
Vor einiger Zeit habe ich das Tagebuch eines Mannes beendet, der im 17. Jahrhundert in London lebte. Für gewöhnlich bezeichne ich so etwas als »Recherchelektüre«, was zunächst selbsterklärend erscheint. In diesem Fall wollte ich Impressionen eines Alltags in einer Großstadt erhalten, in der man nicht motorisiert und ebenso wenig mit einem Fahrrad unterwegs war.
Wichtig war mir, einen Eindruck der Fremdheit, des Trennenden zu bekommen. Tagebuchschreiber Samuel Pepys berichtet einiges, was dem Leser des beginnenden 21. Jahrhunderts völlig fremd ist. Manches mag man gar nicht glauben, doch hat Pepys problematische Aspekte seines Lebens, wie Korruption, Fremdgehen, Missbrauch mitso großer Offenheit notiert, dass es keinen Grund gibt, ihm Lügen zu unterstellen.
Aus der großen Masse an Impressionen werde ich nur sehr wenig tatsächlich in meinem Roman Opfergang – Piratenbrüder Band 7 konkret verwenden. Das Gelesene fließt eher indirekt ein, es bildet mit anderer Recherchelektüre ein Fundament, auf dem die fiktionale Geschichte mit ihren erdachten Figuren ruht. Es ist durchaus möglich, dass am Ende der Arbeit an Opfergang nichts wiederzufinden sein wird, was unmittelbar auf die Tagebücher von Pepys verweist.
Das ist gut so. Ein Roman ist ein fiktionales Werk, kein Sachbuch. Ich weiß, dass hierzulande gern die Frage gestellt wird, ob das Geschriebene in einem Historischen Roman denn stimme. Meine Antwort darauf lautet nein. Die Frage ist typisch für den Schulunterricht und hat mit Historiographie und Fiktion im Grunde genommen nichts zu tun. Geschichte »stimmt« nur in Teilen, der überwältigende Teil ist ein Konsens und gleichzeitige Infragestellungen dieser Übereinkunft.
Fiktion geht noch einen Schritt weiter und kreiert eine erzählte Geschichte mit erdachten Personen, deren Wurzeln in die Historiographie hineinreichen. Ich versuche mich von Geschichtsschreibung möglichst zu lösen, um die fiktionale Romanhandlung nicht zu sehr zu versachlichen. Ich mag keine Romane, die zu viel Sachwissen in den Vordergrund schieben, wie etwa See(kriegs)technik in den Hornblower-Büchern oder mannche Jugendbüchern, auf denen der Versuch geschichtlicher »Korrektheit« wie Mehltau liegt.
Ein anderes Problem ist, dass historisch überlieferte Dinge nicht glaubhaft wirken oder die Konventionen einen derart großen Wandel durchlaufen haben, dass Korrektheit schlichtweg Unlesbarkeit bedeuten würde. Das beginnt bei der Sprache, reicht über das Menschenbild und endet in der unangenehmen Erkenntnis, dass sich manche Dinge im Grunde nur wenig geändert haben, sondern die Verschleierung von Missständen geschickter geworden ist.
Im Mai ist mein jüngster Roman, Verräter – Piratenbrüder Band 6, erschienen. Es ist das große, dramatische Luftholen vor dem Schlussteil der Buchserie (Opfergang), der im kommenden Jahr erscheint. Für beide Bücher gilt das gerade Gesagte, wie auch für die anderen Teile der Buchserie um Joshua und Jeremiah.

