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Schlagwort: Brexit

Timothy Snyder: Über Freiheit

Gefängnisse in den USA sind Teil der Unfreiheit, so Timothy Snyder in seinem ebenso bereichernden wie herausfordernden Buch, das dem Leser reichlich Anlass zum Nachdenken bietet. Cover C.H. Beck, Bild mit Canva erstellt.

Die Maschinen (d.h. Algorithmen) sperren uns in festere Schubladen: ethnische Herkunft, Geschlecht, Einkommen, Wohnort; sie definieren uns durch unsere wahrscheinlichsten Zustände, durch das, was wir online oder unter Überwachung tun, nicht durch das, was wir auf Berggipfeln oder unter Wasser oder bei lauter Musik oder in unseren Träumen tun.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Es gibt Bücher, an denen führt kein Weg vorbei. Timothy Snyders Über Freiheit gehört für mich dazu. Seit der amerikanische Historiker sein Buch Bloodlands veröffentlicht hat, lasse ich mir gern vom ihm die Welt und seine Sicht darauf erklären. Bloodlands hat meine Perspektive auf Gegenwart und Geschichte derart nachhaltig und tiefgreifend verändert, wie es bei Büchern selten der Fall ist (Ganz normale Männer von Christopher Browning wäre ein anderes Beispiel), dass ich immer sehr gespannt bin, wenn etwas Neues von ihm veröffentlicht wird.

Über Freiheit  wäre ein Buch, das man FDP-Anhängern ganz dringend zur Lektüre empfehlen würde. Deren immer und überall postuliertes »Freiheit« ist hohl wie eine leere Dose, reduziert auf Fingerhutgröße und wird dem Begriff nicht gerecht. Die formelhafte Aushöhlung des Wortes wird in Über Freiheit schön aufgezeigt. Wie umfassend und durchaus vielschichtig »Freiheit« ist, zeigt sich schon auf den ersten Seiten des Buches. Auch wird deutlich, dass Synder es sich und seinen Lesern nicht leicht machen will.

Grundsätzlich ist man gut beraten, bei allem Gedankengut, das aus den USA über den Atlantik herüberschwappt, der Verlockung zu widerstehen, das eins zu ein auf Deutschland und Europa zu übertragen. Ein herrliches Beispiel ist die These, es gebe keinen Rassismus gegen Weiße. Selbst in den USA darf das bezweifelt werden, in Europa ist es schlichtweg falsch und zwar auf allen Bedeutungsebenen. Man braucht dazu nicht einmal den berüchtigten »Generalplan Ost« zu exhumieren, es reicht ein Blick auf das, was über die Ukraine und ihre Bewohner gesagt wird. Aus Russland, aber auch aus dem Westen, kommt eine Menge Rassismus, offenem und verdecktem.

Freiheit kann nicht gegeben werden. Sie ist kein Erbe. […] In dem Moment, in dem wir glauben, das Freiheit gegeben ist, ist sie weg.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Diese Vorsicht ist auch für Über Freiheit von Timothy Snyder angebracht. Wenn dort beispielsweise etwas über das wirtschaftliche und soziale System gesagt wird, meint es vor allem das der USA, nicht aber das der Europäischen Union und erst recht nicht das einzelner europäischer Staaten mit ihren vielfältigen Eigenheiten. Selbstverständlich gibt es globale Einflüsse, die besonders von den USA beeinflusst werden. Trotzdem gibt es dramatische Unterschiede und die sollte man immer im Hinterkopf haben.

Man sollte sich also einerseits davor hüten, die Kritik unreflektiert zu übertragen, andererseits auch keine Kritik am Buch selbst üben, weil das der eigenen Sicht des spezifisch deutschen respektive europäischen Systems widerspricht. Sonst landet man zwangsläufig bei Plattitüden auf der Ebene von »Kapitalismuskritik« oder »Globalisierungskritik«. Man sollte das ernst nehmen, denn nicht umsonst sagt Snyder sagt selbst über sein Vorhaben:

