Unter dem Weihnachtsbaum lag sie: die Prachtausgabe des The Lord of the Rings von J.R.R. Tolkien. Sie ist wunderschön, allein die Haptik der gebundenen Bücher, das Papier, die Motive auf den Schutzumschlägen wie auch die Illustrationen innen. Eine wahre Pracht. The Hobbit ist als viertes Buch im Schuber auch mit dabei, den habe ich aber schon einmal auf Englisch gelesen. Also konnte ich gleich mit der Lektüre von The Lord of the Rings beginnen.
Mittlerweile lese ich Tolkien Opus Magnum »mehrstimmig«, es überlagern sich Bilder und Stimmen aus ganz verschiedenen Medien, die ich im Laufe der vergangenen vierzig Jahre zu Der Herr der Ringe gelesen, gesehen, gehört und gespielt habe. Alle begleiteten meine Lektüre von The Lord of the Rings und sorgten manchmal für ein kurioses Durcheinander in meiner Vorstellungswelt.
Am Anfang meines Lese-Weges mit dem einzigen Fantasy-Abenteuer, das ich wirklich mag, bildete Der Herr der Ringe in der Übersetzung von Margaret Carroux. Mit elf oder zwölf Jahren habe ich den Dreiteiler erstmals gelesen, danach immer wieder, sogar einmal laut vorgelesen (eines der schönsten Weihnachtgeschenke überhaupt). Jede Lektüre dieser deutschen Version des Ringkrieges ist so etwas wie eine Heimkehr gewesen.
»Fly, you fools!«
J.R.R. Tolkien: The Lord of the Rings
Die Filmtrilogie von Peter Jackson habe ich auch mehrfach gesehen, auf Deutsch und Englisch. Sie hat die stärksten Bilder hinterlassen, aber auch den meisten Ärger verursacht. Wann immer ich das Buch lese, wundere ich mich über die Veränderungen im Film, die dem Werk Tolkiens einen beträchtlichen Teil seiner Wirkung rauben. Warum? Um Arwen eine kleine, sinnfreie Nebenrolle zu gewähren? Für ein paar billige Show-Effekte? Ein schönes Beispiel dafür sind die Wurfmaschinen des Ork-Heeres: Bei Tage werden Steine, nachts Brandgeschosse auf Minas Tirith gefeuert.
Die schönsten Bilder Mittelerdes kenne ich aber aus einem Computerspiel: Der Herr der Ringe online. Mit meinem Hauptmann habe ich ein paar Jahre die Gegenden von Bree bis Bruchtal, von Forochel bis Pelagir unsicher gemacht. Lange ein großes Spektakel, bis das MMOG schließlich seinen Reiz verlor, ein Schicksal, das bislang noch jedes Spiel dieses Genres ereilte.
Aber die Landschaft! Unglaublich schön gestaltet. Auf der Wetterspitze habe ich mit meinem Avatar manchmal einfach nur so gestanden und in die Gegend geschaut und »mein« erster Ritt nach Minas Tirith bleibt unvergessen. Durch das Spiel habe ich während der Lektüre immer wieder das Gefühl gehabt, schon einmal selbst vor Ort gewesen zu sein. Das gilt vor allem für die wunderbaren Städte, aber auch Moria, Lothlorien, weniger für Fangorn, dessen uralt-boshafte Düsternis nicht einmal im Ansatz spürbar war.
Beim Lesen immer dabei: Historischer Atlas von Mittelerde von Karen Wynn Fonstad. Man kann auf den Karten die Wege der Gefährten, die Orte, die Schlachten usw. wunderbar verfolgen, für mich ein gesteigertes Vergnügen, nicht nur, weil ich generell gern einen Atlas hinzunehme, wenn ich einen Roman mit historischem Inhalt lese, sondern weil sich hier aus meiner Sicht eine der großen Stärken von The Lord of the Rings offenbart – das führte hier aber zu weit.
Don´t use it!
J.R.R. Tolkien: The Lord of the Rings
Meine erstmalige Lektüre der englischen Version fühlte sich insgesamt eher wie ein Erstlesen an, denn wie ein erneutes Lesen. Durch die englische Sprache wirkt das so vertraute Geschehen überraschend fremd, die Namen der Personen und Orte hingegen direkter und gleichzeitig in gewisser Hinsicht poetischer. Das mag Einbildung sein, hervorgerufen durch die häufigen Lektüren der deutschen Version.
