ist der Rest nicht nur anlässlich des 80. Jahrestages ein sehr guter Beitrag, um einen schonungslosen Eindruck von der Realität im untergehenden »Tausendjährigen Reich« zu bekommen. 

Enttäuschend war der Roman Das große Spiel* von Richard Powers. Der vielversprechende Beginn weckte die Erwartung einer komplexen und vielleicht auch dramatischen Auseinandersetzung mit brandaktuellen Themen wie KI, Ökologie, Erderhitzung und (kolonialer) Ausbeutung. Vor allem der Ort, die kleine Insel Makatea im Pazifik, weckt die Vorfreude auf das Buch. Doch fokussiert sich die Erzählung auf die Freundschaft zwischen den Protagonisten Rafi und Todd, zu denen sich noch Ina gesellt. Vieles wird nur angetippt, alles bleibt sehr oberflächlich, sei es Schach, sei es das Startup-Tech-Wesen, verziert mit einer bisweilen überzogen wirkenden Sprache. Völlig losgelöst erscheint die Figur der Evelyne Beaulieu, die bis zum Ende seltsam künstlich, substanz- und gehaltlos wirkt. Die »Wissenschaft«, die sie angeblich betreibt, ist nur vorgeschützt, behauptet; stattdessen ist sie mehr eine fotogene Taucherin, deren langatmige Beschreibungen der Unterwasserwunder staunen lassen soll und doch furchtbar ermüdend ist.

Der Untertitel des Buches von Thomas Meyer über Hannah Arendt* bezeichnet sie als „Denkerin des 20. Jahrhunderts“. Schon nach ein paar Seiten wird der Leser damit konfrontiert, dass die Gedanken Arendts in der Gegenwart noch immer diskutiert werden, auf eine durchaus emotionale Weise umstritten sind. Nicht nur das geflügelte Wort von der „Banalität des Bösen“ ist bekannt. Fünfzig Jahre nach ihrem Tod scheinen die Überlegungen Arendts etwas für unsere Gegenwart zu sagen zu haben, insofern stellt sich die Frage, ob sie vielleicht auch eine Denkerin des 21. Jahrhunderts ist? Meyers Buch öffnet die Tür zur Person Hannah Arendt und ihren Werken. Notgedrungen sehr knapp, kann und soll das nicht die eigene Lektüre ersetzen, der Leser erhält einen Fahrplan, der schließlich auch keine Reise ersetzt.

Von Friedrich-Christian Delius habe ich bereits eine Reihe von Büchern gelesen, die Romane und längeren Erzählungen gefallen mir auch wegen ihrer großen, erzählerischen Dichte. Zwischen dem, was erzählenswert ist, schweigt Delius, wenn man so will. Dem Schweigen widmet der Autor ein ganzes Buch. Die sieben Sprachen des Schweigens enthält drei längere, essayhafte Beiträge, in denen es um das Schweigen geht. Delius berichtet über eine Schriftsteller-Tagung in Israel, auf der er einen Textauszug seines Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde vortrug, mit überraschenden Folgen. Im zweiten Teil geht es um einen Spaziergang mit Imre Kertész in Jena und die Gedankenschleife, die das auslöste. Der Schlussteil schildert Denkfolgen eines Delirs nach einer Operation. Der Leser bekommt in diesem Buch nicht nur Bedenkenswertes vorgesetzt, es schildert auch den Gang des Schreibens. Ganz nebenbei gibt es Glanzlichter, etwa Worte: »die Bequemdenker, die Begriffszufriedenen, die Klischeemaler«. Es ist das dritte Buch meines Lesevorhabens 12für2025.

Fabelhaft fabulierend ist der Roman Grand Tour von Steffen Kopetzky. Er schickt seine Leser auf eine nicht enden wollende Reise durch Europa, die Hauptfigur, Leo Pardell, nimmt nämlich in großer Not einen Job als Schlafwagenschaffner an. Eigentlich sollte er in Buenos Aires weilen, doch nur die willentlich um einige Stunden verstellte Zeit seiner Armbanduhr ist das Einzige, was den Trip über den Atlantik zumindest virtuell schafft. Die erzählte Wirklichkeit spielt sich in Europa, vorzugsweise in Zügen, Bahnhöfen, Hotels, Spielkasinos, der Erinnerung und weiten Gedankenflügen ab. Eine ganz besondere Uhr spielt in diesem verwickelten Geschehen eine zentrale Rolle: Die Handlung spielt 1999, der Jahrtausendwechsel naht und mit ihm die große Stunde einer Uhr, deren »Komplikation«, also mechanische Funktion, das Ereignis nachvollziehen kann. Auf ihrer Spur ist ein Sammler, dessen Weg Pardell kreuzt – wie so mancher anderer wundervoll gezeichneten Figur. Ganz am Ende bricht der Virus tatsächlich aus, in einem Lokal, auf dem Brenner, zur Jahrtausendwende. Neben Propaganda und Damenopfer ein weiterer, spektakulärer Roman von Steffen Kopetzky.

Blog Gestöber

Zu den Orten, die ich in den vergangenen Jahren oft aufgesucht habe, gehören Bücherschränke. In Göttingen gibt es zwar auch welche, doch dort komme ich selten vorbei; dafür in einem kleinen Ort bei Göttingen, den ich regelmäßig beim Wandern durchquere. Dort steht eine alte Telefonzelle mit Büchern, die für mich zumeist uninteressant sind und leider oft in einem schauerlichen Zustand.

Ein Hinweis, dass dies keine »Blaue Tonne« (für Altpapier) wäre, zeigt, wie manche Zeitgenossen ihre persönlichen (oder ererbten) Schätzchen mit wertvollen Büchern verwechseln. Ich habe also darauf geachtet, dass kein Buch aus meinen Regalen dort landet, das älter als die Nullerjahre ist. Von den mittlerweile mehr als 250 Büchern, die ich aussortiert habe, sind nur einige Dutzend in der Bücherzelle gelandet und zumeist innerhalb weniger Tage verschwunden. Sie haben also Leser gefunden – angesichts der Konkurrenz, ist das kein Wunder.

Daher bin ich sehr froh, diesen Bücherschrank entdeckt zu haben; ein weiterer ist zuletzt bei einer Wanderung jüngst hinzugekommen, der etwas besser sortiert ist. Dort werde ich sicher einmal ein Buch hintragen, wenn es wieder eines gibt, das sich aus meinen Regalen verabschiedet. Das ist eine zufriedenstellende Weise, sich von Büchern zu verabschieden. Die Mehrzahl wandert jedoch in den Müll bzw. in die echte Blaue Tonne.

Bei www.lesestunden.de gibt es eine Karte mit Bücherschränken, die einen raschen Überblick erlaubt, wo in der Nähe welche zu finden sind. Eine schöne und hilfreiche Sache, denn so habe ich zwei weitere Orte entdeckt, die ich bei meinen Wanderungen regelmäßig ansteuere und wo ich einen Bücherschrank finden kann. Sehr fein!