Ich wurde gefragt, wie ein besseres Amerika aussehen könnte. Dies hier ist meine Antwort.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Snyder beginnt sein Buch aber mit einer europäischen Perspektive. Das Vorwort von Über Freiheit ist im Zug von Kyjiw nach Westen geschrieben worden. Das ist in mehrfacher Hinsicht symbolträchtig, denn in der Ukraine entscheidet sich tatsächlich das Schicksal der gesamten Welt für die kommenden Jahre, eventuell Jahrzehnte. Hält die Ukraine dem russländischen Angriffskrieg stand, hält vor allem der Westen dem seit Jahren von Russland geführten hybriden Krieg gegen sein demokratisches und offenes System stand, dann wird vielleicht Schlimmeres abgewendet werden können. Ein Angriff Chinas auf Taiwan etwa, dessen Folgen derart dramatisch sein würden, dass die Turbulenzen aus dem Krieg Russlands recht bescheiden erscheinen mögen.

In der Ukraine wurden von der russländischen Armee im Jahr 2022 Gebiete besetzt und im gleichen Jahr von ukrainischen Streitkräften »befreit«. Snyder erzählt von Marija, einer 85 Jahre alten Dame, die in einer Notunterkunft bei Psad-Pokrovske lebt, nachdem die Invasoren vertrieben wurden.  Der Ort wurde befreit, sie wurde befreit – doch ist sie auch frei? Synder verneint. Er hält den Begriff »Befreiung« für irreführend, »Deokkupation«, wie ihn die Ukrainer gebrauchen, erscheint ihm passender. Denn so erst könnte man die Frage stellen, was eigentlich nötig ist, um »frei« zu sein. Konkret: Was fehlt Marija zur »Freiheit«?

Freiheit ist nicht nur die Abwesenheit des Bösen, sondern auch die Anwesenheit des Guten.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Snyders Mission ist, dem allzu oft gebrauchten, missbrauchten Wort »Freiheit« wieder Leben einzuhauchen, der bloßen Hülle ein Wesen zu geben. Er will den Begriff definieren. Seine amerikanischen (!) Landsleute gebrauchten den Begriff oft als Abwesenheit von etwas, von Besatzung, Unterdrückung, einer Regierung. Das nennt er »negative Freiheit«, der eine »positive Freiheit« gegenüberstellt. Das Begriffspaar wirkt zunächst schematisch und auch konturlos, die Beispiele aber, wie zum Beispiel Ukrainer Freiheit definieren, beinhalten allesamt etwas Positives.

In der Ukraine betrachten laut Snyder die Menschen Städte und Orte erst dann als befreit, wenn der Bahnverkehr wieder funktioniert. (Im Gegensatz sind die Ansiedlungen, die von russländischen Soldaten »befreit« wurden, zerstört.) Die Struktur ist also wiederhergestellt, doch muss sie erst gefüllt werden, um von Freiheit zu sprechen. Die Möglichkeit zur Mobilität ist ein zentraler Punkt für Freiheit, doch muss der Mensch sie auch selbst nutzen, um Freiheit zu erlangen. Sie ist weder einfach so da noch dauert sie an oder kann vererbt werden. Umgekehrt kann eine Voraussetzung für Freiheit bzw. Unfreiheit sehr wohl vererbt werden, Vermögen bzw. vererbte Armut.

Auf insgesamt sechs Feldern versucht sich Snyder dem Phänomen Freiheit anzunähern: Souveränität, Unberechenbarkeit, Mobilität, Faktizität, Solidarität und Regierung. Die Auswahl überrascht vielleicht, damit hätte das Buch den Punkt der »Unberechenbarkeit« schon mal erfüllt. Doch das ist nur die Form, die grobe Struktur, die Snyder mit durchaus verblüffendem Inhalt füllt. Der Autor mutet seinen Lesern einiges zu, etwa die nicht ganz einfache Unterscheidung zwischen »Körper« und »Leib«, bei der er auf die deutsche Philosophin Edith Stein und die französische Philosophin Simone Weil zurückgreift. Er wendet sich Politik-Bereichen zu, die von Macho-Politikern gern als »Gedöns« abgetan wurden und werden.

