Alexander Preuße

Schriftsteller - Buchblogger

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Tony Hillerman: Gesang an die Geister

Das Bild im Hintergrund ist der Shiprock, eine beeindruckende Felsformation, die in Hillermans fabelhaften Kriminalroman um die Navajo-Police erwähnt wird. Cover Unionsverlag, Bild mit Canva erstellt.

Wenn die Erzählung schon recht weit fortgeschritten ist, wechselt die Erzählperspektive zu einem Mann namens Vaggan. Der Leser weiß bereits, dass dieser für die »Geldhaie« der »Mann fürs Grobe« ist. Man ahnt, was auf einen zukommt, und wird dennoch überrascht. Vaggan sitzt im Auto und hört Wagner, Götterdämmerung, denkt an Nietzsches Philosophie und liest ein Buch über die Navajo, während er auf den richtigen Zeitpunkt wartet, um zu seinem Opfer aufzubrechen.

Eine bemerkenswerte Persönlichkeit tritt mit Vaggan in die Handlung ein. Die Assoziationen beim Anblick des nächtlichen Los Angeles zeugen von seinem Glauben an die nahe Auslöschung der Zivilisation. Da der Roman in den 1980er Jahren geschrieben wurde, übernehmen das sowjetische Raketen, vorzugsweise mit Wasserstoff-Sprengköpfen, die alles und jeden vernichten. Vaggan hält das für eine Reinigung, sein Faible für Wagner und Nietzsche ist also ein Echo des UntergangsMythos’ der Nibelungen-Saga.

Heute würde man Vaggan als Prepper bezeichnen, er will auch einen Bunker nahe seines Hauses anlegen, um den Zusammenbruch der Zivilisation zu überleben. Sich in ein Raubtier zu verwandeln, in der neuen Welt zu den Siegern gehören. Auf die anderen, die »geborenen Verlierer«, schaut er verächtlich hinab. Diese Endzeit-Halluzinationen würden eine Welt heraufbeschwören, die Cormac McCarthy in seinem großen Roman Die Straße so intensiv beschrieben hat, dass Endzeit-Schwärmern die Lust an ihren Phantasien vergehen müsste.

Vaggan musse an das lumineszierende Licht der Südsee denken – und dann an das giftgrüne Phosphorlicht zerfallender Materie. […] Die ganze Zeit über schaute er hinunter auf das schlafende Los Angeles. Das letzte Aufglühen einer Zivilisation, dem Verfall bestimmt.

Tony Hillerman: Gesang an die Geister

Kurioserweise hält Vaggan ausgerechnet die Navajo für jene, die nicht zu den »geborenen Verlierern« zählen. Sie lebten mit der Welt im Einklang, wie er selbst, und akzeptierten den Tod als Teil des Lebens, während die »Verlierer« die Wahrheit verdrängten, im Angesicht der unerbittlichen Auslöschung kröchen, bettelten und jammerten. Die Figur würde angesichts ihrer Weltanschauung als Comic-Figur wohl den Schatten eines SS-Schergen werfen. Das personifizierte Böse. Die Biographie Vaggans ist jedoch sehr glaubwürdig gestaltet, was ihn umso bedrohlicher werden lässt.

Jim Chee von der Navajo-Police hätte zu dem Endzeit- und Untergangsgerede einiges zu sagen, vielleicht würde er auch einfach schweigen, denn an einen wie Vaggan wäre wohl jedes Wort verschwendet. Zum Zeitpunkt, da dieser menschenverachtende Grobian in die Handlung eintritt und sein blutiges Werk präzise, kalt und zielgerichtet erledigt, hält sich der Navajo-Officer in Los Angeles auf. Seine Ermittlungen sind schon fortgeschritten, mehrere Fälle haben sich miteinander verknüpft und einen Fingerzeig nach Westen in die schillernde Metropole gegeben.

Vaggans Auftritt ist der Wendepunkt in der Handlung, an dem die noch eher lokalen Ereignisse eine weitreichendere Bedeutung erlangen. Am Anfang steht ein Tötungsdelikt auf einem Parkplatz vor einer Münzwäscherei, das viele Fragen aufwirft und die Navajo-Police vor einige Rätsel stellt. Die Ermittlungen führen zunächst zu weiteren Unklarheiten, die wie in den Romanen Hillermans üblich mit den Riten und Gebräuchen der indianischen Gemeinschaft verknüpft sind.

Ein Toten-Hogan steht dabei im Mittelpunkt. Das ist eine Behausung, in der jemand verstorben ist, dessen Geist (chindi) dort fortan sein Unwesen treibt. Der chindi enthält das, was »unglückselig, zerrissen und böse« im Leben des Verstorbenen war. Betritt ein Navajo schutzlos den Hogan , kann alles auf ihn übergehen. Aus diesem Grund werden Sterbende gewöhnlich außerhalb des Hogans gebracht, damit der Geist des Toten entweichen kann. Die Diskrepanz zwischen dem, was eigentlich hätte getan werden sollen, und dem, was getan wurde, ist für Jim Chee zunächst ein Rätsel.

