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Schlagwort: Generationenroman (Seite 1 von 3)

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Der Fluss spielt im brillanten Roman Grenzfahrt eine wichtige Rolle. Er trennte bis zum 22. Juni 1941 Wehrmacht und Rote Armee, ehe das apokalyptische Unternehmen »Barbarossa« seinen Anfang nahm. Cover Suhrkamp-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Keine eigene Geschichte, nur die der anderen. Der Russen, der Deutschen. Sie waren gekommen, hatten Schutt und Asche hinterlassen und waren wieder gegangen.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Große Teile des Romans werden aus einer mittleren Perspektive erzählt. Zwar ist der Ort in Polen gelegen, doch könnte man das alles auch auf ganz Mittelosteuropa beziehen. Dazwischen. Hier die Deutschen, dort die Sowjets, Hammer und Amboss, alle anderen dazwischen. An einem Fluss, der die beiden Gebiete trennt. Die Gegend am Fluss präsentiert als geschichtsloser Raum, den die anderen, die Russen und Deutschen, gefüllt haben.

Die Geschehnisse spielen im Spätfrühling 1941, es ist Ende Mai, Anfang Juni, der nahende Vernichtungskrieg, die große Blutmühle des 20. Jahrhunderts liegt bereits schwer in der warmen und heißen Luft. Geschütze stehen von Tarnnetzen verborgen im Garten, Panzer, Opel Blitz, Motorräder und marschierende Infanterie wirbeln Staub auf, der große Aufmarsch ist im Gange. Auf der anderen Flussseite Bunker, Wachen, Patrouillen. Nachts erhellen Leuchtraketen den dunklen Himmel.

In diesem seltsamen Zwischenraum zu dieser Zwischenzeit vor dem hereinbrechenden Verhängnis tummeln sich die unterschiedlichsten Menschen, die sich unter gewöhnlichen Umständen nie getroffen hätten. Dörfler, Bauern, Hirten; Partisanen mit großen Reden und brutalem Verhalten; Schmuggler; Fliehende, oft Juden, die nach Osten wollen; Rückkehrer aus dem Osten, weil dort auch kein Ort zum Überleben ist.

Eine der Hauptpersonen ist der Fährmann, der in dunklen Nächten sein bereits vor dem Krieg betriebenes Geschäft fortführt. Er lässt sich für das große Risiko bezahlen, ist aber ein ehrlicher Mensch, betrügt seine menschliche Fracht nicht. Er arbeitet auf dem Fluss, dem Dazwischen, pendelt und gerät auch in anderer Hinsicht zwischen die Fronten. Eine lebensbedrohliche Lage für ihn, in einer Zeit, in der das einzelne Leben seinen Wert eingebüßt hat.

Er betrachtete die Spuren der Raupe und begriff nicht, warum die Deutschen gekommen waren und warum sie weiterziehen wollten.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Erzählt wird in wechselnden Perspektiven. Die Sichtweisen sind zum Teil außergewöhnlich, wenn etwa jener hinterwäldlerische Dörfler staunend die Wehrmachts-Kolonnen betrachtet, völlig ahnungslos, woher die Deutschen kommen, was um alles in der Welt sie in seiner Heimat wollen und – ein noch größeres Rätsel – warum sich die Deutschen mit den Sowjets anlegen werden. Und ja, das fragt sich der Leser dann auch.

Stasiuk hat seinen Roman Grenzfahrt mit einer weiteren Zeitebene versehen, in der der Ich-Erzähler mit seinem Vater in ebenjener Gegend sich aufhält, Jahrzehnte später, wenn das große Vergessen alles in den Abgrund zieht, was damals dort geschehen ist. Die Spuren sind rar, das Bedürfnis des Ich-Erzählers, etwas über die Zeit zu erfahren, viel größer als die Neigung des Zeugen, davon zu berichten.