Eine Gesellschaft, der die Freiheit am Herzen liegt, würde diese Menschen [Care-Tätigkeiten wie Erzieherinnen, Lehrer, Pflegerinnen] mit Respekt behandeln und sie ordentlich bezahlen.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Für Snyder ist essentiell, dass Freiheit aus dem Menschen heraus erwächst und in die Welt hineinwirkt. Das Individuum ist dabei nie allein, isoliert, keine »Ich-AG«, sondern gerade in den ersten Lebensjahren auf andere zwingend angewiesen. Erst in der Verbindung zu anderen wird die Voraussetzung geschaffen, Freiheit und damit Autonomie entstehen zu lassen. Isolierte Kinder, wie sie die Realität tatsächlich kennt, können sich nicht entwickeln und auch nicht frei sein.

Snyders Ansatz ist auf den Menschen zugeschnitten und sehr persönlich ausgestaltet, zunächst spielen »große Politik« oder gar »Geopolitik« gar keine Rolle. Das politische System kommt dabei aber nicht zu kurz, wie der Rückgriff auf Václav Havel zeigt. Das Kapitel heißt »Unberechenbarkeit« und beschäftigt sich mit der Tyrannei durch Berechenbarkeit. Statt der bis 1968 bekannten brutalen Unterdrückung mit militärischen Mitteln setzten die Regime unter dem roten Banner des Kommunismus in der Zeit danach auf Bildschirme.

Wichtig ist dabei, dass diese Form der Unfreiheit nichts mehr mit der Ideologie von Marx, Engels, Lenin oder anderen kommunistischen Denkern zu tun hatte, sondern mit Breshnews Ziel, das seit 1945 bestehende Imperium zu erhalten. Die Bildschirme dienten demzufolge nicht dazu, sozialistische Ideen zu verbreiten, sondern die Konformitäts-Formeln zu streuen und den Zuschauern einzureden, es gäbe nur diese eine und sonst keine Form der politisch-sozialen Ordnung.

In den Führungszirkeln der Sowjetunion nach 1968 glaubte niemand mehr an Sozialismus, in den Rängen der Partei und ihrer Formationen sicher auch viele nicht. Lippenbekenntnisse statt Überzeugung dürften vielleicht auch für die Mehrheit der Menschen das Wesen ihres politischen Lebens gewesen sein. Allerdings hat Zustimmung und Nachbeten einen Haken, nämlich dass diese auf eine Form reduzierte, entleerte Normalität auf den Menschen rückkoppelt.

Sie [die Normalisierung] ist die Gewohnheit, das zu sagen (und dann zu denken), was notwendig erscheint, während man implizit (und dann explizit) übereinstimmt, dass nichts wirklich wichtig ist.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Das ist frappierend. Wenn nichts wichtig ist, dann ist alles egal und implizit durch fehlende Werte auch erlaubt. Das ist der Kern der Putin-Propaganda, die im Grunde genommen keine echte Propaganda mehr ist, sondern eine Weiterentwicklung. »Alles ist Scheiße« steht am Ende einer immer widersprüchlicher, einander letztlich ausschließender Flut von Informations-Müll, der »Lügenkaskaden« (Anne Applebaum). Ohne jeden moralischen Maßstab lässt sich alles rechtfertigen, der Zwang zur Rechtfertigung entfällt.

Über die Bildschirme heute flimmern nicht nur die TV-Programme wie zur Zeit von Václav Havel, auf den Nutzer stürzt eine unüberschaubare, überwältigende Flut an Informationen ein. Zu allem Gesagten kommt noch die rein quantitative Überforderung hinzu, mit der Folge, dass viele Zeitgenossen nicht mehr mit, sondern im Internet »leben« oder wie Snyder sagt: »im Bildschirm«.

Hinter dem, was wir sehen, stehen Algorithmen, die berechnen und berechenbar machen, was der Nutzer sieht; damit wird der Mensch berechenbar und verliert seine Freiheit, wenn man der Analyse von Snyder folgt. Die so genannten Sozialen Medien buhlen um Aufmerksamkeit, um Zeit und bedienen sich dabei jener Tricks, durch die einer Sucht verstärkt werden. Wie alle anderen Süchte ist das eine kurzzeitig bequeme Form, den Herausforderungen des wirklichen Lebens auszuweichen, eine dicke, dichte Schutzschicht zwischen sich und die Welt zu packen, wie es eine von OxyContin abhängige Künstlerin in Imperium der Schmerzen von Patrick Radden Keefe formulierte.