Blogmonat März 2025

Wieder eine hübsche Lese-Mischung, wobei diesmal ein klarer Schwerpunkt auf Rom liegt. Hier liest mein Recherche-Auge mit. Klarer Top-Titel ist Alles umsonst von Walter Kempowski, der eigentlich in den Februar gehört. Cover beim jeweiligen Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Vor rund einem Jahr war ich mir sicher, dass ich mir zwölf Monate später wünschen würde, die Zeit wäre stehengeblieben. Das war kein Versuch, die Zukunft zu lesen, mich wichtig zu machen oder irgendjemanden zu frustrieren, es war eher Ausdruck einer pessimistischen Hilflosigkeit. Die vorsichtige Formulierung ist meiner damaligen Hoffnung geschuldet, die US-Demokraten würden es irgendwie schaffen, Trump zu verhindern.

Naiv, rückblickend betrachtet. Eine weitere Fehleinschätzung war die FDP, ich dachte, die Herrschaften kleben wenigstens so lange an ihren Sesseln, wie es geht – um den konstruktiven Kräften der Ampel Zeit zu verschaffen. Weder hätte ich Lindner die Courage zugetraut, den Sprung ins Dunkle zu wagen, noch die grandiose Idee, das mit einem politischen Sprengstoffgurt um den Bauch zu tun.

Nun ist die Welt düsterer geworden. Was mich besonders betroffen macht, ist die Wiederholung von Fehlern. Ich meine damit die immer und immer wieder auftretende Neigung, Äußerungen von Trump, Putin & Co. so auszulegen, dass sie in den eigenen Referenzrahmen passen. Wenn der US-Präsident sagt, Europa wäre ein Gegner, dann meint er das. Auf eine andere Weise als Putin, doch mit kaum weniger schwerwiegenden Konsequenzen.

Ich bin verblüfft, wenn Leute das Gehabe von Trump, den Mullahs und Kim als »Irrsinn« brandmarken. Das ist eine Einbahnstraßen-Sicht, wie bei Putin vor 2022, 2014, 2008 und auch in Zukunft. Ich habe weiter oben nicht umsonst auf Christian Lindner verwiesen, von außen betrachtet war es auch »Irrsinn«, die Koalition zu sprengen und die eigene Partei in den Abgrund zu reißen – trotzdem hat er diesen »Irrsinn« mit Hilfe vieler einflussreicher Parteimitglieder durchgezogen.

Aus meiner Sicht braucht man sich über den wirtschaftlichen Absturz der USA nicht sonderlich zu freuen, denn der wird – vermutlich – für Trump keine unmittelbaren Folgen haben. Sündenböcke (Europa, Migranten) lassen sich leicht finden, Erfolge auf Kosten anderer (Ukraine, Osteuropa, Grönland, Panama) phantasieren und damit ist das Instrumentarium der Autoritären noch lange nicht ausgeschöpft. Die Macht der Desinformation ist gigantisch, Timothy Snyder hat in Über Freiheit geschildert, dass er schon vor knapp zehn Jahren erstaunt registrierte, wie gut russische Propaganda in den USA funktioniert.

Was kann man tun? Nun, zum Beispiel die Ukraine unterstützen. Lesen, was Ukrainer schreiben. Spenden. Private Spenden sind wichtig, auch wenn sie sich gegenüber dem, was Staaten zahlen, gering ausnehmen. Bei näherem Hinblicken sieht es anders aus. 5,30 Euro pro Kopf und Monat beträgt der Gegenwert der deutschen Unterstützung – das kann man als Einzelner locker übertreffen. Um etwas zu bewegen, müssen nicht alle mitmachen, aber jeder einzelne zählt.

Kurzvorstellung der März-Bücher

Im letzten Blogmonat vergessen, daher jetzt rasch nachgetragen: Alles umsonst von Walter Kempowski führt den Leser in den Januar 1945 nach Ostpreußen. Die Rote Armee steht zum Sturm bereit, doch im Gut Georgenhof nahe der (erdachten) Kleinstadt Mitkau lebt man, als ob nichts wäre. Die Personen sind in Unwirklichkeiten versponnen, dabei kann man das dräuende Unheil kaum übersehen. Kriegsgefangene, verschleppte Zivilisten leben und arbeiten auf dem Hof und in der Umgebung, es gibt Andeutungen über die grausamen Verbrechen im Osten, Luftangriffe, an die Front rollende Panzer, handfeste Warnungen. Die Zeichen sind leicht zu deuten, doch reagieren die Bewohner viel zu spät, zu zögerlich und geraten in den Mahlstrom des Untergangs. Ich konnte gar nicht anders, als zu überlegen, ob sich dahinter nicht eine allgemeingültige menschliche Verhaltensweise verbirgt. Ein ganz großer Roman, der erste meines Lesevorhabens Wiedergelesen – 4für2025.

Wer ermordete Julius Caesar? Die Frage lässt sich recht leicht beantworten, die Namen der Männer, die den Diktator mit zahlreichen Messerstichen töteten, sind bekannt. Einige darunter sind berühmt, etwa Brutus, der Vorgang ist zahllos in Dramen (Shakespeare), Romanen (Robert Harris) und anderen fiktionalen Werken behandelt worden. Wozu also noch ein Buch über die Mordsache Caesar? Autor Michael Sommer hat gute Gründe, sich dem Fall anzunehmen, denn die eigentliche Frage ist doch die nach den Motiven der Mörder. Wann und warum wurde der weitreichende Entschluss gefasst, Caesar zu töten? Die Spurensuche führt tief in die römische Geschichte, sie enthüllt für uns recht fremde Gegebenheiten der römischen Politik, in der Herkunft, Namen, Abstammung und Ruhm eine so immense Bedeutung hatten und schildert anhand von ausgewählten Personen die Werdegänge der späten Republik. Der Leser bekommt ganz nebenbei einen Eindruck, wie schwerwiegend die Abkehr von einem bestimmenden Politik- und Gesellschaftsstil sein kann. 

Mit Schreibratgebern stehe ich auf Kriegsfuß. Zu groß finde ich die Gefahr, dass kreatives Schreiben zu regelkonformen Tippen verkommt, einer Art Malen nach Zahlen; schlimmstenfalls auch noch auf Marktkonformität getrimmt. Im Zentrum meines Schreib-Interesses steht das Thema, das mich so beschäftigt, dass ich mich damit schreibend auseinandersetzen möchte. Daher interessieren mich Bücher wie Becoming a Writer von Dorothea Brande, auf die Hilary Mantel in einem Interview aufmerksam gemacht hat. Es ist ein Ratgeber, der sich jedoch mit der Person des Autors befasst und – wenn man so will – vor der Beschäftigung mit Schreibtechniken und vielleicht auch Schreibkursen gelesen werden sollte. Es geht nämlich um das Wichtigste im Leben eines „Writers“, nämlich einer zu sein, wie einer zu leben und zu arbeiten. Sie betont die Eigenverantwortlichkeit des Schriftstellers, von der ihn niemand befreien kann, weder Lektor noch Testleser noch Schreibratgeber.