Der Hogan-Besitzer, Old Man Begay, ist nämlich ein Navajo, der das alles genau wissen müsste. Für den Rest der Handlung bleibt das beim Leser im Hinterkopf, die offene Frage, warum er so fahrlässig gehandelt hat, bleibt lange offen. Auch die Enkelin des Begays, ein siebzehnjähriges Mädchen namens Margaret Sosi, weiß darauf keine Antwort. Ein schönes Beispiel, wie es Hillerman gelingt, die kulturellen Eigenheiten der Navajo mit einem Kriminalfall zu verschmelzen. Für dessen Auflösung ist das Rätsel um den Toten-Hogan bedeutsam.

Das ist ein Fall vom FBI, keiner – ich wiederhole: keiner – für die Navajo-Police.

Tony Hillerman: Gesang an die Geister

In diesem Teil der Buchreihe verlässt Chee also das Navajo-Gebiet Richtung Los Angeles. Dort ist ein FBI-Agent namens Upchurch umgekommen, weil es einen Hinweis zu dem Todesfall vor der Münzwäscherei gibt, hat die Bundesbehörde ein gesteigerte Interesse an dem Mordfall, mit dem sich Chee befasst. Auch die gewöhnliche Polizei von LA ist involviert: Einer der Officer war mit Upchurch befreundet. Er weiß, dass dieser einer großen Sache auf der Spur war, sein Tod hat die Ermittlungen torpediert.

In der Person des Auftragskillers Vaggan und seinen Auftraggebern bündeln sich gewissermaßen die Ermittlungs-Interessen von FBI, Polizei von Los Angeles und auch Jim Chee. Der Navajo wird so mitten in eine Angelegenheit gezogen, die eigentlich ein bis zwei Nummern zu groß ist für ihn ist, und von der er eigentlich die Finger lassen sollte. Die Spannung schnellt in gleichem Maße in die Höhe und hält den Leser von Gesang an die Geister bis zum Ende in Atem.

Dafür sorgen mehrere recht abrupte Wendungen, von denen eine Jim Chee in eine bedrohliche Zwickmühle bringt. Waffenlos muss er Vaggan gegenübertreten, um diesen daran zu hindern, die von beiden gesuchte Margaret Sosi zu entführen. Da Chee keine Superkräfte besitzt, muss er zu einem anderen Kniff greifen, um den erfahrenen Vollstrecker von seiner Tat abzuhalten. Wie dieses Treffen verläuft, wird hier selbstverständlich nicht verraten.

Da hatte er nun endlich das fehlende Stück für sein Puzzle gefunden – und was kam raus? Wieder nur ein neues Rätsel.

Tony Hillerman: Gesang an die Geister

Stück für Stück setzt sich ein Bild zusammen, wie ein Puzzle. Einer der magischen Momente des Romans lässt den Leser miterleben, wie Chee versucht, das Rätsel endlich zu lösen. Über Seiten hinweg denkt der Officer über die Fragen und Antworten nach, die ihm die Ermittlungen beschert haben. Er wälzt seine Gedanken hin und her, hakt sich hier fest, gräbt dort nach, stellt Hypothesen auf, verwirft sie wieder. Ein Gang durch einen Irrgarten, während im Hintergrund ein ritueller Reinigungsgesang vollzogen wird. Das ist nicht nur atmosphärisch, sondern auch spannend, denn wie Chee möchte man doch endlich wissen, was warum geschah.

Weitere Bücher der Reihe um die Navajo-Police:
Tanzplatz der Toten
Blinde Augen
Zeugen der Nacht
Dunkle Winde
Stunde der Skinwalker

[Rezensionsexemplar]

Tony Hillerman: Gesang an die Geister
Aus dem Englischen von Klaus Fröbe
Nach dem Original durchgesehen und überarbeitet von Frank Schmitter
Ein Fall für die Navajo-Police 5
Unionsverlag 2023
Broschiert 272 Seiten
ISBN: 978-3-293-20957-2

Blogmonat September 2024

Diesmal gab es keine Enttäuschung, dafür zwei ganz heiße Kandidaten für meine Bücher des Jahres 2024. Cover beim jeweiligen Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Der gerade ausklingende Monat September war ein schönes Echo des Sommers. Die Zeit ausgedehnter Hitze-Wanderungen in der Umgebung ist vorüber, die einmalige Erfahrung, die damit verbunden ist, existiert nur noch als Erinnerung und Vorfreude auf das nächste Jahr. Ich kenne tatsächlich keine andere Form des Draußen-Seins mit so viel Raum für ausschweifende Gedanken.

Während der langen Wanderungen habe ich mir vorgenommen, mich auch in meiner alltäglichen Arbeit stärker von einigen Gewohnheiten abzukoppeln, insbesondere vom Konsum der so genannten »Sozialen Medien«. Die Beschäftigung mit den Beiträgen kostet viel Zeit, Aufmerksamkeit und Energie, ohne auch nur entfernt etwas dem Aufwand Angemessenes zurückzugeben.

Ein weiterer Grund für meine wachsende Distanz zu Social Media ist der Tod von Twitter. Die in einen Hass-Zombie verwandelte Plattform war mir in ihrer alten Form die angenehmste, Ersatz gibt es bislang nicht. Threads ist unerträglich, Instagram wegen des Algorithmus nervig, Mastodon seltsam und BlueSky noch nicht so weit, dass es ein Ersatz sein könnte.

Kurz habe ich erwogen, meine Aktivitäten ganz einzustellen, das aber verworfen. So fahre ich zunächst fort, dort über neue Beiträge auf meinem Blog zu informieren. Ab und zu schreibe ich auch einmal etwas oder gebe einen Kommentar ab. Ich nutze Zombie-Twitter noch als Informationsquelle, insbesondere zu Russlands Angriffs- und Vernichtungskrieg, die anderen Plattformen vor allem für Infos zum Thema Literatur.