Berichten zufolge soll Mark Zuckerberg die frühen Nutzer von Facebook als »dumb fucks« bezeichnet haben, weil diese voller Vertrauen zu seiner Plattform gewesen seien. Das kann man als sprachliche Entgleisung eines überheblichen CEO sehen, man kann aber darin auch den Keim einer Entmenschlichung derjenigen sehen, die an die Versprechungen einer schönen, neuen Welt geglaubt haben. Das geschah ausgerechnet durch jenen, der das „Soziale“ Medium erschaffen hat und damit Geld scheffelt. Entwürdigungen dieser Art standen oft am Anfang von Entrechtung und Gewalt, der brutalen Form von Unfreiheit in Lagerwelten.

Freie Menschen sind berechenbar für sich selbst, aber unberechenbar für Machthaber und Maschinen.

Timothy Snyder: Über Freiheit

Spätestens an diesem Punkt muss man als Leser doch innehalten und sich selbst, sein alltägliches Verhalten reflektieren. Den eigenen Umgang mit den Sozialen Medien, das Verhältnis von Bildschirmleben zu »Real Life«, bis hin zur Manipulierbarkeit. Bücher wie Über Freiheit sind in diesem Sinne unbequem gefährlich, denn sie können zu beunruhigenden Fragestellungen an sich selbst führen. Für mich  ist das eines der ganz großen Komplimente, die man einem Werk machen kann, und die Basis für eine dringliche Leseempfehlung.

[Rezensionsexemplar]

Timothy Snyder: Über Freiheit
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
C.H.Beck 2024
Gebunden, 410 Seiten
ISBN: 978-3-406-82140-0

Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären

Ein schlichtes Cover eines Buches, das sich einem dramatischen Thema widmet. Cover Penguin-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Das Sachbuch Die Verlockung des Autoritären von Anne Applebaum ist ein Augenöffner. Jahrzehnte habe ich eine überregionale Tageszeitung mit hohem eigenen Anspruch gelesen und durch die Lektüre historisch-politischer Bücher ergänzt, das Zeitgeschehen aufmerksam verfolgt und darüber hinaus mit Analysen vertieft. Trotzdem sind einige Entwicklungen an mir vorübergegangen.

Spätestens mit dem Brexit, der für mich völlig überraschend kam, und der Wahl Donald Trumps war klar, dass etwas nicht stimmte, etwas, das von den mir zugänglichen Informationen und Analysen nicht ausreichend durchleuchtet wurde. Es gab schon vorher Warnsignale: Die Erwartungen an das Wahlverhalten wichen von den tatsächlichen Ergebnissen auch in Deutschland immer weiter ab, offenkundig verhielten sich viele Wähler unvorhersehbar.

Warum war das so? Wie konnte eine Entscheidung von derart gewaltiger Tragweite (Brexit) verloren gehen?  Wie konnte in den USA eine Gestalt á la Donald Trump gewählt werden? Woher kam der scheinbar plötzlich anschwellende Rechtpopulismus, woher Parteien wie Vox in Spanien? Eine Wirtschaftskrise á la 1929 stand als Erklärung nicht zur Verfügung, anders als etwa Reichskanzler Brüning hatten die Staaten auf die schwere Finanz- und Eurokrise angemessen reagiert, zudem waren die Sozialsysteme nicht dysfunktional.

Unter den passenden Bedingungen kann sich jede Gesellschaft von der Demokratie abwenden. Und wenn man überhaupt etwas aus der Geschichte lernen kann, dann vielleicht, dass alle unsere Gesellschaften dies früher oder später einmal tun werden.

Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären

Die Antworten, die mir präsentiert wurden, griffen zu kurz, sie berührten die Ursachen nur und waren fragmentiert. Ja, es wurde darauf hingewiesen, dass die Brexiteers auf unlautere Mittel zurückgegriffen hatten, vor und insbesondere nach der Wahl ein politische Klima geschürt, gelogen, aufgehetzt und auch Gesetze gebrochen. Aber wie weit das ging und welche konkreten Mittel verwendet wurden, ist mir erst durch Die Verlockung des Autoritären begreiflich geworden.