Eine Menge Erstaunliches hält Faramerz Dabhoiwala in seinem Buch Lust und Freiheit für den Leser bereit. Der Fokus liegt auf England, vor allem dreht es sich um das 17. und 18. Jahrhundert. Der Wandel im Verhältnis zur Sexualität ist verblüffend, eine Disruption würde man heute sagen. Nicht zu unrecht verwendet Dabhoiwala den Begriff Revolution. Ausgehend vom Mittelalter und der Frühen Neuzeit mit ihren Versuchen, ein sexuelles Moral-Regime zu errichten, beschreibt das Buch, wie die Betrachtungsweisen peu á peu aufweichen und einer neuen Haltung Platz machen. Es sind kuriose, zum Teil erschreckende Befunde, die aus den ausführlich zitierten Quellen sprechen. Frauen mussten eine Menge schauerlicher Dinge erdulden, die errungene Freiheit galt vor allem für (sozial höhergestellte) Männer. Wie die Französische Revolution und die von 1848 wurde ein Teil der Gesellschaft vom Streben nach Freiheit ausgeschlossen,  die verheerende Doppelmoral schuf erbarmungswürdige Zustände und abenteuerliche Versuche der Abhilfe.

Ein mäandernder Streifzug durch die Lebenswelt der Römer, wie sie in Geschichtsbüchern oft nur am Rande erwähnt wird. Michael Sommer bringt Licht ins Dunkel des Dark Rome, ein Unterfangen, das sich glücklicherweise nicht darin erschöpft, durch Schlüssellöcher die intimen Sphären des (außer-)ehelichen Lebens auszuspähen. Apropos Schlüssel: Wohlhabende Römer stellten ihren Reichtum durch Ringe mit Schlüsseln daran zur Schau. Neben solchen Details geht es aber auch um Grundsätzliches, etwa die Notwendigkeit, legitime Nachkommen in die Welt zu setzen. Das galt vor allem für die Oberschicht, keusches Verhalten der Frauen war von zentraler Bedeutung. Die Sittenstrenge lockerte sich, je weiter die gesellschaftliche Leiter hinabgestiegen wurde, doch auch dort war die Not groß, wenn ungewollt Kinder gezeugt wurden. Dark Rome ist ein Kaleidoskop der widersprüchlichen Vielfalt römischen (Alltags-)Lebens.

Die Gedichte von Paul Celan kann man mit verständnislosem Staunen lesen und wiederlesen, sich daran abarbeiten, assoziierend nachdenken. Oder aber man greift zu einer Ausgabe, die neben den Poemen erhellendes Material bereithält. Die Todesfuge und andere Gedichte ordnet eine Auswahl von Celans Gedichten ein, erläutert Textpassagen und einzelne Wörter und unternimmt erste Schritte Richtung Interpretation. Naturgemäß ist dieser Teil wesentlich umfangreicher als die Lyrik. Der Leser wird zudem über Celans Leben informiert, außerdem ist eine recht lange Rede des Dichters anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises abgedruckt. Das ist ein wenig wie bei einer Kunstflugschau, bei der man dem kurvenden Kreisen in luftigen Höhen staunend zuschaut und unwillkürlich die Frage stellt, ob die Schwerkraft vielleicht doch nicht allgegenwärtig ist.

Die Pflanze im Schnabel der Friedenstaube ist kein Zufall. Ausgerechnet Cannabis soll der DDR die dringend benötigten Devisen verschaffen, bezahlt vom Klassenfeind aus dem Westen, gehandelt in einer Art Grauzone an Grenzübergängen. Die Idee, im besten Gewissen zum Vorteil der DDR und des sozialistischen Bruderlandes Afghanistan erdacht, entwickelt ungeahnte Dynamik (und Gelächter beim Leser), eine Drogen-Flut droht aus dem Osten in den Westen Deutschlands zu schwappen. Alles ist so wundervoll harmlos, lustig, grotesk erzählt, unter diesem Deckmantel herrlich subversiv. Die Figuren entlarven den verlogenen DDR-Sozialismus (und nebenbei auch die Bigotterie im Westen – Milliarden-Kredit!) und brechen aus den verkrusteten Strukturen aus. Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste* von Jakob Hein ist ein Schelmenroman im besten Sinne. Chapeau!

Wie lebten und wie starben die Leute von Pompeji? Diesen Fragen geht das Kompendium Die letzten Tage von Pompeji* von Martin Pfaffenzeller und Eva-Maria Schnurr (Hg.) in vielen kurzen Beiträgen nach. Klar ist, dass die Umstände der Katastrophe apokalyptisch waren: Bimssteinregen, der die Gassen überflutete und Dächer zum Einsturz brachte; heiße Aschewolken; eine Glutlawine. Die Stadt, die davon betroffen war, platzte förmlich aus allen Nähten. Die sozialen Verhältnisse waren von dramatischen Unterschieden geprägt, Superreiche hier, prekäre Massen dort. Die Vielfalt der Lebensumstände, die Fremdheit von Alltagsdingen wie Thermen, öffentlichen Bedürfnisanstalten, Betrug beim Zocken, Krawallen, Heilkunst, Saufkunst, Kochkunst spiegelt sich in der Vielfalt der Beiträge dieses sehr informativen und leicht zugänglichen Buches. Besonders gefallen hat mir, wie die Aussagekraft archäologischer Funde kritisch unter die Lupe genommen wird.

*Rezensionsexemplar

Blog-Gestöber

Manchmal komme ich mir vor wie in einem Irrenhaus. Es geht dabei keineswegs nur um Trump & Co., nein, es reicht ein Blick zur Sueddeutschen Zeitung, wo Heribert Prantl nach mehr als drei Jahren vollumfänglicher Invasion und Vernichtungskrieg noch immer Täter-Opfer-Umkehr betreibt und fern der Wirklichkeit von einer Feindschaft gegenüber Russland schwadroniert. Die hartnäckige Verweigerung der Realitäten reicht weit hinein die deutsche Gesellschaft, was in der Ukraine, dem angegriffenen, zerstörten, erpressten, halbherzig unterstützte, aber immer noch tapfer verteidigenden Land mit Kopfschütteln quittiert wird. Auf den Punkt bringt es zuverlässig Christoph Brumme mit seinen Beiträgen auf seinem Blog Honigdachs.

Blogmonat Februar 2025

Großartige Bücher darf ich für meinen Lesemonat Februar vorstellen, darunter die vorzügliche Biographie über Klaus Mann und der großartige Roman mit dem merkwürdigen Titel. Endlich habe ich Alice im Wunderland gelesen. Uhrwerke ist eine Augenweide. Die beiden Thriller mit Asien-Themen sind sehr gelungen und Precipice ist ein ungewöhnliches Buch von Harris.

