Im Erzählwerk des Autors und jenen drei Beiträgen dieses Bändchens spielt der Nebel eine wichtige Rolle. Cover Sonderzahl, Bild mit Canva erstellt.

Züge erzählen Geschichten

Jaroslaw Rudiš: Durch den Nebel

Es sind Sätze, wie dieser, die den schmalen Band Durch den Nebel von Jaroslav Rudiš so lesenswert machen. Für Zeitgenossen einer heruntergewirtschafteten, kaputtgesparten Deutschen Bahn, die vielleicht noch mehr als der Berliner Flughafen BER eine nie versiegende Quelle von Hohn, Spott und Verärgerung darstellt, sind solche Sätze im ersten Moment ein wenig befremdlich.

Autor Rudiš ist Eisenbahn-Reisender aus Passion, der niemals Zeitverlust oder gar Zeitverschwendung empfindet, auch wenn der Anschlusszug verpasst wird. Im Zug, im Bahnhofsrestaurant verstreicht für ihn die Zeit gewinnbringend, denn nicht nur Züge erzählen Geschichten, sondern auch die Menschen in, um und bei Zügen. Sie sind für den Autor Quelle der Inspiration.

Der erste der drei Teile von Durch den Nebel ist denn auch im Perronnord zu St. Gallen verfasst, einem Bahnhofsetablissement mit Blick auf eine schöne Uhr. Dort werden kleine Biere serviert und machen das Verweilen angenehm. Die Gedanken können weit durch Raum und Zeit schweifen, was Rudiš weidlich für einen Streifzug nutzt.

Es für die Lektüre von Durch den Nebel hilfreich, den Roman Winterbergs letzte Reise zu kennen. Wenn Rudis von seiner weitreichenden Affinität zu der Habsburgermonarchie spricht und auf Winterberg, den Protagonisten des Romans verweist, nimmt die Verbundenheit mit dem Kulturraum der einstigen Donaumonarchie im wörtlichen Sinne Gestalt an. Der Vielvölkerstaat nahm die eisenbahnbefahrbare Grenzenlosigkeit Europas im kleineren Maßstab bereits vorweg.

Es ist kein Zufall, dass Winterbergs Begleiter in meinem Roman Kraus heißt. [Karl Kraus wurde in Gitschin / Jičín geboren, in »Wallensteins Stadt«]

Jaroslaw Rudiš: Durch den Nebel

Heute liegt Österreich-Ungarn im Nebel des Vergessen und der Geschichte, laut Rudis ein Nebel, in dem er sich selbst verloren hat. Nebel, Schneetreiben oder niedrig hängende Wolken regen die Phantasie an. Aus diesem Nebel treten bisweilen großartige Ideen hervor, etwa jene, den greisen Winterberg mit einem Baedeker-Reiseführer des Jahres 1913 (!) durch das Mitteleuropa der Gegenwart reisen zu lassen.

Im zweiten Teil wird der Ort Winterberg oder Vimperk noch wichtiger. Dieser Part ist nicht nur formal das Zentrum von Durch den Nebel, sondern auch inhaltlich. Königgrätz. Wallenstein. Jičin / Gitschin (»Wallensteins Stadt«).  Österreich-Ungarn, Böhmen, Sachsen, Preußen. So viel Geschichte! Wie die Hauptfigur von Winterbergs letzte Reise scheint auch Rudiš von Geschichte befallen oder ihr verfallen zu sein.

Geschichte ruht nicht. Wie die Geister der fünfzigtausend bei Königgrätz Gefallenen, der elendig auf dem Schlachtfeld verreckten Soldaten nicht ruhen können, so geistert das Gestern im Heute. Der stille Held des Winterberg-Romans ist jener Baedeker-Reiseführer aus dem Jahr 1913, der dem Autor vor Augen führt, wie erstaunlich viel von der längst vergangenen Zeit noch im Heute enthalten ist.

Aus dem Gemenge ist die geniale Idee entstanden, eine Road-Novel auf Schienen zu schreiben und diese Mobilitäts-Erzählung mit der Vergangenheit zu verwirken, indem die Hauptfigur überwiegend gar nicht im Jetzt, sondern der Gegenwart des uralten Reiseführers existiert. Winterberg zitiert ständig aus dem Buch, er trägt ganze Passagen über die Orte und Städte vor, die von dem ungleichen Buddy-Duo angesteuert werden.

Was man durch die Fenster des Waggons sieht, wird ergänzt durch die Vergangenheit, die eben noch gar nicht so vergangen ist. So wird es denn auch glaubhaft, wenn Winterberg selbst jenen Roman über seine letzte Reise mit einem pathetischen (und für viele völlig unverständlichen Satz) einleitet:

Die Schlacht von Königgrätz geht durch mein Herz.

Jaroslaw Rudiš: Durch den Nebel / Winterbergs letzte Reise

Rudiš erläutert in Durch den Nebel, woher er diesen Satz hat, wie er ihn ein wenig angepasst hat und was er eigentlich ausdrückt. Der Leser erhält einen Einblick in sein Schreiben, aber auch in die Tiefe, die unter kurzen, harmlos-verklausuliert klingenden Sätzen liegen kann.

Kleinod ist so ein schönes Wort. Es bedeutet kleines Schmuckstück, Kostbarkeit oder Juwel. Ursprünglich hieß es einfach kleines Ding, doch können kleine Dinge bekanntlich großen Wert haben. Das gilt für das schmale Bändchen Durch den Nebel von Jaroslaw Rudiš, das auf so typische Weise vom Schreiben des in Berlin lebenden Autors, der aus Tschechien stammt, erzählt.

Jaroslaw Rudiš: Durch den Nebel
Salzburger Stefan Zweig Poetikvorlesungen
Sonderzahl Verlag 2022
Büttenbroschur 108 Seiten
ISBN 978-3-85449-605-2