Ein Punkt ist sicherlich, dass ich erst 2020 mit der Nutzung der so genannten Sozialen Medien begonnen habe und seitdem aus eigener Erfahrung einige bekannte Mechanismen der Manipulation selbst kennengelernt habe und richtig begreifen konnte. Vielleicht ging das den Journalisten meiner überregionalen Zeitung ja auch so, vielleicht haben sie die Tragweite auch unterschätzt – Mutmaßungen, die bei der Lektüre von Die Verlockung des Autoritären unweigerlich aufkommen.

War das Phänomen überhaupt in vollem Ausmaß begreiflich? Viele Dinge schienen sich aus dem Nichts zu entwickeln, dabei haben sie einen langen Vorlauf gehabt und sich in einem Maße und Tempo (man könnte fast den »Blitzkrieg« als Begriff exhumieren) entwickelt, das vielleicht auch für kluge Beobachter wirklich unverständlich war.

Die Vernetzung von moderner Technologie, politischem Interesse sowie jener Gefühlslage in manchen gesellschaftlichen Kreisen, ausgeschlossen und zurückgesetzt zu sein, mit dem ruchlosen Gegenangriff autoritärer Regime á la Russland und China auf kommunikativem, technologischem Feld  war zumindest für mich in dem Ausmaß überraschend.

Ein gravierender Fehler war sicherlich, 1989 an einen Sieg und einen Automatismus zu glauben, der die Welt demokratischer machen würde, quasi von allein. Es gab auf dem langen Weg in die Finsternis, die nun herandräut, einige Momente des Lichts, etwa das Friedensabkommen um Nordirland, mit dem ein Schlusspunkt, ein vorläufiger Schlusspunkt unter einen Alptraum gesetzt wurde. Dem optimistischen Glauben an ein fortschreitendes Ausgreifen dessen, was ich als »Freien Westen« begreife, habe ich allzu gern nachgegeben.

Anne Applebaum liefert eine Menge Hinweise, die Antworten und weitergehende Fragen liefern. Ist dem Homo Sapiens überhaupt zu trauen? Die klugen Schöpfer der amerikanischen Verfassung, attestierten dem Menschen üble Grundneigungen, aus denen heraus immer wieder die Gefahr entspringen könnte, dass freie Gesellschaften den Weg zur Tyrannei beschreiten. Nach 1990 gab es auch Ansätze, doch haben sie sich als zu schwach erwiesen, um Putin, Orban, Kaczyński, Trump, Bolsonaro, Maduro und viele mehr zu verhindern.

Bei dieser Veränderung ging es nicht darum, den Staatsapparat zu optimieren, sondern ihn auf Parteilinie zu bringen und die Gerichte gefügig zu machen.

Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären

Warum das so ist und wie sich die Entwicklung vollzogen hat, werde ich hier nicht im Detail aufführen. Dazu lese man dieses vorzügliche Buch einer in Amerika geborenen, seit 1988 in Polen lebenden, polyglotten und scharf analysierenden Autorin. Deutschland kommt in dem Buch nicht vor, es konzentriert sich auf Polen, Ungarn, England und die USA, mit einigen Abstechern nach Spanien (sehr spannend!), Italien und Frankreich.

Für deutsche Leser ist das durchaus ein Glücksfall, sofern man nicht alles in Form von weichgekochtem politischen Haferbrei verköstigen möchte. So kann man selbst überlegen, welche der genannten Faktoren, Entwicklungen, Entscheidungen und Zufälle zu dem Aufstieg der autoritären Rechten und Linken kommen konnte. Tatsächlich lässt sich einiges ablesen, übertragen und den Leser schaudern.

2010 waren weder die Tories noch die US-Republikaner so radikal dem Brexit- und MAGA-Abgrund verfallen, wie in der Gegenwart. Die CDU/CSU und die FDP waren es bis 2021 auch nicht; seitdem gibt es in diesen Parteien Entwicklungen, die Sorgen bereiten. Eines jedenfalls hat den anderen Parteien nicht geholfen, nämlich dass die Mehrheit das so nicht wollte, zum Beispiel einen harten Brexit. Eine Lehre aus Die Verlockung des Autoritären ist, dass es für eine Katastrophe keine Mehrheit, sondern nur eine zu allem entschlossene Minderheit braucht.

