Vieles aus dem Roman Stan von John Connolly wird im Gedächtnis haften bleiben. Szenen von großer emotionaler Intensität. Stan Laurel und Oliver (Babe) Hardy überqueren den Atlantik mit dem Schiff. Eigentlich wollen sie in England Urlaub machen. Im Filmgeschäft aber, das hat der Leser längst gelernt, wird mit harten Bandagen gekämpft. Ihr Brötchengeber Hal Roach nutzt ihre Reise als PR-Tour aus, es sind Auftritte geplant, Interviews, Autogramm-Stunden. Urlaub ist es trotzdem, denn ihnen wird der Lohn für die Zeit ihrer Abwesenheit gekürzt. Harte Bandagen.
Auf dem Weg von der West- an die Ostküste erleben die beiden Filmschauspieler, dass sie Stars geworden sind. Sie wissen, dass die Menschen ihre Filme lieben, sie kennen das Gedränge, wenn sie irgendwo in der Öffentlichkeit auftreten. Auch bei ihrer Abreise aus L.A. gibt es das gewohnte Bild. In den Städten des Ostens aber werden Laurel und Hardy vom Star-Rummel regelrecht überrollt.
Ihre Wahrnehmung der Realität verschiebt sich. Sie sind nicht nur bekannte und beliebte Filmschauspieler, sie sind Stars. Das ist wie ein Schlag mit einem nassen Handtuch – zunächst sind sie wie betäubt, dann, nach und nach nehmen sie die neue Wirklichkeit an. Trotzdem bleibt die Unsicherheit: Hier ist Amerika, doch wie wird es in Großbritannien sein, Laurels alter Heimat?
Als sich das Schiff dem Hafen nähert, hören beide ein seltsames Geräusch. Es klingt wie eine gewaltige Schar zwitschernder Vögel. Ein vielstimmiges Pfeifen. Als sie näherkommen, sehen sie die unzähligen Menschen, die zu ihrer Begrüßung zusammengeströmt sind und vereint die Melodie pfeifen, die am Anfang ihrer Filme steht. Ein Moment magischer Schönheit, irreal und zugleich erhebend.
Jahre später, nach dem Durchschreiten von Abgründen als Ehen, Scheidungen, Alkohol, Hochzeiten (zweimal, dreimal mit der gleichen Frau), Exzessen, dramatischen Fehltritten, dem Gefühl, nie Chaplin zu werden, Ausgenutztwerden und finanziellen Problemen, dem faktischen Ende der Karriere, Alter, die Hölle im Haifischbecken von Fox – nach alldem kehren beide noch einmal nach Europa zurück.
Die Zweifel, die sie beim ersten Trip beschlichen, haben sich in rabenschwarze Befürchtungen verwandelt. Zwei alte Männer wolle niemand sehen, denken sie. Im Nachkriegsengland nach den Entbehrungen des Krieges haben alle nur das Bild von Laurel und Hardy im Kopf, das längst verblichen ist. Als das Schiff sich Southampton nähert, …
… erreicht sie ihn, so wie früher, wird lauter wie der Gesang unsichtbarer Vögel, der vom Dock und der dahinterliegenden Stadt aufsteigt und vom Wind dorthin getragen wird, wo er steht.
John Connolly: Stan
Eine gepfiffene Melodie.
Es ist mehr als ein Echo des ersten Erlebnisses Jahre zuvor. Es ist ein Augenblick der Vollkommenheit. Das Ende, das tragische, melancholische Ende ist bereits nahe. Wer sich auf Stan von John Connolly einlässt, ist schon auf der ersten Seite am Ende angelangt, denn der Autor erzählt in Rückblicken. Laurel ist allein, Babe Hardy tot, wie so viele andere, die er auf seinem Weg getroffen und kennengelernt hat.
In langen Schleifen erzählt Connolly aus dem Lebensweg Laurels, der lange seinen Pfad ohne seinen kongenialen Partner geht. Chaplin ist einige Zeit mit dabei, das „Monster“, mit seinem monströsen Gebaren. Im Roman ist selten von Sex, nie von harmloseren Umschreibungen, aber oft vom „Ficken“ die Rede. Man kann das mögen oder nicht, es spiegelt wie vieles andere in dem Buch die Härte eines Lebens wieder, in dem Kunst unter das Joch des Geschäfts gezwungen wird.
Die Jahre der Entbehrungen als Bühnendarsteller, den Blick auf den kometenhaft aufsteigenden Stern Charlie Chaplin, die schier endlosen Trippelschritte Laurels zum Ruhm sind begleitet harter Arbeit mit Hingabe, Disziplin und Kreativität. Ohne das nötige Glück, ohne die Beziehungen, für die er viel investieren musste, hätte das alles nichts genutzt. Ohne Talent wäre die Schauspielerei hohl geblieben, ohne Babe Hardy nichts.
Stan hätte ein Gedöns-Roman werden können, schlimmstenfalls ertränkt in Fluten der Emotion. Connolly hat einen Stil gewählt, der dem einen Riegel vorschiebt. Schon auf der allererste Seite wird klar, worauf man sich einlässt. Für mich sofort fest, dass ich auf einen kleinen Schatz gestoßen bin. Dann möchte man gar nicht mehr aufhören zu lesen und einen erneuten Blick in die Filme werfen.
Deshalb lebt er hier in diesem kleinen Apartment,
John Connolly: Stan
lebt er hier in Santa Monica,
lebt er hier mit seiner Frau,
lebt er hier mit dem Traum von dem, der er war, und der Wirklichkeit dessen, was aus ihm geworden ist.
Er ist alt. Er wird nicht sehr viel länger leben, weder hier noch irgendwo anders.
Hier, am letzten Set seines Lebens – den vier Wänden und dem Ozean dahinter -, verfehlt er seine Markierungen.
Im englischen Original lautete der Titel sehr passend: he, Connolly spricht oft von »er«, wenn Stan gemeint ist. Über allem liegt von Anbeginn an wie dicker Nebel die Melancholie. Der Tod steht schon vor der Tür. Der zweiten Ankunft in Southampton folgt ein triumphaler Aufenthalt in England. Aus den geplanten sechs Wochen werden neun Monate. Die Hoffnung kehrt zurück und brennt einige Zeit und erlischt.
John Connolly: Stan
Rowohlt Verlag 2018
Aus dem Englischen von Gottfried Röckelein
Gebunden 528 Seiten
ISBN: 978-3-489-00946-5