Anregungen gibt es immer mal wieder, jüngstes Beispiel ist der historische Krimi Schwarzer Oktober von Robert Brack, auf den ich sonst gar nicht aufmerksam geworden wäre. Und da wäre mir schon etwas entgangen. Die Jagd nach Herzchen und Followern mache ich aber nicht mit. Wozu das alles?

Gleich zweimal habe ich im September eskapistische Literatur gelesen, einen Urban– und einen SteampunkFantasy-Roman. Beides war wirklich unterhaltsam, wenn auch nicht gerade hohe Literatur. Das kann man dagegen von Boston Teran und seinem historischen Thriller Gärten der Trauer durchaus behaupten. Eine Entdeckung und ein Top-Kandidat für meine »Bücher des Jahres 2024«. Ebenfalls gefiel mir Der Wintersoldat von David Mason.

Schwere und lohnende Kost sind die Tagebücher von Wilm Hosenfeld, der von 1939 bis Anfang 1945 in Warschau als Besatzungsoffizier der Wehrmacht tätig war. Die Widersprüchlichkeit und Ohnmacht des Menschen in einem totalen Umfeld werden überdeutlich. Polen ist auch Gegenstand eines weiteren Buches, das sich mit den acht Jahren der PiS-Herrschaft beschäftigt und auf ein generelles Dilemma verweist. Die Geisterfahrer von Klaus Bachmann stellt die Frage, ob man einen Staat mit undemokratischen Mittel demokratisieren kann.

Neues gibt es auch aus meiner Schreibstube. Der fünfte Band meiner Piratenbrüder-Buchserie ist am 20. September erschienen. Totenschiff ist ein hochspannender, turbulenter, wendungsreicher Teil geworden, geht es nach meinen Testlesern, auch das beste, was ich bis dahin geschrieben habe. Aktuell sitze ich am sechsten Band mit dem Titel Verräter, den ich für das Lektorat vorbereite. Das letzte große Luftholen vor dem Finale erscheint am 20. September 2025, das eBook kann bereits vorbestellt werden.

Die bisher erschienenen Teile meiner Buchserie um die Piratenbrüder Joshua und Jeremiah. Der sechste Teil erscheint am 20. September 2025.

Kurzbesprechung der September-Bücher

Der historische Agenten-Thriller Gärten der Trauer* von Boston Teran hat viele Facetten. Das Geschehen entwickelt sich schnörkellos mit stark ansteigender Spannung, hoher Dynamik und einer sich immer weiter zuspitzenden Dramatik. Aus den USA wird Special Agent John Lourdes ins Osmanische Reich entsandt, das sich 1915 im Krieg befindet. Lourdes ist auf geheimer Mission, es geht um Öl; auf seinem Weg wird er mit der barbarischen Auslöschung der Armenier konfrontiert und muss eine Entscheidung treffen. Sein Gegenspieler ist der deutsche Rittmeister Bodo Franke, der eine irreguläre Truppe aus Verbrechern führt. Eine dramatische Jagd durch ein Land, in dem ein Genozid verübt wird, mündet in einen apokalyptischen Showdown. Dank der Sprache und der vielfältigen Erzählweise ein wirklich ungewöhnlicher wie großartiger Roman, der erstmals auf Deutsch vorliegt. Eine Entdeckung!

Mit dem Roman Der Wintersoldat zieht der Leser in die blutigen Wirren des Ersten Weltkrieges. Ein junger Österreicher namens Lucius Krzelewski wird aus seinem Medizinstudium herausgerissen und geht als Sanitätsoffizier an die Front. Allein der Weg zu seinem Posten im Feldlazarett ist großartig erzählt, nicht zuletzt durch den bürokratischen Irrsinn, der zum Krieg gehört wie der grollende Donner der Geschütze. Der theoretisch außerordentlich begabte Mediziner in Spe macht eine dramatisch zu nennende Bekanntschaft mit der Realität in den Lazaretten – ohne die helfende Hand der Nonne Magarete wäre er (nebst unzähligen Verwundeten) verloren. Autor Daniel Mason schildert die erbarmungslose Ohnmacht ebenso intensiv wie jene Kampfhandlungen, in die Lucius zufällig gerät. Das Ende des Krieges ist kein Ende, wie Der Wintersoldat eindrücklich zeigt. Ein außergewöhnlicher Roman, der durchaus unterschiedlich wahrgenommen wird. Recht negativ fällt die Einschätzung bei Buch-Haltung aus, positiv dagegen bei Kaffeehaussitzer.

Endlich habe ich das ziemlich voluminöse Werk »Ich versuche jeden zu retten.« Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern gelesen. Wilm Hosenfeld ist eine hochspannende Person. Durchaus affin zur nationalsozialistischen Ideologie, empfänglich für deren Propaganda bis weit hinein in den Krieg, den er zunächst als durchaus gerechtfertigt erachtetet. Gleichzeitig ist er ablehnend gegenüber Antisemitismus und vor allem der grausamen und unmenschlichen Behandlung der polnischen Zivilbevölkerung eingestellt, obendrein schockiert über die Kenntnis vom Holocaust. Hosenfeld ist bekannt durch seine Rettung des polnischen Pianisten Szpilman, doch hat er während seiner Zeit in Warschau mehr Menschen geholfen und wagemutige Handlungen begangen. In den Briefen tritt ein zutiefst widersprüchlicher Mensch dem Leser entgegen, der jedoch seine Empathie gegenüber anderen Menschen bis zuletzt bewahrt hat.