Eine magische Passage erzählt von einem Foto, das der Erzähler betrachtet. Ein „Bild aus jener Zeit“. Er beschreibt die Personen, die zu sehen sind, wohin sie schauen. Sie sehen Dinge, die man auf dem Foto nicht sieht, die aber trotzdem da sind. Der Ich-Erzähler weiß, dass vor dem Foto-Betrachter ein Fenster ist,  eine Tür, er kennt das Haus, hat früher aus dem Fenster geschaut. Trotzdem wusste der Ich-Erzähler lange nicht, was von der Landschaft, die er gesehen hat, noch verborgen ist.

Es kann sein, dass gut fünfzig Kilometer weiter schon die Feuer von Treblinka brennen.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt

Darüber wurde nicht gesprochen, nicht mit den Kindern. Der Erzähler hat seiner Großmutter zugesehen, wie sie ohne Licht in der Nacht die Kühe gemolken hat. Weiße Milch, ein ganzer Eimer voll aus dieser „tiefsten Finsternis“, die „tiefer als die Nacht selbst“ war. Wer denkt hier nicht an Celans berühmte Gedichtzeile aus der Todesfuge? Schwarze Milch der Frühe. Stasiuk hat seine Grenzfahrt auch zu einer Reise in poetische Bilder gemacht, die – passend zu dem, was in der Vergangenheit geschah – grundlegende Fragen der menschlichen Existenz berühren.

Heroisch ist nichts in diesem Roman. Das gilt auch für die Gruppe an Partisanen, die in der Gegend herumstreift und im Grunde genommen die Bevölkerung drangsaliert. Für den Kriegsverlauf hat das wirre Hin und Her keinerlei Bedeutung, manchmal wirkt die Gruppe wie Schuljungen, die Partisanen spielen. Sie zählen Wehrmachtsfahrzeuge und streiten sich, ob bestimmte Fahrzeuge Panzer sind oder nicht. Nie werden diese Informationen irgendwohin weitergeleitet.

Stasiuk lässt ihre Handlungen brutal, von großen, hohlen Worten umhallt und mit fürchterlichen Folgen erscheinen. Es gibt Tote, man hängt jemanden mit erschütternder scharfrichterlicher Inkompetenz. Ein ähnliches Fiasko ist auch der Versuch, ein Schwein zu töten. Im Grunde genommen sind alle Aktionen der Partisanen sinnlos, gefährlich nur für die Zivilbevölkerung. Eine Bande, Räuber, Marodeure statt heroischer Widerständler.

Der latente Antisemitismus schlägt immer wieder durch, was zwei jüdischen Flüchtlingen fast zum Verhängnis wird. Sie kommen aus der Stadt an den Fluss, in der Hoffnung, dem sicheren Tod im Herrschaftsraum der Deutschen zu entgehen, wenn sie auf die andere Seite, zu den Sowjets gelangen. Eine Illusion, wie so vieles in Grenzfahrt. Stattdessen kumuliert die Handlung in einer schrecklichen Missetat, während die letzten Minuten vor dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion verrinnen.

Große europäische Literatur.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Suhrkamp 2023
Gebunden, 368 Seiten
ISBN: 978-3-518-43126-9

Jonathan Coe: Bournville

Leider konnte mich der leichtfüßig und flott zu lesende Roman nicht recht überzeugen. Cover Folio-Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Einen „Roman in sieben Ereignissen“ nennt Autor Jonathan Coe sein Bournville. Sieben Kapitel zuzüglich eines Prologs bilden die Ankerpunkte im Strom der Zeit, an denen die Erzählung Halt macht und etwas aus der Geschichte einer verzweigten britischen Familie berichtet, in deren Mittelpunkt Mary Lamb steht.

Los geht es jedoch in der unmittelbaren Vergangenheit, jenem Moment, in dem sich das Virus namens Corona Bahn bricht und die Welt vermittels einer Pandemie lahmlegt. Lorna, die Enkelin Marys, befindet sich auf Europatournee, die allerdings mehr einer bangen Jagd gleicht, weil die Band mit ihren Auftritten sozusagen den musikalischen Schlusspunkt vor dem Lockdown setzt.