Sehr spannend sind die Erklärungsansätze, derer sich Applebaum bedient. Grundsätzlich verortet sich Autoritarismus unabhängig von politischen Schubladen á la »rechts« und »links«; es handelt sich um Menschen, die »grundsätzlich antipluralistisch« denken, die keine »Komplexität aushalten«. Linke Ideologen des Totalitarismus finden sich nach Applebaum vor allem an Unis, Rechte hingegen in Regierungen. Das mag man mit Blick auf Cuba, Venezuela, Lulas Brasilien, Parteien wie Die Linke und BSW nicht recht unterstützen, zumal die Autorin selbst auf haarsträubende Ansichten linker Totalitärer in der Labour Party verweist.

Das Konzept der »clercs«, intellektueller Ideenspender in totalitären Ideologien,  ist hoch spannend, Applebaum beleuchtet das Treiben derartiger Gestalten in der Gegenwart. Ein zentraler Punkt ist auch Lenin und sein 1917 entstandener Mechanismus des Machterhalts, der Links und Rechts verbindet, denn es handelt sich nicht um eine Ideologie, sondern um eine Organisationsform.

Neu im 21. Jahrhundert ist der Wechsel von der großen (Bolschewiki / Nazis) zur mittelgroßen Lüge: Obama wäre nicht in den USA geboren, George Soros wäre ein Verschwörer, der den Austausch der autochthonen Bevölkerung durch eine muslimische betreibe usw. Auf dieser Basis können Menschen ein Bekenntnis abgeben und in den totalitären Kreis eintreten oder werden ausgegrenzt. Einleuchtend ist auch das Konzept des »restaurativen Nostalgikers«, jenes Phänotyps in England, der als Minderheit das ganze Land in das Brexit-Desaster führte.

Ursachen waren auch keine mystischen ›Geister aus der Vergangenheit‹, sondern die konkreten Taten von Menschen, denen die bestehende Demokratie missfiel.

Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären

Schließlich widmet sich Applebaum auch den Werkzeugen und Mechaniken in einer Weise, die ebenso erhellend wie erschreckend ist. Lügenkaskaden etwa, die ohne Konsequenzen bleiben; oder jene groteske Ablösung von Wirklichkeit und Ideologie, wenn ausgerechnet Putins Russland als »gottgefälliges Land« besungen wird, wenn also die Realität keine Rolle mehr spielt. Wer wüsste nicht aus dem Stand einige Beispiele dafür zu nennen?

Um zum Anfang dieses Textes zurückzukehren: Welche Rolle nimmt die etablierte Presse in diesem Spiel ein, was ist mit dem Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk? Werden sie ihrer Aufgabe als Korrektiv gerecht oder lassen sie sich dank selbstgefälliger Eigensicht instrumentalisieren und am Nasenring durch die Manege ziehen? Zweifel sind erlaubt. Das Konzept der »Neutralität« und »Ausgewogenheit« der ÖRR wird überwiegend rechnerisch befriedigt und gibt antidemokratischen oder sachlich abwegigen Propagandisten eine Plattform.

Eine Grenze ist auch dann überschritten, wenn eine große, überregionale Tageszeitung im Vorfeld einer Bundestagswahl »Werbung« abdruckt, die nichts als politische Hetze darstellt. Dann ist die Zeitung allen Beteuerungen zum Trotz zum Teil jenes antidemokratischen Treibens geworden, an dessen Ende die Dämmerung der Demokratie und der Schritt in den Totalitarismus stehen kann.

[Rezensionsexemplar]

Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären
Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Pantheon Verlag 2022
Klappenbroschur 208 Seiten
ISBN: 978-3-570-55459-3

Jonathan Coe: Bournville

Leider konnte mich der leichtfüßig und flott zu lesende Roman nicht recht überzeugen. Cover Folio-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Einen „Roman in sieben Ereignissen“ nennt Autor Jonathan Coe sein Bournville. Sieben Kapitel zuzüglich eines Prologs bilden die Ankerpunkte im Strom der Zeit, an denen die Erzählung Halt macht und etwas aus der Geschichte einer verzweigten britischen Familie berichtet, in deren Mittelpunkt Mary Lamb steht.

Los geht es jedoch in der unmittelbaren Vergangenheit, jenem Moment, in dem sich das Virus namens Corona Bahn bricht und die Welt vermittels einer Pandemie lahmlegt. Lorna, die Enkelin Marys, befindet sich auf Europatournee, die allerdings mehr einer bangen Jagd gleicht, weil die Band mit ihren Auftritten sozusagen den musikalischen Schlusspunkt vor dem Lockdown setzt.