Angesichts des rasanten, tiefgreifenden Wandels, den die Welt durchläuft, fällt es mir ein wenig schwer, an dieser Stelle den gewöhnlichen Blogbeitrag zu schreiben. Wozu auch? Habe ich etwas zu sagen, das nicht irgendwo anders gesagt ist? Der Chor an Meinungen ist dank der schönfärberisch Soziale Medien genannten Quassel- und Trollplattformen zu einer überbordenden Kakophonie angeschwollen. Schweigen, Zuhören, Nachdenken und Handeln erscheinen mir nicht als bessere Alternativen.

Besonders schwer fällt mir das Vorstellen von Büchern, die mehr oder weniger direkt etwas mit der dramatischen Dynamik der Veränderung zu tun haben. Natürlich möchte ich niemandem verwehren, auch zu besonderen Terminen wie dem Jahrestag der Befreiung von Ausschwitz oder dem zum Beginn der vollumfänglichen Invasion Russlands in der Ukraine die passende Lektüre vorzustellen. Auch die Bundestagswahl oder der orangefarbene Elefant im Porzellanladen der internationalen Politik sind Anlass, auf hilfreiche Bücher hinzuweisen.

Aber bewirkt das etwas? Ich habe mich schon oft bei der Lektüre von Büchern gefragt, für wen sie eigentlich geschrieben wurden, wen sie erreichen wollen – etwa bei Wozu Rassismus? des von mir sehr geschätzten Aladin El-Mafaalani. Nur jene, die mit der dort vertretenen Weltsicht etwas anfangen können, kaufen oder leihen solche Bücher; niemand, der eine ganz andere Haltung vertritt, kann auf diese Weise überzeugt, ja auch nur erreicht werden.

Auch bei Büchern gibt es das Problem der Echo-Kammer, wenn auch weniger ausgeprägt als in den Schwatz- und Pöbelplattformen. Bücher sind in der Lage, komplexe, widersprüchliche, ungeklärte und somit offene Sachverhalte in ihrer Vielschichtigkeit darzustellen. Kein Posting kann das. Insofern können auch jene, die grundsätzlich eine große Schnittmenge mit der Weltsicht eines Autors haben, von dem Buch erheblich profitieren. Lesen lohnt sich in diesem Sinne – doch das alles ändert nichts.

Natürlich ist die Verlockung des Autoritären auch in der CDU, FDP, BSW und Die Linke in der von Anne Applebaum beschriebenen Weise anziehend und die Warnungen von Timothy Snyder in seinem Buch Über Freiheit lassen die Alarmglocken schrillen. (Ausgerechnet im 250. Jahr des Beginns des Unabhängigkeitskrieges fällt die US-Demokratie in sich zusammen – was für eine Ironie des Schicksals!)

Doch wer schert sich um die Inhalte solcher Bücher? Die Verantwortlichen in den genannten Parteien streben Macht an, sie wollen diese gewinnen und erhalten. Sie wissen genau, was sie tun und wie sie das in einem dichten, medialen Nebel verschwinden lassen können. Wer durch die Sozialen Medien streift und dort jemandem außerhalb der eigenen »Weltsicht-Blase« begegnet, steht vor einem tiefen, unüberwindbaren Graben stehen, der jede Form der Kommunikation unmöglich macht.

Bücher können diesen nicht überwinden. Das gilt auch für Blogbeiträge. Das ist selbstverständlich kein Grund, auf die Lektüre von Buch und Blog zu verzichten, nur sollte man etwas zurückhaltend sein, wenn es um Attribute wie »wichtig« geht.

Kurzvorstellung der Februar – Bücher

Eine Empfehlung bei Instagram hat mich auf diesen Thriller aufmerksam gemacht. Die Übermacht von Stefan Grebe ist rasant erzählt und beschäftigt sich mit China. Anders als Russland wird uns das zur Weltmacht strebende asiatische Land in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch mehr beschäftigen, als vielen Zeitgenossen vielleicht bewusst ist. Das Buch mag zwar fiktional sein, die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fundamente für die Handlung sind solide gegossen und geben der Handlung die nötige Authentizität. Deutschland und Europa befindet sich in Bezug auf China politisch auf dem Holzweg, eine Diagnose von Experten, die nach der Lektüre dieses Thrillers mit viel Gehalt gefüllt ist.  Mir haben die Hauptfiguren ausnehmend gut gefallen, die atemberaubende Dynamik der vor allem in Deutschland und China spielenden Handlung macht das Buch zum sprichwörtlichen Page-Turner. Manche Dinge möchte man gar nicht wahrhaben, was ein großes Lob darstellt. Für Freunde von Polit-Thrillern eine klare Empfehlung.

Dem Leben Klaus Manns haftete etwas Atemloses und Getriebenes an. Lange vor seiner Emigration im Jahr 1933 war er faktisch ohne festen Wohnsitz, er lebte in Hotels und Pensionen, war eigentlich immer unterwegs. Aber vor seinem Exil hatte er immer die Möglichkeit, zuhause unterzukommen. Der erzwungene Fortgang aus Deutschland entwurzelte also auch den Nomaden und verschärfte die vielfältigen Krisen: Drogen und Todessehnsucht. Was in der Weimarer Zeit noch rauschhaftes Spiel gewesen war, wurde zu einem Teufelskreis. Rauschaft war auch das Schreiben, die Romane waren rasend schnell geschrieben, neben zwei autobiographischen Schriften kamen ungezählte publizistische Beiträge, Briefe und das Tagebuch hinzu. Ein Leben als Symbol einer aus den Fugen geratenen Zeit, wie Thomas Medicus in seiner vorzüglichen Biographie Klaus Mann. Ein Leben meint.

Wahrscheinlich war es der kuriose Titel des Buches, der mich auf den Thriller aufmerksam gemacht hat: Der grillende Killer. Das weckt neben Irritationen auch eher unangenehme Assoziationen, doch die Tötungen werden in herkömmlicher Scharfschützen-Manier per Gewehr vollzogen. Der Leser wird mitten in die Handlung hineingestoßen und muss sich in der von Chang Kuo-Li erschaffenen Welt erst einmal orientieren. Asiatische Namen erschweren das, verschiedene Handlungsstränge, die zunächst unverbunden nebeneinander herlaufen, auch. Das habe ich als sehr spannend empfunden, wie sich aus dem Wirrwarr Stück für Stück ein Bild herausschält, während eine Figur quer durch Europa vor dem fast sicheren Tod flieht. Kuo-Li stammt aus Taiwan, was dem Ganzen eine zusätzliche, geopolitische Komponente gibt. Auch durch den krautigen Humor ein schönes Lesevergnügen. 

Was für ein merkwürdiger Titel. Wohin rollst du, Äpfelchen … Im Begleittext zum Roman von Leo Perutz heißt es, Ende der 1920er Jahre wären diese Worte zu einem „Schlagwort“ für Ungewissheit und Zukunftsangst geworden. Der Roman beginnt im Ersten Weltkrieg, der österreichische Soldat Georg Vittorin wird in russischer Kriegsgefangenschaft gedemütigt. Ein Stachel in seinem Fleisch, der ihn so furchtbar plagt, dass er den Lagerkommandanten Seljukow töten will. Vittorins Rachefeldzug führt in mitten hinein in das tobende Bürgerkriegschaos im Russischen Reich nach Kriegsende, aus dem der Sowjetkommunismus sein blutiges Haupt erhebt. Eine rasante, dramatische Erzählung über eine verbissene Jagd in einer aus den Fugen geratenen Welt, die Vittorin durch halb Europa führt.

