Es ist nicht nur ein Roman über das Leiden in japanischer Kriegsgefangenschaft, aber das Leben und Sterben im Urwald bildet den Kern von allem. Cover: Piper. Bild mit Canva erstellt.

An einer Stelle fragt sich die Hauptfigur des Romans Der schmale Pfad durchs Hinterland, wer »das hier jemals begreifen« solle. »Das hier« meint das Überleben und Sterben in einem japanischen Kriegsgefangenenlager mitten im Dschungel, durch den eine strategisch wichtige Eisenbahn gebaut werden soll. Die Zwangsarbeit führt im Zusammenspiel mit Krankheit, Hunger und brutalen Misshandlungen zum Massensterben unter den Gefangenen.

Schon auf den ersten Seiten wird deutlich, dass die Darstellung der ungeheuerlichen Zustände in japanischen Kriegsgefangenenlagern zwar das Kernmotiv des preisgekrönten Romans ist, Autor Richard Flanagan aber erheblich mehr am Herzen liegt. Es entwickelt sich eine vielschichtige, zeitlich und räumlich multiperspektivische Erzählung mit vielen überraschenden Wendungen in dem falschen Leben des Protagonisten. Selbst dieser Satz greift eigentlich zu kurz.

Die Hauptfigur, der Militärarzt Dorrigo Evans, ist in den Jahren nach dem Krieg zum Helden stilisiert worden, beruflich erfolgreich, verheiratet mit einer schönen, treuen und loyalen Frau, aber unglücklich, nicht zuletzt, weil seine Liebe einer anderen gehört. Sein Leben basiert auf Lügen, Seitensprüngen, persönlichem Unglück und dem langen Schatten der Kriegsgefangenschaft.

Der schmale Pfad ins Hinterland führt den Leser tief hinein in das komplexe Gewirr existenzieller Fragen, auf die das Leben (und Sterben) der handelnden Personen in der Regel von Tragik umwitterte Antworten bereithalten.

Dorrigo wollte nicht zugeben, dass nichts in seinem Leben so viel Sinn gegeben hatte, wie der Tod.

Richard Flanagan: Der schmale Pfad durchs Hinterland

Flanagan erzählt seine Geschichte nicht chronologisch. Er montiert zeitlich und räumlich weit auseinanderliegende Szenen unmittelbar nacheinander. An einer Stelle wird über Seiten geschildert, wie die japanischen Wärter und ihre koreanischen Helfer einen Gefangenen über Stunden misshandeln. Die zum Zusehen gezwungenen Mitgefangenen versuchen, das grausame Geschehen nicht an sich heranzulassen.

Direkt im Anschluss springt die Erzählung um Jahrzehnte in die Zukunft und zeigt, wie das Erlebnis von Krieg und Gefangenschaft, von Grausamkeit, Folter und Tod in einem der Überlebenden auf verstörende Weise fortlebt, wie das Erinnerungsgespinst den Rahmen setzt für das Nachleben im Frieden. Es ist nur eine kurze Szene, die jedoch so eindrücklich belegt, dass Kriege nicht enden, wenn die Waffen schweigen.

Die Japaner waren Monster, sagte Dorrigo Evans, Sie haben ja keine Ahnung.

Richard Flanagan: Der schmale Pfad durchs Hinterland

Von den Brüchen und Niederlagen im Leben Dorrigos sowie dem tiefen Schatten seiner Persönlichkeit, erfährt der Leser bereits auf den ersten Seiten. Flanagan hat seinen Roman selbst vielfach zeitlich und örtlich gebrochen, zwischen den Abschnitten können Jahrzehnte und Zehntausende von Kilometern liegen, dennoch wirkt die Erzählung organisch, zusammenhängend und zu keinem Zeitpunkt zerrüttet oder konstruiert.

Zu seinen großen Stärken gehört, dass auch die japanische Seite zu Wort kommt. Die Weltsicht der japanischen Offiziere, der ihre Gefangenen verständnislos begegnen, entfaltet sich vor den Augen des Lesers in ihrer Fremdheit, wenn diese miteinander über die Notwendigkeiten ihres Handelns, den Dienst für den Kaiser sprechen oder die Geschehnisse aus ihrer Sicht geschildert werden.