Nach ihrer Rückkehr auf die britische Insel ermuntert Lorna ihre schweigsame und leicht tüddelige Oma zum Reden. Zum Beispiel über jenen Carl Schmidt, ein deutscher Vorfahr, den Mary 1945 in England kennengelernt hat. An diesem Punkt setzt die Erzählung ein, der Krieg gegen Deutschland geht zu Ende, Frieden und Freudenfeuer werden jedoch durch offen ausgelebte antideutsche Ressentiments getrübt, denn Carl mag zwar formal Engländer sein, wird jedoch als Deutscher angefeindet.

Bournville lässt seine Figuren in unterschiedlicher Besetzung vor dem Radio oder Fernseher sitzen und auf diese eher distanzierte Weise an zentralen Ereignissen teilhaben, der Siegesansprache des Königs etwa oder der Krönung Elisabeths II.. Überhaupt nehmen die Royals einen bemerkenswerten Raum ein, denn allein vier der sieben Ankerpunkte werden Ereignissen um sie gewidmet. Ja, darunter auch der Tod von Lady Di.

Damit beginnen die Schwierigkeiten, die ich mit diesem Roman hatte, denn das Königshaus hat mich doch sehr viel weniger angesprochen als die übrigen drei Kapitel (auch wenn ich tatsächlich die Hochzeit von Charles und Diana im TV verfolgt habe) – Kriegsende, Finale der Fußball-WM 1966 in Wembley und 75. Jahrestag des Kriegsendes. Doch auch bei diesen bleibt die Erzählung seltsam fadenscheinig, denn sie werden in den Gedanken und Gesprächen sowie Handlungen der Familienmitglieder erzählt.

Die drehen sich naturgemäß vorwiegend um eigene, persönliche Angelegenheiten, oft ist das Großereignis mehr ein ferner Lärm, ein Echo, das nicht allzu weit vordringt und an Bedeutung einbüßt. Die Frage stellt sich jedoch, warum sie dann überhaupt ausgewählt wurden? Es wirkt manchmal belanglos, beliebig und ohne zusammenhangslos nebeneinandergestellt, aber präsent genug, um dem, was aus der Familie erzählt wird, ebenfalls die Bedeutung zu rauben.

Das ist schade, denn Bournville ist munter erzählt, leicht und unterhaltsam zu lesen, es gibt eine Vielzahl einzelner Begebenheiten, die eine Menge über das verraten, was man Großbritannien nennt. Wenn etwas ein Engländer als Prince of Wales betitelt wird, stößt das bei Walisern nicht unbedingt auf Gegenliebe, woran die wenigen Brocken akzentschweren Walisisch nichts wesentlich ändern können.

Das sind die lichten Momente in dem Roman, von denen es einige gibt, die jedoch zusammenhangs- und folgenlos aufleuchten und wieder verlöschen. Viel zu selten wird es ironisch oder sarkastisch, gar nicht zu reden von schwarzem Humor, für den sich doch ein weites Spielfeld böte, nicht allein wegen der Farbe jenes Nahrungsmittels, das Anlass für einen jener hübschen, sinnlosen und mit Erbitterung ausgefochtenen europäischen Streits bietet, bei denen man sich kopfschüttelnd abwendet und ein Stoßgebet gen Himmel schickt: Schokolade.

Am Ende des Romans bleibt man seltsam irritiert zurück. Vieles wird angerissen, bleibt jedoch flüchtig, sowohl die historisch-politischen als auch die familiär-persönlichen Themen anbelangt. Da Bournville in ein ganzes Erzähluniversum eingefügt ist, mag es Lesern, die bereits die anderen Werke Coes gelesen haben, bei diesem Roman anders ergehen. Möglicherweise ist für sie das, was ich als flüchtig empfunden habe, eher ein dankbarer Weg, Wiederholungen zu vermeiden.

[Rezensionsexemplar]

Jonathan Coe: Bournville
Aus dem Englischen von Cathrine Hornung, Juliane Gräbener-Müller
Folio-Verlag 2023
Hardcover 409 Seiten
SBN 978-3-85256-885-0

Dimitri Kapitelman: Eine Formalie in Kiew

Ein kurzer Roman über die Abgründe von Migration und Famile. Cover dtv, Bild mit Canva erstellt.