Selten begebe ich mich auf das Feld der Fantasy, eigentlich nie in Gefilde abseits von High Fantasy. Dank eines Buchgeschenks habe ich erstmals einen Fantasy-Roman gelesen, der Drachen und Feuerwaffen, Magie und Technologie in einer Welt vereint. The Waking Fire von Anthony Ryan ist mein zweites Buch des Autors, dessen Lied des Blutes zu den wenigen Fantasy-Schmökern gehört, die mich nicht enttäuscht haben. Also habe ich mich frohgemut auf The Waking Fire eingelassen. Die Lektüre hat Spaß gemacht, trotz der gernretypischen Schwächen und des Settings, mit dem ich nicht allzu viel anzufangen weiß. Die Erzählung ist spannend, abwechslungs- und handlungsreich, viele Torheiten, die man bei anderen Vertretern des Fantasy-Genres findet, vermeidet Ryan. Unterhaltender Eskapismus, zudem eine gute Gelegenheit, einen Schmöker im Original zu lesen.

Ab und zu begebe ich mich ein Stück aus dieser Welt und betreibe literarischen Eskapismus. Ein Weg führt mich in das Genre der Urban Fantasy, deren Handlung merkwürdig oft in London angesiedelt ist. In Benedict Jackas Buchreihe um den Magier Alex Verus geht es auch um Politik, allerdings auf einem eher gestutzten Niveau, um die Handlung langfristig zu motivieren. Das gelingt in den ersten Bänden prächtig, so ist auch Der Meister von London sehr unterhaltsam. Die größte Stärke der Bücher liegt neben der Spannung allerdings in den Antagonismen und Widersprüchlichkeiten der Hauptfigur und seiner Mitstreiter, die auch schon mal zu Gegnern werden. Alles ohne allzu großes Drama, dafür flockig, spannend und wendungsreich erzählt.

Hierzulande geht die Geisterfahrt erst los, in Polen hat man diese – hoffentlich – schon hinter sich: Acht Jahre herrschte die PiS von Jarosław Kaczyński über das große Nachbarland, das in Deutschland bedauerlicherweise oft vernachlässigt wird. Autor Klaus Bachmann widmet sich in dem Buch Die Geisterfahrer der Herrschaft der PiS. Schon auf den ersten zwei, drei Dutzend Seiten wird dem Leser bewusst, wie dünn der demokratische Firnis sein kann. Denn die PiS hat die Macht auch durch gravierende Fehler ihrer Gegner errungen und im Eiltempo die Rechtsstaatlichkeit hinweggefegt. Zugleich wird klar, dass Widerstand oft aus Ecken kommt, die in der Öffentlichkeit und vielen Medien (möglicherweise mangels Kenntnis) gar keine Rolle spielen. Ohne die EU und etwa die Strafzahlungen sowie die hartnäckig fechtenden polnischen Richter wäre die PiS möglicherweise noch immer in Amt und Unwürden. Doch nach ihrem Abgang beginnen die Probleme erst, wie Bachmann zeigt: Demokratisierung mit undemokratischen Mitteln? Ein Dilemma. Sehr lesenswert.

Viel Milieu, wenig Krimi, hochpolitisch und sehr gelungen: So lässt sich der sehr schöne Roman Schwarzer Oktober  von Robert Brack auf den Punkt bringen. Die Handlung führt ins Jahr 1923, in dem Deutschland am Abgrund steht. Klara Schindlers Leben ist geprägt von großer Not, Menschen bringen sich aus Verzweiflung um, hungern und hegen namenlose Wut. Es  bahnt sich etwas an, Klara gerät in den Dunstkreis von Kommunisten, ist in deren orthodoxer Parteihierarchie und -ideologie aber ein Querschläger. Autor Brack lässt seine Hauptfigur Tagebuch führen, dehnt den Rahmen dankenswerterweise und sprengt ihn ganz, als der Aufstand in Barmbek losbricht. Und dann ist da immer noch der Schnitter, der sein tödliches Unwesen treibt.

*Rezensionsexemplar

Blog-Gestöber

Mein Wort des Monats: »Zeugen des Sofas«. Gefunden auf dem Blog von Christoph Brumme, dem deutschen Schriftsteller, der in der Ukraine lebt, und im Gegensatz zu vielen Daheimgebliebenen tatsächlich weiß, wovon er spricht: vom Krieg Russlands gegen das ukrainische Volk. Über den Kriegsbeginn hat er Tagebuch geführt, zum Teil mit beißender Ironie und Sarkasmus. Den hat er sich erhalten, wie das aktuelle Zitat zeigt:

»Ich genieße das Privileg, den Krieg mit eigenen Augen sehen zu können und meine Erkenntnisse und Erfahrungen mit den Erzählungen der Zeugen des Sofas und denen der ausländischen Tagesgäste vergleichen zu können.«

Christoph Brumme

Auf meiner Liste interessanter Bücher stand im Frühjahr auch Daniel Kehlmanns Essay über Leo Perutz. Leo wer? Perutz gilt als vergessener Autor. Als ich vor einigen Jahren seinen Roman Der schwedische Reiter in meiner Stammbuchhandlung erwarb, erfuhr ich, dass Perutz sehr selten gelesen werde. Bis dahin hatte ich den Namen zugegebenermaßen auch noch nie gehört, die Besprechung in einer Tageszeitung hatte mein Interesse geweckt. Und ja, es wäre mir einiges entgangen, denn Perutz ist ein großartiger Erzähler. Der Meister des jüngsten Tages ist so gut, dass sich selbst den Nähe zu Mystery inkauf genommen habe, was ich sonst konsequent meide. Perutz gehört zur Literatur von Weimar, entsprechend findet man auf dem Blog Literaturweimar etwas über ihn. Ob Kehlmanns Essay dem vergessenen Autor ein zweites Leben beschert? Zu wünschen wäre es.