Kurzbesprechung der Mai-Bücher
Was preise ich den Tag, an dem ich Tony Hillerman und seine Buchreihe um die Navajo-Police für mich entdeckt habe! Auch der achte Teil, Sprechende Götter, ist rundum gelungen. Ein Toter neben Bahngleisen gibt Rätsel auf. Wer ist dieser Mann? Wie kam er dorthin? Und natürlich: Warum wurde er getötet? Joe Leaphorn bemüht sich um Aufklärung, während Jim Chee in anderer Angelegenheit in den Fall verstrickt wird: Ein Möchtegern-Navajo namens Highhawk mit indianischem Blut und Aktivist versucht mit spektakulären öffentlichen Aktionen die Aufmerksamkeit auf tausende Gebeine lenken, die im Museum (statt bestattet) liegen. Im fernen Washington suchen die Polizisten nach Antworten und geraten an einen professionell tötenden Killer. Toll erzählt, wunderbares Timing, Humor, ein interessantes Thema und (politisch-kultureller) Kontext, keine nervtötenden Show-Effekte oder jähen Twists, ebensowenig Gewalt oder Sex als Deckmäntelchen für fehlende Inhalte. Mit einem Wort: ein großartiger Kriminalroman.
Raumfahrt gehört zu meinen Interessen seit der Kindheit. Unvergessen das bebilderte Buch, in dem das US-Space-Shuttle als das »Arbeitspferd der 80er Jahre« angepriesen wurde – es kam anders, wie so oft bei Prognosen. Die Space-Opera in Gestalt von Romanen und Filmen taten ein Übriges, das Thema war und ist für mich interessant. Da die 2020er Jahre in Bezug auf die Raumfahrt, insbesondere die bemannte, absehbar einen Wendepunkt markieren, kommt die Graphic Novel Aufbruch ins Weltall* von Arnaud Delalande und Eric Lambert gerade recht. Die hochdramatische Phase des Wettlaufs zum Mond zwischen den USA und der Sowjetunion nimmt einen prominenten Platz ein, doch werden auch die kriegerischen Ursprünge der Raumfahrt (V2) und die politischen Rahmenbedingungen erzählt. Auch Fiction bekommt einen – kleinen – Platz im Buch, das sich am Ende der immer vielfältigeren Gegenwart widmet. Zahlreiche Nationen und die EU, finanzkräftige Investoren und Startups befeuern den Fortschritt massiv und machen das Geschehen zugleich unübersichtlich.
Wann immer es um Nino Haratischwili und ihr voluminöses Romanwerk Das achte Leben (für Brilka) ging, wurde es für mich ein wenig schwierig. Zwar konnte ich ihrem Die Katze und der General so viel abgewinnen, dass ich ihn trotz der unübersehbaren Schwächen für lesenswert hielt, doch war ich gegenüber den Lobeshymnen gegenüber dem anderen Roman skeptisch. Zum Glück habe ich mich dennoch an die Lektüre gewagt und bin nicht enttäuscht worden. Episch angelegt eröffnet der Generationenroman gerade für deutsche Leser, die allzu sehr auf Russland fixiert sind, eine neue Perspektive. Ausgesprochen interessant und geschickt inszeniert werden die vielfältigen Lebenswege einer georgischen (na, wer weiß auf Anhieb, wo Georgien liegt?) mit der Geschichte des Russischen Zarenreiches, der Sowjetunion und schließlich des unabhängigen Georgiens erzählt. Auch wenn der Erzählung am Ende ein wenig die Spannkraft ausgeht, ist der Roman einfach großartig und gerade wegen seines Umfangs lesenswert. Der heimliche Star ist die Schokolade, ein Hauch magischer Realismus inmitten dieser brutalen, menschenverachtenden Knochenmühle des bolschewistisch-stalinistischen Alptraums.
Künstliche Intelligenz ist in aller Munde. Auch ich habe davon gehört, ein wenig die Plauderroboter ausprobiert und festgestellt, dass sie bei meinem eigenen Schreiben keine Rolle spielen werden. In Romanen, wie etwa Das große Spiel von Richard Powers spielt die KI / AI eine zentrale Rolle. Doch wie weit und tiefgreifend diese Technologie, die sich rasant fortentwickelt, das Leben verändern wird, ist mir erst durch das Buch Künstliche Intelligenz von Manfred Spitzer vor Augen geführt worden. Niemand kann sich dem entziehen. Die Tragweite mancher Entwicklungen ist mit dem Wort „dramatisch“ nicht annähernd erfasst, es braucht keine Super-KI wie in den Terminator-Filmen, um die Menschheit an den Rand des Abgrunds zu bringen; die negativen Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gesellschaft werden jetzt verursacht, befeuert durch grandioses Unwissen und darauf basierende Fehleinschätzungen. Gleichzeitig könnte KI eine Menge Positives bewirken. Könnte.