Von einem, der auszog, ein Deutscher zu werden – und dazu dank teutonischer Bürokratie nach Kyjiw reisen muss, um eine Formalie zu erledigen. Unnötig zu erwähnen, dass es nicht bei der Formalie bleibt, ebenso unnötig zu erwähnen, dass es nicht bei dem einen sprichwörtlichen Klischee bleibt. Erfreulicherweise hat Autor Dimitrji Kapitelman eine ganze Reihe von Sprachneuschöpfungen ins literarische Feld geführt, um sich diesen Klischees angemessen anzunehmen und ihnen Leben einzuhauchen.

Der Leser folgt dem Ich-Erzähler in die Abgründe einer Migrations– und Familiengeschichte. Beide Motivkreise sind eng miteinander verwoben, beide sind fern jeglicher Verklärung und rührseliger Aufhübschung. Von einem Land ins andere überzusiedeln ist (über-)fordernder Kraftakt; Kapitelman spitzt das zu, in dem er sagt, die Katze habe sich am schnellsten in Deutschland integriert. Die Eltern des Erzählers fremdeln, übertünchen die Fremdheit mit Verklärung ihrer eigenen Herkunft.

Das ist ein Motiv, das aus anderen Migrations-Romanen bekannt ist. Nino Haratischwili etwa hat in ihrem Roman Die Katze und der General dieses Thema gekonnt auf den Punkt gebracht. Es lohnt sich für den Leser, auf die Zwischentöne zu hören – wer Migration verstehen will, kommt hier auf seine Kosten. Es ist kompliziert, einfache »Lösungen« sind und bleiben populistische Phrasendrescherei.

In der Ukraine erlebt der reisende Erzähler eine Reihe von Überraschungen, die hier nicht vorweggenommen werden. Der Krieg im Osten des Landes, in Deutschland und weiten Teilen Westeuropas lange Jahre als »Krise« verharmlost und vergessen, wetterleuchtet immer mal wieder am Erzählhorizont, Putins Angriffs- und Vernichtungskrieg ist noch fern. Angesichts dessen, was Kapitelman erzählt, ist man schon verblüfft, wie widerstandsfähig sich die Ukraine erwiesen hat. 

Auf den ersten Blick jedenfalls, denn Zwischentöne und Beiläufigkeiten lassen bereits erahnen, wie blind die Annahme gewesen ist, die Ukraine würde sich nicht wehren (können). Bei allen Missständen hat sich das Land, haben sich seine Menschen zu einer Zivilgesellschaft entwickelt, auch wenn sowjetische »Stillstandsarchitektur« und vieles andere Überkommene noch präsent sind. 

Dimitri Kapitelman: Eine Formalie in Kiew
dtv 2023
Taschenbuch 176 Seiten
ISBN 978-3-423-14842-9

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Lange habe ich mir einen Roman aus (nord-)vietnamesischer Sicht gewünscht, hier ist er. Oftmals überwältigend angesichts des endlosen Leids der Menschen. Cover Insel, Bild mit Canva erstellt.

Seltsam gesichtslos sind die Nordvietnamesen in jenen Filmen, die in Vietnam zur Zeit des Krieges spielen. In diesem Punkt unterscheiden sich Platoon, Full Metal Jacket, Der stille Amerikaner, Good Moring Vietnam, Apocalypse Now, Deer Hunter und andere nicht wirklich voneinander. Sie wirken weniger wie Individuen, eher wie eine amorphe Masse, verborgen hinter rassistischen Ausdrücken und Spitznamen wie »Charlie«.

Menschen in Uniform verlieren einen Teil ihrer Individualität, während Nordvietnamesen fast immer als Teil des Vietcong oder der regulären nordvietnamesischen Streitkräfte auftreten, sind die Zivilisten faktisch unsichtbar. Diese amerikanischen Filmdarstellungen sind auch ein Echo auf den Umstand, dass die Amerikaner einem Feind gegenübertraten, der asymmetrisch focht, oft aus dem Verborgenen heraus, eine Kriegführung, die traditionell wie ein Katalysator auf Kriegsverbrechen wirkt.