Bei Buch-Haltung bin ich auf einen Beitrag zu einem Buch über Rom aufmerksam geworden. Rom – Stadt fürs Leben lautet der Titel des Werkes von Golo Maurer, der sich aus subjektiver Perspektive über das Leben in der Stadt auslässt. Mich hat das in zweierlei Hinsicht angesprochen. Einmal, weil ein eigener Besuch dort längst überfällig ist, zweitens wegen des Buches Die linke Hand des Papstes von Friedrich Christian Delius. Das habe ich zweimal gelesen, einmal vor Ort, denn um Rom geht es in dem schmalen Bändchen, in dem Delius scharfzüngig den Leser auf Entdeckungstour führt, die natürlich in die Politik ausgreift. Es wird wohl Zeit für eine dritte Lektüre, wieder vor Ort und diesmal mit einem Blog-Beitrag.

Mit Ulla Lenze verbindet ich den tollen Roman Der Empfänger, der mir außerordentlich gut gefallen hat. Ihr Roman Das Wohlbefinden ist thematisch nicht für mich interessant, was mir nicht zuletzt durch die schöne Besprechung bei literaturleuchtet deutlich geworden ist.

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Das Entsetzen über die deutsche Besatzungspolitik in Polen ergriff Hosenfeld bereits wenige Wochen nach dem militärischen Sieg. Dennoch brauchte es noch einige Zeit, ehe sich ganz vom Regime distanzierte und die heraufdämmernde Niederlage mit großer Klarheit kommen sah. Cover DVA, Bild mit Canva erstellt.

Das sind keine Menschen, nicht einmal Tiere, das sind Teufel. (28.12. 1943 über die SS, Gestapo)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Der Film Der Pianist von Roman Polanski hat den deutschen Hauptmann Wilm Hosenfeld bekannt gemacht. Der 2002 erschienene Streifen über den polnischen Pianisten und Komponisten Władysław Szpilman erzählt dessen Schicksal während der deutschen Okkupation Polens zwischen 1939 und 1944. Hosenfeld hat Szpilman das Leben gerettet, eine entscheidende, aber für den gesamten Weg des Verfolgten durch die schreckliche Zeit eben auch nur eine Episode.

Polanski hat den Fokus auf die Opfer gelegt, sein herausragender Film ist für mich noch erschütternder gewesen als Schindlers Liste von Steven Spielberg von 1993. Er ist in gewisser Hinsicht schlichter, geradliniger und stiller als das amerikanische Pendant, die völlige Unerbittlichkeit des Kriegsgeschehens und Besatzungsregimes wirkt unmittelbarer. Am Ende nennt der Film noch den Namen des Retters und sagt, man wisse nicht mehr über ihn als seinen Tod im sowjetischen Kriegsgefangenschaft.

Das Buch »Ich versuche jeden zu retten« zeigt, dass dies eine unkorrekte Information ist, was aber selbstverständlich völlig legitim ist: Polanskis Anliegen war wie gesagt das der Opfer, nicht das eines untypischen Deutschen. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen geben eine Menge über den Person namens Wilm Hosenfeld preis, ein spektakulärer Einblick in das Leben, Denken und Fühlen eines Mannes, der ebenso Teil der Nationalsozialistischen Welt war wie sich davon abhob. Die Widersprüchlichkeit ist atemberaubend, das zeigen auch nachfolgende Zitate:

Goebbels ist ein großartiger Volksredner. Er überzeugt […] (10.03.1936)

Oder warum wird keine öffentliche Abstimmung im ganzen Reich durchgeführt? Allgemeine, geheime, freie Wahl. (30.04.1936)

Die Partei arbeitet mit Lüge, Verdrehung und Verleumdung, und wo das nicht genügt, mit Terror. (05.05.1936)

Wieder ergreift mich das Erlebnis der großen Gemeinschaft, in das wir marschieren. Es ist wie im Krieg. (12.09.1936)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Die zeitliche Dichte der Äußerungen, die zugleich eine große Nähe und Distanz zum Regime ausdrücken, Bewunderung und offene Kritik, verblüfft. Die Forderung Hosenfelds nach Wahlen (zu der Frage der Schulform) sticht besonders heraus. Wie viele andere patriotisch gesinnte Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges mit konservativer Haltung war auch Hosenfeld gegen den Versailler Vertrag eingestellt und stand der Weimarer Republik bestenfalls reserviert gegenüber.

Sein schneller Eintritt in die SA, die positiven Äußerungen zu Hitlers Erfolgen auf internationaler Ebene und die Erleichterung über die Auflösung der Bestimmungen des Friedensvertrages, der auch von Hosenfeld als Diktat angesehen wurde, unterstreichen die Affinität zum NS-Regime. Ausgerechnet eine demokratisches Instrument zu fordern, wenn die Herrschenden etwas durchsetzen, was dem Tagebuchschreiber nicht passt, wirkt kurios.

