Schon auf den ersten Seiten dieses Buches ist der Leser ein Stück klüger und orientierter. Anne Applebaum betont gleich zu Anfang von Achse der Autokraten, dass sich hartnäckig eine karikaturhafte Vorstellung vom Alleinherrscher an der Spitze eines autokratischen Staates hält. Putin, Ji, Lukaschenko, Erdogan, Trump – die Liste der gegenwärtigen Autokraten ist lang. Doch ein Autokrat allein macht keine Autokratie.
Autokratien sind Netzwerke mit kleptokratischem Geschäftsmodell, die sich auf einen vielschichtigen Apparat stützen: Armee, paramilitärische Verbände, Polizei und andere Sicherheitsorgane wie Geheimdienste, unterstützt von High-Tech- und IT-Experten, die sich um Propaganda und Desinformation kümmern. Die Netzwerke sind nicht auf ein Land beschränkt, sondern mit Netzwerken anderer Länder verbunden. Das können auch Netzwerke in Demokratien sein, es müssen nicht einmal antidemokratische Parteien wie AfD oder BSW, Teile von Union und SPD gehören eben auch dazu.
Man unterstützt sich mit Ausrüstung, Ausbildung, Informationen; man nennt Ziele und hilft bei der Durchführung von Kampagnen; Medien und Trollfarmen werden dafür eingesetzt. Oder man sorgt für einen positiven Leumund, leistet Hilfestellung bei der Umgehung oder Aufweichung von Sanktionen. Auch aus persönlichen Gründen, denn Autokraten und ihre demokratischen Satrapen sind oft superreiche Unternehmer. Es dürfte kein Zufall sein, dass superreich gewordene Entrepreneure nicht selten autokratische Affinitäten hegen.
Die modernen Autokraten bezeichnen sich als Kommunisten, Monarchisten, Nationalisten und Theokraten.
Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Ideologie spielt anders als im 20. Jahrhundert für die Kooperation keine Rolle. Geld stinkt nicht, weder in der Geschäftswelt noch in der Welt der Autokraten. Machterhalt ist das primäre politische Ziel, die Untergrabung einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung wäre andernfalls vielleicht auch gar nicht nötig. So aber gilt der freie Westen den Autokraten als Quelle für unerwünschte Inspiration für Widerstand gegen die alleinige, unkontrollierte Herrschaft.
Applebaum schildert auf schnörkellose und direkte Weite unsere Gegenwart, es geschieht seit Jahren und es geschieht jetzt. Einige Beispiele, Belarus und Venezuela, deren jüngste Geschichte skizziert werden, sind aus den Medien vertraut, die Akteure sind es ebenfalls. Doch geht die Autorin noch einen Schritt weiter und sagt mit einer Klarheit, die in oft verdruckst formulierenden Medien fehlt: Ohne die gegenseitige Unterstützung der Autokratien würde der Widerstand der eigenen Bevölkerung wohl ausreichen, um die alleinigen Herrscher zu stürzen.
Das ist ein Muster, was auch für den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine greift. Allein wäre Russland vielleicht schon in die Knie gegangen. So löchrig die Sanktionen auch sein mögen, so zögerlich und unzureichend die militärische und wirtschaftliche Unterstützung für die Ukraine auch ist, ohne die Hilfe anderer Autokratien, wäre Russlands Position sehr viel schwächer. Der Westen hilft der Ukraine also nicht nur gegen Russland, sondern gegen eine Achse der Autokraten.
Wie die Oppositionellen in Venezuela oder Belarus mussten sie allmählich erkennen, dass sie in der Ukraine nicht nur gegen Russland kämpften. Sie kämpften gegen die Achse der Autokraten.
Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Bedeutend ist die Erkenntnis, dass Autokratien nur mit Hilfe des Westens an die Macht gelangen und diese konsolidieren können. Es sind westliche Technologien und vor allem das lückenhafte Regelwerk, die den Antidemokraten helfen. Ohne die Finanzierungsmöglichkeiten, etwa durch Geldwäsche, wäre die Macht von Autokraten wesentlich beschränkter, als sie es heute ist. Viele lassen sich einspannen, viele – nicht alle! – bezahlen, um Autokraten zu helfen.
Es sind nicht nur die autoritären Parteien, deren ideologische Zuschreibung als rechts oder links in diesem Punkt mehr verschleiert als erhellt; es sind nicht nur die Zuträger in anderen Parteien, die Einflussnehmer oder -agenten; es sind nicht nur die Interessenvertreter in Verbänden und Lobbyisten, die im Dienste der Putins, Mullahs und Xis stehen, sondern auch Anwälte, Banker, Gewerkschafter und Technologie-Oligarchen, die (fast) legal ihrer Tätigkeit nachgehen.