Die Tagebücher von Samuel Pepys sind von geradezu haarsträubender Offenherzigkeit. Das macht sie so lesenswert, so wertvoll. Die gravierende Unterschiede des Lebens vor fast vierhundert Jahren sind ebenso offenkundig wie bemerkenswerte Parallelen zur Gegenwart. Pepys versucht, seine Gelüste durch Gelübde in den Griff zu kriegen: Theater, Trinken, Frauen. Das gelingt manchmal einige Zeit, dann wiederum wird der Leser darüber informiert, wie er sich gehenlässt, viel Geld ausgibt, seine Frau betrügt und wegen allem ein fürchterlich schlechtes Gewissen hat. Korruption? Selbstverständlich! Pepys lebt und schreibt in den 1660er Jahren, unmittelbar nach der Cromwell-Zeit. Bewegte Jahre, kriegerische Auseinandersetzungen, der große Brand von London. Und doch sind es die Kleinigkeiten des Alltags, die Staunen machen. Man mag das oft gar nicht glauben, so grotesk klingt das Erzählte. Angesichts des Umfangs ist Das geheime Tagebuch ein langes Lese-Unterfangen, das denjenigen, der sich darauf einlässt, auf oft unterhaltende Weise in ein fremde und doch vertraute Welt führt.
Den Begriff Gulag kennt man, doch dürfte »Kolyma« vielen Zeitgenossen unbekannt sein. Es handelt sich um einen Fluss, fern im Osten Russlands, unwirtlich, kalt. Doch erzählt der Schriftsteller Warlam Schalamow in Durch den Schnee nicht von dem Fluss, sondern von einem Straflager, das bisweilen als das »brutalste« im generell menschenverachtenden und menschenvernichtenden Lagersystem unter Stalins Herrschaft bezeichnet wird. Der Untertitel ist neutral gehalten: Erzählungen aus Kolyma. Die kurzen Texte beleuchten schlaglichtartig das Vegetieren der Häftlinge in diesem Lager, das mit dem Leben wenig gemein hat. Die Impressionen und Reflexionen sind bedrückend und literarisch einfach ausgezeichnet. Dem Leser rückt das Grauen in einer klaren, unpathetischen Sprache näher, Schalamow führt auf diese Weise gekonnt vor, wie sich das angebliche (Arbeiter-)Paradies namens Sowjetunion als Hölle auf Erden realisierte. Es versteht sich von selbst, dass man nach einem Happy-End vergeblich sucht, unter Putin haben sich die nie ganz geschlossenen Tore der russländischen Verdammnis wieder weit geöffnet.
Das Buch hat mich bei einem Irrtum ertappt. Ich bin davon ausgegangen, mit einem Waffenverbot würde dem Problem der grotesk großen Opferzahl durch Schusswaffen in den USA ein Ende setzen. Theoretisch wäre das auch so, es ist reine Mathematik, dass mehr Waffen zu mehr Opfern führen. Praktisch wäre ein Waffenverbot keine Lösung, denn Millionen Amerikaner würden sich schlichtweg verweigern und dabei kräftig von Politik, Wirtschaft, Medien, Pressure- und Interessengruppen unterstützt. Exekutivorgane müssten das Verbot durchsetzen. Wie soll das bei 400 Millionen Schusswaffen funktionieren, wenn sich nur ein Teil ihrer Besitzer verweigern oder gar wehren? Paul Auster weist in seinem Buch Bloodbath Nation auf diesen Zusammenhang hin und zieht als Argumentationshilfe die unselige Prohibition heran. Es ist nicht die einzige unbequeme Sache in dieser Schrift, die angereichert ist durch zahlreiche, beklemmende, verstörende Fotos: ohne Waffen, Tote, Verletzte, Opfer, Täter – leere Orte des Verbrechens.
*Rezensionsexemplar