Und doch ist es ein Fingerzeig, dass in diktatorischen Systemen Kritik an bestimmten Umständen nicht zu verwechseln ist mit grundlegender Kritik am System selbst. Im Gegenteil: Das zeitlich letzte Zitat zeigt, wie sehr sich Hosenfeld 1936 trotz recht scharfer Kritik an einer Maßnahme des Regimes als Teil der großen Gemeinschaft fühlt.

Der letzte Satz bezieht sich auf die Stimmung im Kaiserreich 1914, als es tatsächlich zu einer recht lange andauernden inneren Ruhe kam. Die Weimarer Republik galt dagegen als zerrissen, ein Kritik-Motiv, das die Nazis geschickt mit ihrer Volksgemeinschafts-Propaganda bedienten. In Kriegszeiten kommt Hosenfeld darauf oft mit kritischen Worten zurück.

Trotzdem zeigen einige von Hosenfelds Bemerkungen, wie wenig er tatsächlich Teil der »großen Gemeinschaft« war, sondern eher isoliert. Die Gemeinschaftsabende der SA und anderer Verbände ödeten ihn fürchterlich an, das Beifallsgebrüll, die Bierseligkeit und schulter- und sprücheklopfende Kameradschaft war ihm zuwider. Es wirkt, als wäre das Zitat vom September 1936, das Erleben einer »Gemeinschaft« nicht mehr als ein frommer Wunsch.

Die Juden haben nichts zu lachen, mich empört die rohe Behandlung. (16.09.1939)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Besonders schwere Irritationen ergaben sich für Hosenfeld, je weiter sich Hitlers Herrschaft etablierte und der Antisemitismus Teil der Lebensrealität wurde. Dem stand Hosenfeld ablehnend gegenüber, was auch für die rassistische Weltanschauung des Nationalsozialismus galt. Nach Kriegsausbruch wurde er in Polen Zeuge, wie Juden und die polnische Zivilbevölkerung misshandelt wurden, was ihn empörte und zu offenem Widerspruch herausforderte.

Besonders interessant sind die Passagen, in denen Hosenfeld von den Schwierigkeiten berichtet, die große Masse an gefangenen polnischen Soldaten halbwegs menschlich zu behandeln. Obgleich ihm daran lag, diese mit Nahrungsmitteln, Unterkünften, Medikamenten usw. zu versorgen und er alle Anstrengungen unternahm, war es im Chaos der ersten Tage faktisch unmöglich, das zu bewerkstelligen.

Natürlich ist Vorsicht geboten, aber Hosenfelds Haltung zu den Polen, auf die er mit einer gewissen paternalistischen und sehr deutschen Kultur-Überheblichkeit blickte, war geprägt von Achtung, Respekt und Menschlichkeit. Er meinte beispielsweise, die polnische Nation wäre verloren, das polnische Volk werde bestehen; ihm gefiel etwa die nationalstolze polnische Hilfskraft mit ihrer unverhohlenen Ablehnung gegenüber den Deutschen.

Wie gern bin ich Soldat gewesen, aber heute möchte ich den grauen Rock in Fetzen reißen. (10.11.1939)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass innerhalb einiger Monate die Stimmung Hosenfelds ins Negative kippte. Die Zustände im besetzten Polen, die Gewalttaten gegenüber der Zivilbevölkerung, die so genannten Umsiedlungen, die mitleidlos umgesetzt wurden und für großes Leid sorgten, haben ihn erschüttert. Aber Führerglaube und die Empfänglichkeit gegenüber der Propaganda blieben trotzdem!

Schon für die letzten Friedensmonate wirkt die Naivität Hosenfelds oft erstaunlich. Er ging der Propaganda buchstäblich auf den Leim. Ein Grund lag sicher in der Ablehnung des Versailler Vertrages, der die außenpolitischen Maßnahmen Hitlers als große Erfolge erscheinen ließ. Das öffnete der völlig falschen Ansicht, Hitler stehe zum Frieden, Tür und Tor. Noch drei Tage vor Kriegsausbruch dachte Hosenfeld, Hitler werde »jede Verhandlungsmöglichkeit ergreifen«.

Hosenfeld rechtfertigte den Krieg gegen Polen in einigen Schreiben. Auch als er bereits harsche Kritik am Besatzungsregime äußerte, stand er dem Krieg an sich und seinen propagandistisch orchestrierten Motiven aufgeschlossen gegenüber.

Das Leben des Soldaten Wilm Hosenfeld ist geprägt von seiner grundsätzlichen Offenheit gegenüber den Umständen und Menschen, seinem tiefen katholischen Glauben, der unstillbaren Sehnsucht nach seinem Zuhause, seiner Frau und seinen Kindern. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Briefe, auch die Unzufriedenheit mit seiner eigenen Situation und dem Versuch, sich irgendwie einzurichten.