Hier sieht Applebaum auch einen Ansatzpunkt für die Wende im Kampf gegen die heraufziehende autokratische Dunkelheit: Regulierung. Die Autorin macht sich und ihren Lesern keine Illusionen. Das ist eine brutale Bergaufschlacht, deren Ausgang völlig ungewiss ist. In den USA weht der Wind in die entgegengesetzte Richtung. Doch nicht nur dort ist der Widerstand gegen gesetzliche Regulierungen groß. Ein Beispiel wäre die Verwendung von Bargeld in Deutschland beim Immobilienkauf, eine offene Tür für Geldwäsche, deren Einschränkung von mächtigen und ruchlosen Zeitgenossen bekämpft wird.
Die moderne Auseinandersetzung zwischen autokratischen und demokratischen Gedanken und Praktiken ist keine direkte Fortsetzung dessen, was wir im 20. Jahrhundert erlebt haben.
Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Zu den ganz besonders spannenden und ernüchternden Abschnitten gehört jener, der sich mit den Veränderungen autokratischer Herrschaft und Herrschaftssicherung befasst. Applebaum erklärt anhand mehrerer Beispiele, wie und was die Autokraten gelernt haben. Zumindest die Vorgänge in Hong-Kong dürften politisch Interessierte verfolgt haben. Die Aktivisten dort haben laut Applebaum sehr vieles richtig gemacht, vergangene Kampagnen studiert und an die lokale Lage angepasst. Sie haben auch gelernt – und sind krachend gescheitert.
Wenn man liest, wie es den Chinesen gelungen ist, die studentische Bewegung in Hong-Kong niederzuwerfen, wird es ungemütlich. Da ist zum einen der Anfang der 1990er Jahre vorherrschende Glaube, die demokratische Regierungsform werden sich quasi von allein durchsetzen. Das »Ende der Geschichte« (Fukuyama) hat sich als verhängnisvolle Illusion entpuppt, an der sich bis in die Gegenwart politische Parteien wie Teile der SPD klammern. Das Konzept »Handel durch Annäherung« oder später »Handel durch Wandel« ist mausetot, geistert aber als Wiedergänger durch die Berliner Korridore der Macht.
Das Beispiel Hong-Kong zeigt auch, wie sehr die Anhänger demokratischer Prinzipien die Lernfähigkeit der Autokraten und die Verlockung des Autoritären an sich unterschätzt haben. Die Autokraten sind überlegen. Sie nutzen die Möglichkeiten geschickter und ruchloser als westliche Demokraten. Ihre mediale Durchdringung Afrikas, des Mittleren Ostens, Südamerikas zum Zwecke von Propaganda, Desinformation und Destabilisierung ist mächtiger als der naive Glaube, mit seriösen Nachrichten allein werde man bestehen.
In unseren alten Modellen ist kein Platz für die Einsicht, dass mansche Menschen Desinformationen wollen. Sie finden Gefallen an Verschwörungstheorien und haben wenig Interesse an zuverlässigen Nachrichten.
Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Faktenchecks bringen nicht mehr viel, wenn eine Lüge in der Welt ist – was auch große, überregionale Medien, Tagezeitung und Öffentliche-Rechtliche-Medien nicht wahrhaben wollen. Sie lassen sich sogar ausnutzen, werden Plattformen, über die Propaganda in die Breite getragen und mit einem seriösen Anstrich versehen wird. Präventive Gegenkampagnen wären nötig, eine strategisch gezielte Medien-Öffentlichkeit (nicht gespiegelte Propaganda), die von den Menschen auch bezahlt und zur Kenntnis genommen werden kann, wären nötig.
Dem wirkungsvollsten Mittel, der Schmutzkampagne, wird man selbst damit nicht so einfach Herr. Es ist in Deutschland zu beobachten, wie selbst formal demokratische Politiker die Schmutzkampagne zur Bekämpfung des politischen Gegners benutzen, von den offen autoritären und antidemokratischen Parteien und Gruppierungen gar nicht zu reden. Eine Regulierung des wuchernden Lügen- und Desinformationsgeschwürs wird man allein deswegen nur sehr schwer durchsetzen können.
Applebaum weiß das auch. Daher klingt ihre Schrift auch sehr kämpferisch. Ähnliches kann man bei Über Freiheit von Timothy Snyder lesen. Beide beziehen sich übrigens auf Vláclav Havel und seinen Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben. Da die Gegner seit Havels Zeit gelernt haben, müssen die Freunde von Freiheit, Wahrheit und Demokratie auch lernen und neue Strategien entwickeln. Eine Bergaufschlacht, die nicht endet und deren Ausgang völlig ungewiss ist.
[Rezensionsexemplar]
Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten
Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Siedler Verlag 2024
Hardcover 208 Seiten
ISBN: 978-3-8275-0176-9