Eine der Folgen ist, dass die gnadenlose Bombardierung Nordvietnams in Deutschland faktisch in Vergessenheit geraten ist, ausgerechnet in jenem Land, dessen Städte durch den so genannten »strategischen Bombenkrieg« während des Zweiten Weltkrieges vernichtet wurden. Über Nordvietnam wurden noch mehr Bomben abgeworfen, ohne entscheidende militärische Wirkung zu erzielen. Dafür traf es die Zivilbevölkerung mit unerhörter Härte – im Verborgenen.

Nguyễn Phan Quế Mai lüftet mit ihrem Roman Der Gesang der Berge den Schleier. Schon im ersten Kapitel sehen sich Hu´o´ng und ihre Großmutter Diệu Lan in Hanoi einem amerikanischen Luftangriff ausgesetzt. Der Leser wird mitten hineingerissen in einen Alptraum, die hektische Suche nach einem Bunker; es folgen Flucht aufs Land, Hunger, Rückkehr in eine zermalmte Stadt und eine Existenz am Rande des Hungertodes.

Die Herausforderungen, die das vietnamesische Volk im Lauf der Geschichte meistern musste, sind so groß wie die höchsten Berge.

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Das steht am Angang eines schier endlosen Laufs von Gewalt. Die Struktur des Romans, der zwischen den Zeiten und Erzählstimmen stetig wechselt, verstärkt diesen Eindruck, aber selbst eine lineare Erzählung würde daran wenig ändern: Franzosen, Japaner, Amerikaner haben als Kolonialherren, Eroberer oder Kriegspartei über Jahrzehnte dem Land Unheil und Verwüstung gebracht; die Kommunisten zudem noch einen Krieg gegen das eigene Volk entfesselt.

Wie erzählt man davon? Nguyễn Phan Quế Mai wählt einen geschickten Weg, um den Leser nicht in einer Flut an unerträglicher Gewalt zu ertränken. Die Hauptfiguren in Der Gesang der Berge sind Frauen, sie schultern die Ungeheuerlichkeiten, denen sie ausgesetzt sind. Die vielfältigen Kriege wirken auf sie auf ganz verschiedene Weise ein, etwa durch die Abwesenheit ihrer Liebsten, die an fernen Fronten kämpfen und jahrelange Ungewissheit bei den Zurückgebliebenen sorgen.

Die haben zwar nicht direkt mit dem Gegner zu kämpfen, dafür mit tödlichem Hunger, der viele Menschen in erbarmungslose Bestien verwandelt, und mit den Auswüchsen des kommunistischen Ideologie. Die kommt in Gestalt der »Landreform« daher und – man ahnt es – schauerlichen Gewalttaten. Die Neigung, Ideen zur Rechtfertigung brutalster Handlungen gegen Mitmenschen zu missbrauchen, scheint ortsunabhängig eine anthropologische Grundkonstante zu sein.

Die Umrisse der Dörfer am Horizont sahen aus wie Frauen, deren Rücken sich unter der Last des Lebens beugt.

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Hu´o´ng und ihre Großmutter kämpfen ums Überleben. Immer wieder werden ihnen die Grundlagen dafür entzogen; insbesondere ihre Flucht vor der »Landreform« nach Hanoi ist schwer erträglich. Um am Leben zu bleiben, muss die Fliehende ihre Kinder zurücklassen, mit der vagen Aussicht, in der Stadt unerkannt eine neue Existenz aufzubauen. Erst dann kann sich die Mutter auf die Suche nach ihren Kindern machen.

Beeindruckend fand ich den unerbittlichen Familienzusammenhalt, den die Autorin schildert. Dieser geht so weit, dass ein Mitglied seine eigene Frau und Kinder in die USA fliehen lässt und selbst zurückbleibt; das klingt so befremdend wie ich es beim Lesen empfunden hätte – wäre da nicht diese ungeheuerliche Zerrissenheit von Land, Familien und Menschen. Familienbande erscheinen wie eine Art Gegenkraft zu der alles zerreißenden Destruktion.