So oft schon sind mir Zitate aus Alice im Wunderland von Lewis Carroll begegnet. Sie gehen Romanen voran oder werden in die Handlung eingestreut. Aus meiner Kindheit kenne ich eine der zahllosen Verfilmungen – allerdings ist meine Erinnerung daran schwach. Also war es allerhöchste Zeit, mich mit dem Buch auseinanderzusetzen. Was für ein herrlicher Unsinn! Mich hat das Geschehen in gewisser Hinsicht überrollt. Anarchischer Klamauk mit vielen Wortspielen und ins Groteske verzerrter Logik-Akrobatik. Eine Katze ohne Grinsen habe sie schon oft gesehen, aber ein Grinsen ohne Katze … Das Buch ist von 1862, der Zeit von Theodor Storm und Fontane, Wilhelm Raabe – und davon Lichtjahre entfernt. Die vielen Anspielungen muss man entschlüsseln oder aber sich einfach durch dieses wilde Durcheinander treiben lassen.

Ein kleiner Schatz ist mir in Form des wunderschön gestalteten Buches Uhrwerke* von Rebecca Struthers. Die Autorin ist selbst Uhrmacherin und weiß nicht nur, wovon sie spricht, sondern hat ihr Metier geschickt mit den Zeitläuften verwoben. Seien es religiöse Entwicklungen, wie den Puritanismus, seien es wirtschaftliche in Gestalt des monströsen Frühkapitalismus oder auch heroische wie die vielfältigen Entdeckungsreisen und Abenteuerunternehmungen – die Zeitmessung nahm immer einen wesentlichen Anteil darin ein. Das Buch lässt den Leser also in die kleinen Wunderwerke hineinschauen und zugleich erahnen, wie groß der Einfluss auf den großen Lauf der Dinge war. Nebenbei gibt es noch eine Warnung mit auf den Weg: Das Schicksal der Uhrmacherei auf den britischen Inseln ist ein Menetekel – etwa für die deutsche Autoindustrie.

Einen Thriller würde ich Precipice von Robert Harris nicht nennen. Die Spannung rührt aus anderen Quellen. Der Roman schildert das Liebesverhältnis des britischen Premierministers H. H. Asquith mit der halb so alten Venetia Stanley, während der dramatischen Monate um den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Zwar gibt es einen Ermittler mit zwielichtigen Aufträgen, der auf der Spur von Geheimnisverrat ist und ab einem gewissen Zeitpunkt den (zur Hälfte authentischen) Briefwechsel der beiden verfolgt, doch steht die problematische Liebesbeziehung und ihre Auswirkungen auf den entscheidenden Politiker in dieser dramatischen Lage im Mittelpunkt. Harris lässt England unter Asquiths Führung in den Krieg und durch die ersten Monate schlafwandeln bis zum Desaster der Dardanellen-Operation. Neben diesem »Abgrund« setzt das Alter Asquith zu; Venetia scheint mehr ein Rettungsanker zu sein, das absehbare Ende der Affäre lenkt den Premier in der dramatischen Lage auf erschreckende Weise ab. Allein wegen der wunderbar in die fiktionale Handlung eingeflochtenen Briefe ein lesenswerter Roman.

Blog-Gestöber

Jüngst habe ich die ganz vorzügliche Biographie Klaus Mann von Thomas Medicus gelesen. Die Machtübertragung an Adolf Hitler Anfang 1933 hat auch aus dem Vagabunden ohne festen Wohnsitz einen Flüchtling gemacht, an der Entwurzelung trug er – wie alle anderen – schwer. Der Querido-Verlag bot den deutschsprachigen Exilanten die Möglichkeit, ihr Werke in ihrer Muttersprache zu drucken. Immerhin gab es außerhalb des Hitlerreiches für einige Jahre noch eine deutschsprachige Leserschaft. Zu dem Thema gibt es einen interessanten Beitrag bei Bücherliebhaberin: »Hölle und Paradies – Nationalbibliothek in Leipzig zeigt deutsche Exilliteratur des Querido Verlags«.

Irre ich mich vielleicht und helfen Bücher doch? Gibt es Bücher, die tatsächlich wichtig sind? Die Vielfalt der Blogger-Welt macht es möglich, verschiedene Antworten auf die gleiche Frage zu erhalten. Auf der Seite von Kaffeehaussitzer gibt es zwei Beiträge, die ich daher gern empfehlen möchte. Einmal die Buchvorstellung von Jens Biskys Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934, das ich auch auf meiner Lese-Liste habe – mit gutem Grund. Zum anderen aber hat Uwe Kalkowski dieses Buch mit einem Begleitschreiben an Friedrich Merz geschickt. Dem Lesen und Nachdenken folgt das Handeln – allein deshalb verdient diese Initiative Aufmerksamkeit.

Russlands Krieg in der Ukraine geht weiter, Deutschland unterstützt das angegriffene Land mit einem eher kümmerlichen Betrag, wie das Zitat von Christoph Brumme zeigt.

Die Deutschen haben im letzten halben Jahr ihre Militärhilfe für die Ukraine gesteigert – von monatlich vier Euro pro Kopf der Bevölkerung (mit deutscher Staatsbürgerschaft) auf jetzt vier Euro und fünfunddreißig Cent. Während man bei vier Euro noch sagen konnte, jeder Deutsche habe den Ukrainern monatlich den Gegenwert einer Tasse Cappuccino in einem Straßencafé spendiert, muss man heute der Fairness halber sagen, inzwischen geben sie noch einen Schokoladenkeks dazu.

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Blogmonat Januar 2025

Tolle Bücher darf ich diesmal vorstellen, drei Romane und vier Sachbücher. Wie immer wird es historisch-politisch, etwa mit Robert Habecks programmatischer Schrift Den Bach rauf. Kurioserweise passt Freiheitsschock frappierend in die aktuelle Umsturz-Zeit. Die Romane haben diesmal den Fokus auf Krimi/Thriller, allerdings mit inhaltlichem Mehr-Wert.

Gehen oder bleiben? Seit ein paar Monaten denke ich immer wieder darüber nach, wie ich mich in den Sozialen Medien »aufstellen« soll. Ganz ohne geht es nicht (mehr), als Schriftsteller und Blogger muss ich hier und da mit dem digitalen Zaunpfahl winken. Aber wie und wo?

Ich vermisse Twitter. Keine andere Plattform ist bislang an den Zwitscher-Dienst herangekommen. Das ist keine Reminiszenz im gegenwärtig so beliebten Spiel, sich etwas zurückzuwünschen, das es nicht gegeben hat. Aber in puncto Reichweite, Bedienbarkeit, Komfort und Vielfalt ist Twitter bislang für mich unerreicht.