Kurioserweise habe ich wieder einige inhaltliche Aspekte zum ersten Mal wahrgenommen. Das kann aber auch ein Irrtum sein, nicht ausgeschlossen, dass ich diese einfach vergessen habe. Da wäre die Anweisung Gandalfs an Frodo, den Ring unter keinen Umständen zu benutzen. Frodo kann dem drängenden Rat erstaunlich häufig trotzdem nicht widerstehen, als er auf dem Weg von Hobbingen nach Bruchtal ist.
Das bereitet natürlich das Ende am Schicksalsberg vor, dessen Gestaltung nach wie vor meine Begeisterung weckt, wie beim allerersten Lesen. Auch der Hobbit scheitert und ausgerechnet das Mitleid, die barmherzige Tat gegenüber Smeagol, dem verlogenen, niederträchtigen Gollum schafft die Voraussetzung, dass dieser gegen seinen Willen alles rettet. Dieser Kniff nötigt mir noch Jahrzehnte nach der Erstlektüre höchsten Respekt ab.
Aber das Scheitern des Helden auf seinem ersten Weg ist Teil des Lernprozesses, der überhaupt zum Erfolg der Gemeinschaft des Ringes oder der gerade noch abgewendeten Katastrophe bei den Rauros-Fällen beiträgt: Nur weil Frodo selbst erlebt hat, wie der Ring einen Hobbit seinen Willen aufzwingen kann, kann dieser – im Gegensatz zu Boromir – wirklich verstehen, dass Elrond recht hat. Nur darum kann er die Gefahr, die von dem Sohn Denethors, aber auch allen anderen der Gemeinschaft ausgeht, richtig einschätzen und die entsprechende Konsequenz daraus ziehen.
»Lord Smeagol? Gollum the Great? The Gollum!«
J.R.R. Tolkien: The Lord of the Rings
Die Charakterentwicklung nicht nur Frodos und Sams ist Teil des Spiels, das Tolkien mit seinen Lesern spielt. Es geht um Annahmen, Vorurteile, Grenzen des Einschätzungsvermögens, das Fallenstellen, gewollt und ungewollte (Ab-)Lenken der Aufmerksamkeit, Sichtlinien, hinter denen sich für den Gegner im Verborgenen liegende Dinge abspielen.
“Sicht” bezieht sich keineswegs nur auf das physischer Sehen, sondern das Vorstellungsvermögen, die Auslegung dessen, was man sieht. Sauron kann sich nicht einmal in seinen dunkelsten Träumen vorstellen, dass jemand den Ring vernichten wollte und ihn mit dem schwächsten denkbaren Wesen direkt in das Herz der Dunkelheit ziehen lässt. Auch für Saruman ist das undenkbar.
Sie haben ja auch nicht unrecht, wie sich am Beispiel Boromirs zeigt. Vielleicht hätte der Ring am Ende auch andere überwältigt, ganz sicher Denethor, der im Buch zwar nicht ein Zehntel so närrisch und einfältig auftritt, wie im Film, aber wie Sauron und Saruman auf dem Pfad der Macht wandelt.
But the only measure that he knows is desire, desire for power; and so he judges all hearts.
J.R.R. Tolkien: The Lord of the Rings
Als ich das Fantasy-Epos Der Herr der Ringe 1981/82 das erste Mal gelesen habe, war ich überwältigt. Das giftgrün gefasste Buch im gleichfarbigen Schuber war wie ein literarischer Komet, ein mächtiger Einschlag, der ein Beben auslöste, wie es kein einziger Roman des Genres danach auch nur ansatzweise vermochte. Allein der geniale Showdown, dem so wunderbar der Weg bereitet wird, macht Der Herr der Ringe zu etwas Besonderem.
Doch ist es eine Nebensächlichkeit, die seinerzeit ein Gefühl auslöste, an das ich mich beim x-ten Wiederlesen erinnere, genauer gesagt: nachempfinde. Eine Art Kaminfeuer-Wärme, wohlig und angenehm, als ich die entsprechende Stelle gelesen habe: Frodo im Gespräch mit Gloin in Bruchtal, beide sind freundlich, deuten an, verweigern zugleich, alles zu offenbaren, was den anderen interessiert, vertrösten einander auf später.