Besonders gefallen hat mir die Entscheidung der Autorin, dem Vietnamesischen einigen Raum zu geben. Das bleibt nicht bei den Eigennamen, wie Saigon (»Sài Gòn«), es werden ganze Sätze in der originalen Sprache abgebildet – und natürlich gleich darauf übersetzt. Dieser Kniff verstärkt beim Leser den Eindruck der Fremdheit und der kulturellen Distanz und erhöht die Wahrhaftigkeit des Erzählten.

Wir haben genug Tod und Gewalt gesehen, um zu wissen, dass wir nur auf eine Art über den Krieg sprechen können: aufrichtig.

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Für meinen persönlichen Lesegeschmack ist der Roman an manchen Stellen ein wenig zu emotional geraten, doch das ist Teil des Stils, der dem Erzählten auch angemessen ist und viele andere Leser eher ansprechen könnte. Am Ende von Der Gesang der Berge steht wie am Ende jedes Lebens der Tod. Nguyễn Phan Quế Mai verbindet das Ableben gekonnt mit Leitmotiven ihres Romans und entlässt auf eine friedvolle Weise den Leser in die Stille, die jedem guten Buch folgt.

[Rezensionsexemplar]

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge
Aus dem Englischen von Claudia Feldmann
Insel Verlag 2021
Gebunden 429 Seiten
ISBN: 978-3-458-17940-5

David Hewson: Garten der Engel

Venedig ist der Ort dramatischer Ereignisse im Herbst 1943, als die Deutschen die Macht im Norden Italiens an sich gerissen haben. Cover Folio Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Seit ich zwölf Jahre alt bin, beschäftigt mich der Krieg. Dabei steht »der Krieg« vor allem für den Zweiten Weltkrieg. Es ist ein – etwas seltsames – Vermächtnis, das mich bis an mein Lebensende beschäftigen wird, aber so etwas kann man sich nicht aussuchen. Garten der Engel von David Hewson dreht sich neben allem anderen auch um ein ungewolltes Vermächtnis, auf ganz verschiedenen Ebenen: persönlich, familiär, aber auch ein wenig historiographisch.

David Hewson ist das Kunststück geglückt, dieses Vermächtnis in eine sehr spannende, ja dramatische Geschichte einzuweben; kein zufällig gewähltes Verb, spielt doch das Weben eine wichtige Rolle in der Handlung. Der Ort ist ebenfalls klug gewählt. Venedig, vom Festland abgeschnitten, eine kleine, in sich geschlossene Welt für sich; zumindest können sich das ihre Bewohner einreden.

Es ist 1943, Italien hat nach drei Jahren – äußerst glücklosen Krieges – mit den Alliierten einen Waffenstillstand geschlossen und das Bündnis mit Deutschland verlassen. Praktisch ist das Land zweigeteilt, denn die amerikanischen und englischen Truppen kommen nur sehr langsam voran, der gesamte Norden ist in deutscher Hand.

Mussolinis Faschisten haben dort unter Nazifuchtel weiterhin das Sagen, es tobt ein blutiger Partisanenkampf im Land. Für jene, die laut Nazi-Ideologie als Juden gelten, brechen schwere Zeiten an, denn jetzt geraten auch sie ins Visier der deutschen Vernichtungskrieger, die Verfolgungen werden wie im übrigen Europa verschärft, Züge voller italienischer Juden rollen Richtung Konzentrationslager.

Wenn die Welt sich verdunkelt, bleibst du dann in deinem Versteck und wartest ab, bis es wieder hell wird? Oder versuchst du selbst, eine kleine Flamme zu entzünden?

David Hewson: Garten der Engel

Das alles schwappt nach Venedig, wo sich die Deutschen eingerichtet haben und auf Mussolinis treue Schwarze Brigaden und Kollaborateure stützen. Man schlägt sich durch, auch der just von alliierten Bomben zum Waisen gemachte Paolo Uccello müht sich, das ins Straucheln geratene Familienunternehmen, eine Seidenweberei, am Leben zu erhalten.

Eine ganze Reihe von Personen gerät durch das Auftauchen zweier jüdischer Partisanenflüchtlinge in eine Lage, Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen treffen zu müssen. Hewson ist es gelungen, die meisten dieser Personen vielschichtig zu gestalten, sie mit ihren Widersprüchen und Schwächen, hanebüchenen Ideen und Ansichten aufeinander loszulassen. Eine Ausnahme bilden die eher schablonenhaften deutschen Besatzern; daran ist nichts auszusetzen, um die geht es in diesem Roman nämlich nicht in erster Linie.