Zombie-Twitter nutze ich nur noch einige Zeit passiv, bald werde ich dort mein Konto löschen. Da Mark Zuckerberg den Kotau gekonnt vollzogen hat, stehen auch seine Plattformen zur Disposition. Facebook habe ich bereits gekündigt, Threads nervt und ist vor allem ein Schwarzes Brett für meine Blog-Beiträge.

Bei Instagram sieht die Sache anders aus. Hier bemerke ich eine dramatische Einschränkung der Reichweite beider Accounts und eine  Übersättigung der Nutzer. Mein Eindruck: Es wird geklickt und kaum noch gelesen. Das gilt auch für den Buchblog-Auftritt, doch dort kommt es gelegentlich noch zu Interaktionen. Davon würde ich mich ungern trennen, allerdings möchte ich auf gar keinen Fall mehr Zeit investieren als aktuell. Algorithmus hin, Reichweite her. Man arbeitet immer für Meta mit seinem Kotau-Chef.

Als Werbeplattform für meine Romane erscheint mir Instagram wertlos. Ich kann mir nicht vorstellen, dass auf Instagram mehr als eine Handvoll Leser (von mehreren tausend) auf Piratenbrüder aufmerksam geworden ist. Aber auch sonst ist das Interesse verschwindend gering. In erster Konsequenz habe ich meine Aktivitäten zurückgefahren. Wozu der Aufwand?

Die zweite Konsequenz ist, dass ich auf meinem Blog öfter kürzere Beiträge poste. Etwa zu neuer Lektüre oder Lesevorhaben (12für2025 und 4rereads2025), bald auch über meine Schreibaktivitäten, möglicherweise auch einmal etwas Politisches. Vielleicht schaffe ich es irgendwann, einen Newsletter einzurichten. Einstweilen bleibe ich auf BlueSky und Mastodon aktiv. Beide Plattformen haben ihre Tücken und ihren Charme.

Kurzvorstellung der Januar-Bücher

Es ist Wahlkampf in Deutschland. Grund genug, das Buch von Robert Habeck zu lesen. Der Titel Den Bach rauf gibt die Marschroute vor, der Kanzlerkandidat von Bündnis 90/Die Grünen will sich nicht auf das elende Hauen und Stechen einlassen, mit dem die politischen Konkurrenten ihre Kampagnen um die Wählergunst befeuern. Es geht um eine Standortbestimmung und einige daraus folgende Rückschlüsse. Einer davon ist die in der öffentlichen Diskussion faktisch ignorierte Rückständigkeit Deutschlands durch das Verschlafen der digitalen Revolution. Das droht bei der nächsten Welle wieder, was hierzulande durch aberwitzige Diskussionen um Verbrenner und Migration unterzugehen droht. Habeck widmet sich diesem Thema wie vielen anderen, was das Buch zu einer wertvollen Lektüre macht.

Leonardo Padura schickt in seinem Roman Die Durchlässigkeit der Zeit Mario Conde wieder einmal auf eine verworrene und gefährliche Spurensuche. Anlass für den Ex-Polizisten, die Ermittlungen aufzunehmen, ist ein lukrativer Auftrag: Eine Schwarze Madonna ist verschwunden und soll aufgespürt werden. Condes Weg führt ihn in die Abgründe der cubanischen Realität der 2010er Jahre, in der Binnenmigranten unter erbärmlichsten Verhältnissen in Slums vegetieren. Gleichzeitig kehren immer mehr Menschen der Insel den Rücken, auch aus Condes Umfeld, während findige Geschäftemacher versuchen, kleinste Spielräume zu nutzen, um sich hemmungslos zu bereichern. Großartig! 

Ein blutiger Prolog, ein isolierter Polizist in Schwierigkeiten (Alkohol, interne Ermittlungen),  eine Versetzung, Zufallsbekanntschaften, Startschwierigkeiten am unbekannten Einsatz-Ort – soweit, so vertraut. Der Thriller Eisrausch von Roland Müller spaziert in die Handlung hinein, doch wird die Hauptfigur, Ermittler John Kaunak nach Grönland geschickt. Die eisgepanzerte Insel und seine Bewohner sind die heimlichen Stars des Buches. Die Handlung wird durch politischen Motive (chinesische Investitionen, Erderhitzung, Seltene Erden, Indigene), angereichert, die entscheidend dazu beitragen, die Ermittlungen zu einem verwickelten und wendungsreichen Unterfangen zu machen. Die Spannung bleibt bis zum Ende hoch.

Die Franken. Wer? Karl der Große! Der Kaiser, nach dem der Karlspreis verliehen wird. Charlemagne – so steht es in der Wirtschaftszeitschrift The Economist, wenn es um Europa, insbesondere Frankreich und Deutschland geht. Der Schatten, den „die Franken“ geworfen haben, reicht weit. Wer Bernhard Jussens vortreffliches Buch Die Franken liest, bekommt einiges um die Ohren gehauen. „Weg mit den Völkerwanderungskarten!“, heißt es an einer Stelle. Jussen räumt mit eisernem Besen mit überkommenen Gewissheiten auf, die oft nur mehr oder weniger phantasievollen Gedankenflügen und rückwärtsprojiziertem Wunschdenken entsprungen sind. Unbedingt lesen! Danach das herausfordernde Buch Das Geschenk des Orest zur Hand nehmen und sich eine ganz neue Geschichte erzählen lassen.

Aus der Welt der Wikinger schlägt uns dröhnende Stille entgegen. Schriftliche Überlieferungen der Zeitgenossen gibt es nicht, von einigen wortkargen Runensteinen abgesehen. Einige Reisende und Opfer von Wikingern haben sich geäußert, bei ihnen stehen Frauen nicht im Fokus, wie auch nicht in den Jahrhunderte später entstandenen Sagas. Die Archäologie schweigt zu wesentlichen Aspekten und ist schwierig auszulegen. Mit ihrem Buch Walküren* geht Johanna Katrin Fridriksdóttir also ein Wagnis ein, was sich in vielen vorsichtigen Formulierungen niederschlägt, wenn es darum geht, die Handlungsspielräume der Frauen dieser Zeit auszuloten. Keine leichte Lektüre, dafür seriös und in vielerlei Hinsicht bereichernd.

Im siebten Teil der Buchreihe um die Navajo-Police geht es um Grabräuberei. Dieb der Zeit ist eine Umschreibung für einen Kriminellen, der Grabschätze stiehl und zu Geld macht. Wie immer, wenn es um illegale Geschäfte geht, gibt es Gewalt und auch Tote. Joe Leaphorn und Jim Chee nähern sich dem Fall von verschiedenen Seiten an, Tony Hillerman hat seine Erzählung auf originelle Weile mit den jeweils schwierigen Lebenslagen der beiden Polizisten verwoben. Der Fall ist komplex und verwickelt, Leaphorn und Chee geraten mit der Schattenseite der seriösen Archäologie und Anthropologie ins Gehege. Am Ende steht – die Vorfreude auf den nächsten Band.