Hitler hat selten eine so überzeugende Rede gehalten wie die vom 9. November. Er ist doch ein fabelhafter Mensch. (15. 11. 1940)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Hosenfeld war als Offizier – selbstverständlich – am Kriegsgeschehen und den außenpolitischen Aktivitäten in Europa interessiert. Er gab Kommentare ab, mit denen er zunächst oft völlig falsch lag. Das ist insofern sehr interessant, weil ein Zivilist wie Hermann Stresau in seinen Tagebüchern Als lebe man unter Vorbehalt neben einigen Irrtümern oft verblüffend stimmige Einschätzungen zu der Entwicklung abgab. Im Verlauf des Krieges wurden die Einschätzungen Hosenfelds viel realistischer, etwa 1942, als er die Chancen der neuen Ost-Offensive bemerkenswert illusionslos sah.

Die Kriegserklärung an die USA im Dezember wertete der Autor glockenklar als Menetekel für eine Niederlage Deutschlands. Er sprach von »Untergangsstimmung« und, dass er »in einer Ecke sitzen und die Wand anstieren« könne. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Begründung: Bei einer Einigkeit wie 1914 wäre es seiner Ansicht nach vielleicht möglich, zu bestehen; doch bestehe diese Einigkeit im NS-Deutschland nicht.

Verblüffend klar hob sich diese Meinung von der NS-Propaganda einer »Volksgemeinschaft« ab. Hosenfeld empfand diese angebliche Gemeinschaft nie , im Gegenteil machte er an vielen einzelnen Stellen klare Brüche aus. Wie das nachfolgende Zitat zeigt, übte er auf spektakuläre Weise Kritik am System, denn der Begriff »Abschaum« umfasst die Partei und ihre Gliederungen sowie sämtliche Formationen, die nicht an der Front kämpfen.

Amerika im Krieg mit der Achse. Die neue Welt hat den vorigen Krieg entschieden. Sie wird ihn auch diesesmal zu unserm Unglück entscheiden. […] Dieser Krieg ist für D[eutschland] eine gewaltige Gegenauslese: Die besten Männer bleiben auf dem Schlachtfeld, der Abschaum wird erhalten; damit wird das Gegenteil erreicht, was der Nationalsozialismus mit seiner Rassenlehre erreichen wollte. (Dezember 1941)

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

Nicht minder überraschend sind die zum Teil absurd naiv wirkenden Ansichten, etwa, dass die Geschichte »eben doch von einzelnen Genies gemacht« werde. Damit meinte er auch Hitler, obwohl Hosenfeld sehr genau wusste, was im Schatten dieses »Genies« an Verbrechen verübt wurde. Auschwitz war etwa im April 1942 bereits bekannt als »ein gefürchtetes Lager im Osten«, in dem die Gestapo die Menschen zu Tode quäle oder sie im Schnellverfahren in »Gaszellen« mit Gas töte.

Er wusste von den Foltermethoden, wusste von den vielen Unschuldigen, die dem ausgesetzt sind, wusste von der sinnlosen, kontraproduktiven Gewalt der Besatzungsmacht in Polen, mit der die Einheimischen immer stärker in den gewaltsamen Widerstand getrieben werden. In einem Tagebucheintrag am 17. April 1942 führte Hosenfeld eine Reihe von recht aktuellen Vorgängen in Warschau auf, die verdeutlichen, wie verheerend das alltägliche Wirken der Deutschen in Polen war.

Seine allgemein pessimistische Einschätzung gipfelte in einem hoffnungslosen Blick auf die militärische Lage, überhaupt erweist sich Hosenfeld zunehmend als realistisch, was die Kriegsaussichten anbelangt. Für den Leser erscheint es rätselhaft, warum Hosenfeld trotz derartiger Einsichten von Hitler als »Genie« spricht. Wenn dieser die Weltgeschichte bestimmte, wäre er eben für die von Hosenfeld beklagten Zustände verantwortlich und nicht nur der »Abschaum«, der sein Unwesen treibt. Auch dieser faktisch unauflösliche Widerspruch erscheint lehrreich.

Menschen sind widersprüchlich, inkonsequent und wechselhaft und möglicherweise gar nicht so hehr, wie oft dargestellt oder gewünscht. Hosenfeld war ein Schwärmer, ein Idealist, der seine in der osthessischen Provinz zusammengemaltes Bild an der harschen Realität zerschellen sah. Solche Wendungen vollziehen sich nur im Trivial-Roman bzw. -Film stringent, die historische (und gegenwärtige) Wirklichkeit ist anders, vielschichtiger, komplizierter, in sich durchaus gegenläufig.

Was hier in Warschau mit den Juden geschieht, das kannst du Dir nicht denken. Das ist, solange die Erde von Menschen bevölkert ist, sicher noch nicht dagewesen. Da verliert man jeden Glauben und jede Hoffnung. Wie tief sind wir gesunken. (1. August 1942 [Brief an die Ehefrau])

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten

An manchen Stellen beklagte sich Hosenfeld über sich selbst, seine Untätigkeit, seine Ohnmacht, seine fehlende Courage. So sehr er mit sich ins Gericht ging, so wenig traf das auf die Realitäten zu. Das belegt bereits seine 1944 erfolgte Rettungstat, die Szpilman vor dem Tod bewahrte. Doch das war keineswegs die einzige Tat in dieser Weise. Wie aus dem begleitenden Text zu sehen, nutzte Hosenfeld seine Tätigkeit als Sport-Offizier, um für verschiedene Polen eine Art Schutzraum zu schaffen, die sie vor der Verfolgung bewahrte.