Im Mittelpunkt steht zum Beispiel der Kollaborateur Luca Alberti, ein ehemaliger Polizist, der sprachkundig für die Deutschen in Venedig Ermittlungsarbeiten durchführt. Er versucht sich in der hohen Kunst des Lavierens, redet sich ein, nur das zu tun, was irgendjemand tun müsse und durch sein Handeln das eine oder andere Leben retten zu können. Alberti ist andererseits völlig illusionslos über sein Schicksal, sollte der Krieg für die Achsenmächte verlorengehen. Eine ganz wunderbar widersprüchliche Person.

Ich erledige eine Aufgabe, die irgendjemand erledigen muss.

David Hewson: Garten der Engel

Das gilt auch für viele andere Figuren, die in Garten der Engel ins Geschehen eingreifen und durch ihre Torheiten und klugen Entscheidungen einen Prozess in Gang setzen, der sich immer mehr beschleunigt und auf eine geradezu klassische Tat zuzusteuern scheint – doch Hewson hält für den Leser einige handfeste Überraschungen und Wendungen bereit; man kann das Buch irgendwann nur schwer aus den Händen legen.

Angesichts der zahlreichen, ansprechenden Personen fallen ausgerechnet die beiden Partisanen ab. Insbesondere die handlungsaktive Mika Artom hat bei mir für Stirnrunzeln gesorgt – ganz bewusst formuliere ich etwas gewunden, denn aus meiner langjährigen Beschäftigung mit diesem Krieg weiß ich, dass in dieser Zeit viele Menschen Dinge getan haben, die im Grunde undenkbar waren.

So verhält es sich vielleicht auch mit Mika, die wie ein menschlicher Katalysator für einen wesentlichen Teil der Handlungsdynamik verantwortlich ist. Wie sie geschildert wird, wäre sie – mit Vorbehalt – längst tot, umgebracht von den Deutschen, italienischen Faschisten oder aber den eigenen Leuten, für die sie aufgrund ihrer Querschlägerei eine immense Gefahr darstellt. Kurz hatte ich sogar die Befürchtung, Mika würde mir das Buch insgesamt verleiden – zum Glück unbegründet.

Hewson hat nämlich en passant mit dem Partisanenmythos ein wenig aufgeräumt. Partisanenkrieg wird oft immer noch verherrlicht, dabei handelt es sich um eine brutale, ja oft menschenverachtende asymmetrische Kriegführung, die ganz bewusst die Zivilbevölkerung in die Feuerlinie bringt. Für jeden getöteten Deutschen wird eine Handvoll Zivilisten erschossen – als abschreckende Terrormaßnahme. Auch einige handelnde Figuren fragen sich, ob das Agieren der Partisanen militärisch gerechtfertigt und moralisch gedeckt ist.

Es wird alles zu einer Geschichte. Einem Märchen. Gut und schlecht. Schwarz und Weiß. Nichts dazwischen. Dabei ist es das Dazwischen, auf das es ankommt.

David Hewson: Garten der Engel

Garten der Engel erzählt die Geschichte im Rahmen eines klassischen Sterbebett-Bekenntnisses. Fünf Teile umfasst das, was der verlöschende nonno Paolo seinem Enkel Nico mitgibt, fünf Manuskripte, die jene Ereignisse aus dem Jahr 1943 erzählen. Es ist – wie sich herausstellt – ein echtes Vermächtnis, über das Leser wie Enkel bis zum Ende nicht recht im Bilde sind. Die langsam sich anbahnende Auflösung vieler Fragen gehört wiederum zu den großen Stärken dieses ganz wunderbaren Romans.

[Rezensionsexemplar, daher Werbung]

David Hewson: Garten der Engel 
Aus dem Englischen von Birgit Salzmann
Folio Verlag 2023
Hardcover 394 Seiten
ISBN: 978-3-85256-876-8

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