Während der Lektüre von Freiheitsschock: Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute war ich oft entsetzt, wütend und überrascht. Ich bin Zeitzeuge, wenngleich ich in der Nacht des Mauerfalls auf dem Weg nach Berlin havarierte. Als passionierter Zeitungsleser glaubte ich, über die Vorgänge recht gut informiert zu sein. Irrtum. Nicht der erste und leider auch nicht der letzte, wie mir ab 2014 schmerzlich bewusst wurde. Ein pointiert formuliertes Erklärbuch, angreichert mit persönlichen Facetten aus dem Leben von Autor Ilko-Sascha Kowalczuk, hat mich mit zahlreichen Fehleinschätzungen (erneut) konfrontiert. Toll ist, dass sich das Freiheitsverständnis Kowalczuks mit dem Timothy Snyders überschneidet, schön, Gedanken von Anne-Applebaum bestätigt zu finden. Doch geht Freiheitsschock darüber weit hinaus, allein wegen des Fokus auf Ostdeutschland.

Blog-Gestöber

Die kostbarste aller endlichen Ressourcen im Leben des Menschen ist die Lebenszeit. Sie ist begrenzt. Daraus ergibt sich zwingend die Frage, was man mit seiner gegebenen Zeit anzufangen gedenkt (sagt ja auch Gandalf im Fantasy-Roman The Lord of the Rings). Womit wir beim Thema wären.

Wer jetzt denkt, Fantasy – Uhhh!, sollte seine begrenzte Lebenszeit nicht mit der Lektüre von Romanen aus dem Genre und seinen Subgenres verschwenden. Jeder hat seine ganz speziellen Abneigungen, die vor Zeit-Verschwendung bewahren. In meinem Fall etwa Mystery, Horror und Liebes-Gedöns in jeglicher Ausgestaltung.

Soweit, so einfach. Man lässt einfach die Finger von dem, was man sicher nicht mag – es gibt so viele Bücher in Genres, die dem individuellen Leser zusagen. Was aber, wenn einem ein Buch in die Finger gerät, das trotzdem nicht passen will?  Abbrechen oder bis zum Ende lesen?

Der Frage geht ein Beitrag auf Horatio-Bücher unter dem reichlich spoilernden Titel  Abbruch der Lektüre – „Unsere Zeit auf Erden ist begrenzt“. Das Besondere ist, dass ein Buch betroffen ist, bei dem im Grunde genommen alles passte und eben doch nicht.

Monat für Monat pilgere ich zum Blog Honigdachs von Christoph Brumme. Der deutsche Schriftsteller lebt in der Ukraine und ist dort als Freiwilliger bei der Abwehr des russländischen Angriffskrieges tätig. Wer Innenansichten sucht, wird dort fündig. Denn auch an einem Stillen Morgen gibt es sehr Interessantes – etwa über die Energiegewinnung in der Ukraine.

Blogmonat Dezember 2024

Von den sieben im Dezember 2024 ausgelesenen Büchern haben mir vor allem Rath und Im täglichen Krieg gefallen, die fünf anderen sind samt und sonders lesenswert, wie man den Kurzbesprechungen entnehmen kann. In meinen persönlichen Leseolymp des Jahres hat es aus diesem Monat aber kein Buch geschafft.

Im Dezember ist der Zeitpunkt gekommen, ein Resümee über das ablaufende Jahr zu ziehen. Wieder habe ich meine Lektüre durchgesehen und zehn Bücher ausgewählt, die mir am besten gefallen haben. Diese Auswahl ist nicht nur sehr subjektiv, sie unterstellt eine Klarheit, die gar nicht besteht. Ich hätte ohne Schwierigkeiten auch andere Bücher auswählen können, die es durchaus verdient hätten, in den Leseolymp aufgenommen zu werden.

Auf Instagram habe ich an einer Challenge unter dem Hashtag 12für2024 teilgenommen, mir bezüglich der Regeln einige kleine Freiheiten erlaubt. Statt nur bereits gekaufte Bücher habe ich auch einige Neuerscheinungen aus den Vorschauen aufgenommen. Elf der zwölf ausgesuchten Titel habe ich tatsächlich gelesen, einer ist durchgefallen, weil ich das Buch erst Weihnachten 2024 erhalten habe. Zu spät für die Lektüre der Biographie von Thomas Medicus über Klaus Mann.

Ich freue mich auf jeden einzelnen Band. Los geht es – vermutlich – mit der Biographie zu Klaus Mann.

Für das kommende Jahr habe ich zwölf neue Bücher (12für2025) ausgewählt, darunter auch das Buch von Thomas Medicus. Diesmal habe ich mich auf jene beschränkt, die bereits in den Regalen darauf lauern, endlich herausgenommen und gelesen zu werden. Die Auswahl ist recht bunt, einige der Sachbücher lese ich mit doppeltem Interesse, denn sie dienen auch als Recherche für meine laufenden und kommenden Schreibprojekte.

Wie es mit meiner Schriftstellerei aussieht und im abgelaufenen Jahr aussah, habe ich in einem längeren Beitrag unter dem Titel Auferstehung – Schreibjahr 2024 dargestellt. Wild bewegt war 2024. In einem Satz zusammengefasst: aus der Asche zum Größenwahn und ein Stück zurück.

Verlässlich war nur, dass absolut gar nichts verlässlich ist.

Kurzbesprechung der Dezember-Bücher

Ein Buch über den Kriegsalltag als Mittel gegen das Gefühl von Ohnmacht und Überforderung angesichts eines Krieges? Andrej Kurkow lüftet den Nebel des Krieges und schildert in Im täglichen Krieg das Leben in der vom Krieg überzogenen Ukraine. Wie schon in Tagebuch einer Invasion ist der unaufgeregte, erzählende Stil des Autors der heimliche Star des Buches. Kurkow bleibt sich auch im Krieg selbst treu, er betreibt keine Propaganda, widmet sich auch schwierigen Themen. Wenn es etwa um Verrat und Kollaboration geht verknüpft er das mit Bienen. Diese zum Teil recht wagemutigen Brückenschläge erleichtern es dem Leser, an- und aufzunehmen, was der Krieg mit Menschen und Land anstellt. Es ist keine Verharmlosung des Terrorkriegs Russlands, das Gefühl von Ohnmacht und Überforderung verschwindet auch nicht. Wie könnte es! Aber sie werden auf ein Maß zurückgedrängt, auf dem sie nicht blockieren, sondern das Reflektieren aktivieren. Unbedingt lesen.