Erfreulicherweise übergeht Flanagan die Koreaner nicht. Korea, jahrzehntelang eine japanische Kolonie, liefert Nachwuchs für die Armee – nicht zum Kämpfen, aber zum Bewachen der Kriegsgefangenen. Die Rekruten werden in den Dienst gezwungen und mit brutalster Härte gedrillt, was ihr eigenes Handeln beeinflusst.

Nach dem Krieg wurden Kriegsverbrechen verfolgt. Wie in Europa galt auch in Fernost: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Flanagan folgt den gewundenen Schicksalen einiger Lageroffiziere und ihrer Untergebenen in den Jahren nach 1945 – auch ein Gewinn für den europäischen Leser.

Es gab keine gesunden Männer mehr, nur noch die Kranken, die Schwerkranken und die Todgeweihten.

Richard Flanagan: Der schmale Pfad durchs Hinterland

Der Roman ist bei der Darstellung der Verhältnisse im Lager sprachlich wie inhaltlich schonungslos. Anders als etwa in dem Film Die Brücke am Kwai breitet Der schmale Pfad durchs Hinterland die schier unglaublichen Leiden der Kriegsgefangenen während der Zwangsarbeit im Urwald und der unmenschlichen Behandlung durch die Japaner nüchtern aus – für alberne heroische Handlungen ist hier kein Platz.

Die Figuren, die vor dem Auge des Lesers entstehen, erinnern an KZ-Häftlinge oder Zwangsarbeiter aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten. Flanagan erspart seinem Publikum nicht den Blick auf das Darben und Sterben, es ist die Vorhölle auf Erden, zwischen Erschöpfung, beißendem Hunger, Krankheit und Tod; Worte, die seltsam schal wirken, angesichts dessen, was geschildet wird.

In diesen Passagen wird auch klar, warum sich Dorrigo Evans nicht als Held empfindet. Zwar hat er oft in einem Sinne gehandelt, dem durchaus ein heldenhaften Charakter zugesprochen werden kann, aber  den Verhältnissen, dem grausamen Leiden und Sterben, der Folter und den Misshandlungen steht er hilflos gegenüber.

Er konnte sich weigern, dem Stellvertreter des Todes zu helfen, oder er konnte zu seinem Handlanger werden.

Richard Flanagan: Der schmale Pfad durchs Hinterland

In beklemmenden Szenen lässt Flanagan den Leser daran teilhaben, wie der Arzt vor fürchterlichen Entscheidungen steht, Zwangslagen aushalten muss, aus denen es kein Entkommen gibt. Er muss beispielsweise auf Befehl der japanischen Offiziere unter den Gefangenen eine bestimmte Anzahl Männer auswählen, etwa für den Arbeitseinsatz oder einen Todesmarsch durch den Dschungel.

Verweigert er sich, werden die Männer von den Japanern wahllos bestimmt, sie würden die Schwächsten und Anfälligsten auswählen und in den sicheren Tod führen – das spare dem Kaiser Reis. Hilft er, macht er sich zum Handlanger, auch wenn er in diesem Fall wenigstens die Möglichkeit hat, jene zu erwählen, die eine Chance haben, die Tortur zu überstehen.

Wer Stiefel hat, überlebt den Marsch durch den Dschungel eher, als jene, die mit bloßen Füßen durchkommen müssten. Das sind angesichts des körperlichen Zustands nur theoretische Erwägungen; auch für die, deren Füße in Stiefeln stecken, wartet auf dem Marsch durch den Dschungel nur der Tod.

Richard Flanagan: Der schmale Pfad durchs Hinterland
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Piper Verlag 2017
448 Seiten, Broschur
ISBN: 978-3-492-30999-8

Wer wissen will, wo und wie die »Bahnlinie des Todes« verlief, kann zum tollen Atlas Die Geschichte der Welt von Christian Grataloup greifen. Dort findet sich diese sehr anschauliche Karte. Die Kwai-Brücke ist auch eingezeichnet.