Bücher mit Kindern in der Hauptrolle haben einen besonderen Charme. Sie gehen oft mit einer spezifischen Mischung aus Neugier, (Alt-)Klugheit und Naivität ans Werk, wenn sie etwa in die Rolle von Detektiven schlüpfen, um ein oder mehrere Verbrechen aufzuklären. So verhält es sich mit Jai und seinen Freunden, als in ihrem Viertel ein Kind spurlos verschwindet.
Jai ist Schüler und lebt in einem Armenviertel in einer indischen Stadt; er hält sich dank des Konsums von Polizei-Dokus für gerüstet, selbst den Tätern auf die Spur zu kommen. Für gewöhnlich würde man denken, die Polizei nähme sich dem verschwundenen Kind an, doch damit rührt man bereits an eines der tiefgreifenden Probleme, mit denen die Bewohner des Slums zu kämpfen haben.
Die Polizisten stellen für sie eher eine Bedrohung dar, über den notdürftig zusammengeschusterten Behausungen schwebt das Damoklesschwert einer Räumung. Um zu vermeiden, dass die Bagger oder Bulldozer kommen und rabiat das Wohnviertel dem Erdboden gleichmachen, müssen deren wirtschaftlich ohnehin am Abgrund balancierenden Bewohner Bestechungsgelder zahlen. Die Furcht, die Polizisten könnten ihr Anliegen zum Anlass nehmen, wütend zu werden und die Bagger rollen lassen, lässt die Betroffenen zögern – nur weitere Zuwendungen lassen die Behörden überhaupt zuhören.
Weitere Kinder verschwinden, woran auch Jai und seine Freundin Pari sowie Faiz mit ihren Nachforschungen nichts ändern können. Durch ihre Ermittlungen entsteht ein sehr lebendiges Bild von den (erbärmlichen) Lebensverhältnissen im Bhoot-Basar: Gewalt, (sexuelle) Übergriffe, allgegenwärtige Korruption, gehässiger Tratsch, mit dem die Ärmsten einander überhäufen, institutionelle Tatenlosigkeit und hanebüchener Aberglaube.
Über allem wabert der ewige Smog, der Hunger nagt in den Bäuchen der Kinder, während sich die Menschen bemühen, den Zudringlichkeiten zu widerstehen. Gerade weil Jai die Verhältnisse mit einer gnadenlosen Blauäugigkeit schildert und manchmal unbedachte Äußerungen tätigt, die jene Vorurteile, die er aufgeschnappt hat, widergeben, entsteht ein besonders eindrückliches Bild von den sozialen Umständen. Besonders finster wird es, wenn Sündenböcke gesucht – und dank religiöser Wahnhaftigkeit auch rasch gefunden werden.
Annappara Deepa hat ihre Detektive vom Bhoot-Basar noch aufgewertet, weil sie Abschnitte eingefügt hat, in denen die Verschwundenen zu Wort kommen, ihre tatsächlichen Motive und Anklänge ihres Schicksals vorstellen können. Mich hat dieser Roman sehr beeindruckt.
Anappara Deepa: Die Detektive vom Bhoot-Basar
aus dem Englischen von pocaio und Roberto de Hollanda
Rowohlt 2021
TB 400 Seiten
ISBN: 978-3-499-00085-0