Recherchelektüre ist immer mit Überraschungen verbunden. Die Briefe, die Andrea van Dülmen in Frauenleben im 18. Jahrhundert gesammelt hat, bieten einen sehr spannenden, vielfältigen, weil vielstimmigen Zugang zu dem, was Frauen im Zeitalter der Aufklärung zu erdulden hatten. Einige Vor-Urteile werden tatsächlich bestätigt, ja noch übertroffen. Die Herablassung, mit der Männer über Frauen geschrieben und geurteilt haben, sind schauerlich. Die Begründung einer schlechteren Schulausbildung mit irgendwelchen zusammengesponnenen natürlichen Veranlagungen ist hanebüchen. Ausnahmen (»gelehrte Weiber«) gab es, aber die bestätigten wohl eher die Regel. Besonders gut haben mir einige Schreiben gefallen, die komplett aus meinem Erwartungsrahmen gefallen sind. Eine empfehlenswerte Sammlung.

David Grann hat mit seinem Buch Der Untergang der Wager wegen der dramatischen Begebenheiten einige Aufmerksamkeit erregt. Da die Ereignisse nur weniger Jahre nach der Handlung meiner Buchreihe um die Piratenbrüder spielt, hatte ich noch eine weitere Motivation, mich mit dem Schicksal der Wager zu beschäftigen. Der Leser wird in die Abgründe der Seefahrt Mitte des 18. Jahrhunderts eingeführt, Grann schildert schonungslos die grausligen Zustände an Bord eines Segler und führt den Leser in die Details der Seefahrt dieser Zeit ein. Die brutalen Verhältnisse stehen in krassem Gegensatz zu Jack Sparrow und dem Fluch der Karibik. Daraus rührt ein Teil der Spannung, denn für einen Leser des 21. Jahrhunderts ist es beinahe unvorstellbar, dass es überhaupt jemand geschafft hat, dieses Desaster zu überleben.

Gedichte pflegen ein Nischendasein im Literaturbereich. Auch in meinem Buchregal finden sich nicht allzu viele Lyrik-Bände, Trakl, Celan, Kästner, Baudelaire. Das war es auch schon. In der Stadtbibliothek (einem gefährlichen Ort für Menschen mit zu vielen ungelesenen Büchern) bin ich über den Sammelband Hundert Gedichte des Jahrhunderts gestolpert. Die Auswahl der von Marcel-Reich-Ranicki Lyrik wird ergänzt durch kurze Beiträge zu dem jeweiligen Gedicht. Das ist weit entfernt von betreutem Gedichte-Lesen, denn die Autoren sind selbst Literaten und pflegen einen sehr eigenen Zugang zum jeweiligen Poem. Der Leser bekommt also gleich beides: eine schöne Auswahl von Gedichten und einen bunten Strauß an Gedanken dazu. Sehr anregend. Ach, ja: Trakls Grodek. Eine niedergehende Lawine.

Seit rund einhundert Jahren ist unsere Welt unscharf. Was das heißt, werde ich hier nicht erklären, das könnte ich auch nicht. Andere hingegen schon. Etwa Tobias Hürter in seinem Buch Das Zeitalter der Unschärfe, das sich der umstürzenden Veränderung unseres Weltbildes zu Beginn des 20. Jahrhunderts annimmt. Es ist eine atemlose Jagd durch die Untiefen komplexer und sehr abstrakter Ideen, die aber essentiell sind für unsere Gegenwart. Gelegentlich findet sich das damals gewonnene Wissen auch in Romanen wieder, etwa in Der Schlachtenmaler von Arturo Perez-Reverte. Hürter spart auch die parallel exponentiell wachsende Dummheit nicht aus, die in Vernichtungskrieg und Zivilisationsbruch münden. Beide Linien sind nicht zu trennen, die Verstrickung der Physiker darin auch nicht.

„Woke“ gehört zu den Worten, die bei mir reflexartiges Augenrollen auslösen. Nicht etwa im Sinne rechtsreaktionärer Naseweise, sondern weil es einen ähnlichen Charakter hat wie „klassenbewusst“ oder „gerecht“ oder „christlich“. Für derart hehre Konzepte ist der Mensch zu klein. Nach dem 7. Oktober 2023 hat das schmerzlich bestätigt, als Menschen, die sich als „woke“ bezeichneten, den brutalen, enthemmten Terror in ihr „post-koloniales“ Weltbild hineinzwangen und im Blutsumpf des Antisemitismus versanken. Jens Balzer unternimmt den Versuch, diesen „moralischen Bankrott“ nachzuzeichnen, einzuordnen und einen Ansatz vorzuschlagen, wie man After Woke einen Neuanfang machen könnte. Sehr erhellend, für einen misanthropischen Leser wie mich aber auch ein Beleg, dass die großen Ismen immer in einer Art Gulag enden.

Der literarische Schlussstein Rath in der Buchreihe um den Kriminalkommissar Gereon Rath ist großartig. Schon der Prolog zeigt, in welche Richtung die Handlung geht; wir befinden uns im Herbst 1938, der Zivilisationsbruch der Nazis wird spätestens in der Reichspogromnacht am 9. November Realität. Wie schon in Transatlantik ist die eigentliche Reihen-Hauptfigur zu einer Nebenrolle verdonnert – er ist ja tot. Charly übernimmt, deren Ausgestaltung ich aber nicht ganz stimmig finde. Einerseits zu wenig berührt von dem, was andere zerbricht, andererseits zu stark in den Handlungsmustern gefangen, passt sie nicht recht in die ihr zugedachte Rolle. Doch das ist angesichts der Qualitäten des Romans eine Petitesse. Hochspannend und mit einem grandiosen Ende – ein gelungener Abschluss der Buchreihe. Chapeau!

Bloggestöber

Eine sehr interessante Seite ist die Topliste der deutschen Buchblogger auf dem Blog Lesestunden. Dort sind beim Schreiben dieser Zeilen 710 Blogs aufgeführt. Als Blogger kann man natürlich erst einmal schauen, wo das eigene Schätzchen gerade steht und wie sich das Ranking verändert hat. Wie es zur Platzierung kommt, wird auch erklärt – der Wert ermittelt sich aus dem Pagerank des Blogs und der Anzahl der Links, die zum Blog führen.

Es gibt noch ein paar Beiträge über die Sphäre der Buchblogger, etwa über die geographische Verteilung, die bevorzugten Genres, die Vernetzung und wer worüber schreibt. Diese Analyse der Buchblogosphäre ist sehr interessant, ein Besuch lohnt sich. Wer wissen möchte, wie sich das Buch-Bloggen entwickelt hat, wird im Artikel Die Entwicklung des deutschen Buchmarkts und wieso er vor massiven Herausforderungen steht fündig. Dort heißt es:

[…] dann gab es im Jahr 2020 in der Spitze fast 1400 Blogs. Im Jahr 2022 waren es zumindest noch knapp 1000 Blogs. Jetzt, im Jahr 2024, sind wir bei knapp 750 Buchblogs. Seit ihrem Höhepunkt hat sich also die Anzahl deutschsprachiger Buchblogs halbiert.

Lesestunden, 07. August 2024

Die Abwärtstendenz setzt sich also fort, ein paar Monate nach dem Erscheinen des Blog-Beitrages haben offenkundig wieder einige Blogs die Segel gestrichen. Interessant und lesenswert ist auch die Diskussion unter dem Beitrag.

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