Nach ihrer Rückkehr auf die britische Insel ermuntert Lorna ihre schweigsame und leicht tüddelige Oma zum Reden. Zum Beispiel über jenen Carl Schmidt, ein deutscher Vorfahr, den Mary 1945 in England kennengelernt hat. An diesem Punkt setzt die Erzählung ein, der Krieg gegen Deutschland geht zu Ende, Frieden und Freudenfeuer werden jedoch durch offen ausgelebte antideutsche Ressentiments getrübt, denn Carl mag zwar formal Engländer sein, wird jedoch als Deutscher angefeindet.

Bournville lässt seine Figuren in unterschiedlicher Besetzung vor dem Radio oder Fernseher sitzen und auf diese eher distanzierte Weise an zentralen Ereignissen teilhaben, der Siegesansprache des Königs etwa oder der Krönung Elisabeths II.. Überhaupt nehmen die Royals einen bemerkenswerten Raum ein, denn allein vier der sieben Ankerpunkte werden Ereignissen um sie gewidmet. Ja, darunter auch der Tod von Lady Di.

Damit beginnen die Schwierigkeiten, die ich mit diesem Roman hatte, denn das Königshaus hat mich doch sehr viel weniger angesprochen als die übrigen drei Kapitel (auch wenn ich tatsächlich die Hochzeit von Charles und Diana im TV verfolgt habe) – Kriegsende, Finale der Fußball-WM 1966 in Wembley und 75. Jahrestag des Kriegsendes. Doch auch bei diesen bleibt die Erzählung seltsam fadenscheinig, denn sie werden in den Gedanken und Gesprächen sowie Handlungen der Familienmitglieder erzählt.

Die drehen sich naturgemäß vorwiegend um eigene, persönliche Angelegenheiten, oft ist das Großereignis mehr ein ferner Lärm, ein Echo, das nicht allzu weit vordringt und an Bedeutung einbüßt. Die Frage stellt sich jedoch, warum sie dann überhaupt ausgewählt wurden? Es wirkt manchmal belanglos, beliebig und ohne zusammenhangslos nebeneinandergestellt, aber präsent genug, um dem, was aus der Familie erzählt wird, ebenfalls die Bedeutung zu rauben.

Das ist schade, denn Bournville ist munter erzählt, leicht und unterhaltsam zu lesen, es gibt eine Vielzahl einzelner Begebenheiten, die eine Menge über das verraten, was man Großbritannien nennt. Wenn etwas ein Engländer als Prince of Wales betitelt wird, stößt das bei Walisern nicht unbedingt auf Gegenliebe, woran die wenigen Brocken akzentschweren Walisisch nichts wesentlich ändern können.

Das sind die lichten Momente in dem Roman, von denen es einige gibt, die jedoch zusammenhangs- und folgenlos aufleuchten und wieder verlöschen. Viel zu selten wird es ironisch oder sarkastisch, gar nicht zu reden von schwarzem Humor, für den sich doch ein weites Spielfeld böte, nicht allein wegen der Farbe jenes Nahrungsmittels, das Anlass für einen jener hübschen, sinnlosen und mit Erbitterung ausgefochtenen europäischen Streits bietet, bei denen man sich kopfschüttelnd abwendet und ein Stoßgebet gen Himmel schickt: Schokolade.

Am Ende des Romans bleibt man seltsam irritiert zurück. Vieles wird angerissen, bleibt jedoch flüchtig, sowohl die historisch-politischen als auch die familiär-persönlichen Themen anbelangt. Da Bournville in ein ganzes Erzähluniversum eingefügt ist, mag es Lesern, die bereits die anderen Werke Coes gelesen haben, bei diesem Roman anders ergehen. Möglicherweise ist für sie das, was ich als flüchtig empfunden habe, eher ein dankbarer Weg, Wiederholungen zu vermeiden.

[Rezensionsexemplar]

Jonathan Coe: Bournville
Aus dem Englischen von Cathrine Hornung, Juliane Gräbener-Müller
Folio-Verlag 2023
Hardcover 409 Seiten
SBN 978-3-85256-885-0

© 2025 Alexander Preuße

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