Das hat seinerzeit eine mächtige Welle an spannungsgeladener Vorfreude ausgelöst, denn natürlich wollte ich wissen, was hinter diesen kargen Worten steckte, hinter dem Vertrösten auf später; und ebenso natürlich galoppierte die Phantasie davon, ins Ungefähre, eine erwartungsvolle Jagd hinein in eine Welt voller Abenteuer. Und so ist es auch heute, auch wenn ich selbstverständlich im Detail weiß, was folgt, erzählt und verschwiegen wird.
Ich bin sicher, dass viele Leser des Der Herr der Ringe solche Stellen kennen, die zweifelsfrei nicht für andere in der individuellen Weise nachvollziehbar sind. Das gehört für mich zu den großen Qualitäten des Romans. Tolkien hat sein Werk auf einem derart gewaltigen Gedanken-Fundament errichtet, dessen Macht und Wirkung auf jeder Seite des Buchs spürbar ist. Das verleiht dem Geschehen Tiefe, während andere Bücher das bestenfalls vorschützen, was The Lord of the Rings tatsächlich verkörpert.
A Ring of Power looks after itself.
J.R.R. Tolkien: The Lord of the Rings
Es gibt Leser, die es nicht schaffen, das Buch durchzulesen. Sie verheddern sich in den kruden Erzählungen der ersten Seiten, in denen es um ein Fest geht – wenn bei Gegenwartsliteratur gewöhnlich die Leser durch irgendeine Actionszene gefangen werden, wird in The Lord of the Rings erst einmal Abseitiges verhandelt: ein Geburtstag. Ein besonderer Geburtstag eines absonderlichen Auenlandbewohners, aber eben nur ein Geburtstag.
Ganz gemächlich träufelt Tolkien in homöopathischen Dosen Gefahr in seine Geschichte, die sich immer wieder Auszeiten nimmt, Landschaften beschreibt, Gedichte und Lieder rezitiert, während gegessen, getrunken oder viel hobbitscher Unsinn geredet wird. In dem Rhythmus geht es weiter, dabei steigern sich die Gefahrendosen peu á peu; als die Hauptfigur erstmals wirklich bedroht ist, geschieht dies indirekt – über eine seltsam zischende Stimme.
Fast unbemerkt entfaltet die Erzählung das Geflecht paralleler Handlungen, von denen die Personen bestenfalls etwas ahnen oder einfach nichts wissen, aber die Auswirkungen dieser Taten zu spüren bekommen. Der Leser ahnt schon beim ersten Lesen, dass hinter den unverständlichen Dingen mehr steckt. Aber was? Statt die Spannung dann endlich in die Höhe zu treiben und aufzulösen, geht es zu der wohl seltsamsten Figur im ganzen Buch, Tom Bombadil, bei dem man sich immer fragt, was der wohl dort überhaupt zu suchen hat.
Tolkien nimmt sich in seinem Der Herr der Ringe erzählerische Freiheiten heraus, die im Verlagsbetrieb der Gegenwart schwerlich denkbar sind und mit ziemlicher Sicherheit abgeschliffen würden. Vielleicht würde der Roman damit »leichter« oder »angenehmer« zu lesen sein, aber ist das eigentlich ein Qualitätsmerkmal? Brei ist schließlich auch leichter essbar als ein Mehrgängemenü.
»And those who have no swords can still die upon them.«
J.R.R. Tolkien: The Lord of the Rings
Frappierend fand ich aber, wie viel in dem Buch über meine eigene Gegenwart erzählt wird. Das Zitat ist nur ein Beispiel von vielen, das eine brandaktuelle Frage berühren. Die allgemeine Lage, ein immer stärker drohender Krieg, das Verleugnen, die machtgesteuerten Doppelspiele, der Wille oder Unwille, den Kampf aufzunehmen, Verrat und Treue, das alles ist im The Lord of The Rings elementarer Bestandteil der Handlung und zugleich der Gegenwart Europas. Vielleicht auch seiner Zukunft.
J.R.R. Tolkien: The Hobbit & The Lord of the Rings Boxed Set: Illustrated edition
Illustrations by Alan Lee
Harper Collins 2020
Gebunden im Schuber 1601 Seiten
ISBN: 978-0008376109