Es versteht sich von selbst, dass Hosenfeld davon in seinen Aufzeichnungen nichts berichtete. Das gilt erst recht für die Briefe, die der Zensur unterlagen. Zum Glück gibt es andere Quellen für dieses Wirken. Die Aufzeichnungen und Briefe zeigen eher, wer der Mensch hinter diesen Taten war. Eine unheroische Person, die den Leser mit ihren Schwankungen, Depressionen, Schwärmereien und manchmal auch hochfliegendem Pathos vor einige Zumutungen stellt.

Diese Herausforderung ist allerdings das Spektakuläre an diesem Buch. Eine historische Person tritt dem Leser in einer ganz ungewohnten Mehrdimensionalität entgegen, ohne die verzerrenden Reduzierungen und Fokussierungen. Hosenfeld war kein »Retter« per Geburt, er wurde dazu, peu á peu und aus ganz verschiedenen, durchaus widersprüchlichen Quellen gespeist.

Hosenfelds Sterben in sowjetischer Kriegsgefangenschaft ist ebenso tragisch wie passend, der rettende Deutsche wird Opfer des Stalinismus, des zweiten, menschenverachtenden  Gewaltregimes des zwanzigsten Jahrhunderts. Sehr positiv an der Ausgabe sind die umfangreichen Anmerkungen, die auch Laien die Texte Hosenfelds verständlich machen, außerdem hilft der einführende Beitrag zum Leben, sich in der Fülle der Aufzeichnungen zurechtzufinden.

Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten
Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern
Hrsg. von Thomas Vogel
DVA 2004
Gebunden, 1.194 Seiten
ISBN: 978-3-42105776-1

Boston Teran: Gärten der Trauer

Der herausragende historische Thriller erzählt von einer geheimen Mission eines Special Agents im Osmanischen Reich, mitten im Ersten Weltkrieg. Spannend, dramatisch, atmosphärisch wie ein Abenteuerroman mit Szenen, die aus einem Western stammen könnten, widmet sich der Roman einem fürchterlichen Thema: dem Genozid an den Armeniern. Cover Elsinor, Bild mit Canva erstellt.

›Freiheit verlangt nach Widerstand.‹

Boston Teran: Gärten der Trauer

Wenn Heroen der fiktiven Geheimdienst-Welt wie James Bond oder Ethan Hunt zu ihren Missionen aufbrechen, wirken die dräuenden Gefahren nicht selten ein wenig konstruiert. So recht will man der Story nicht abnehmen, dass die ganze Welt bedroht ist und nur durch den Helden gerettet werden kann. Gleiches gilt für die Beweggründe der Gegenspieler, die mitunter etwas Banales und Vorgeschobenes haben. Schwülstige Pychospielchen übertünchen notdürftig den Mangel und am Ende, da ist alles gut.

Wenn Special Agent John Lourdes im Jahr 1915 aus den USA nach Europa aufbricht, ist gar nichts gut. Zu diesem Zeitpunkt tobte in der historischen Wirklichkeit ein Krieg, er war noch auf Europa beschränkt, weitete sich durch den Eintritt Italiens und des Osmanischen Reiches schon aus. Ein Brand auf Messers Schneide, der schließlich globale Ausmaße annehmen sollte und so lange loderte, dass die Verluste allzu gewaltig waren, um noch einen tragfähigen Frieden zu schließen.

Boston Teran hat den historischen Agenten-Thriller Gärten der Trauer in das Kriegsgeschehen eingeflochten. Konstruieren musste er weder Drama noch Drohung, dafür sorgten schon die Umstände. John Lourdes ist im Auftrag des State Departments unterwegs, sein Ziel ist das Osmanische Reich. Was er dort soll, bleibt zunächst einmal im Dunkeln. Schon bei seiner Ankunft wird er mit etwas konfrontiert, das die gesamte Handlung des Romans bestimmt: die Auslöschung der armenischen Bevölkerung durch die Türken.

Die Behandlung der armenischen Bevölkerung ist barbarisch und unmenschlich. John Lourdes wird Zeuge von ungeheurlichen Grausamkeiten, die im Roman schonungslos geschildert werden. Der Autor verzichtet auf jede Form von Weichzeichnung, aber auch darauf, die Armenier zu bloßen Opfern zu degradieren. Sie leisten Widerstand, wehren sich, wo immer sie können.

Franz Werfel hat in seinem großen Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh dem heldenhaften Versuch einer Gruppe Armenier, dem Tod zu entgehen, ein literarisches Denkmal gesetzt. Gärten der Trauer leistet das auch, auf eine andere Weise, dem Thriller-Genre entsprechend ist der Roman rasant und hochspannend erzählt. Zugleich weist er weit über den Genozid an den Armeniern hinaus, indem er diese Untaten an den Anfang einer neuen, Menschen und Völker verschlingenden Barbarei stellt.

Obwohl er die Bedeutung dessen, was er am Kai mitangesehen hatte, nicht vollständig erfassen und bewerten konnte, ahnte John Lourdes, dass die brutale Unmenschlichkeit dieser Geschehnisse von einer ganz neuen Schändlichkeit zeugte, wie sie die Welt bislang nicht kannte.

Boston Teran: Gärten der Trauer

Im ersten Moment wirkt es etwas befremdlich, wenn nicht etwa ein türkischer, sondern ein deutscher Offizier in die Handlung eintritt und sich als Gegenspieler von John Lourdes entpuppt. Doch ist die Anwesenheit von Rittmeister Bodo Franke keineswegs weit hergeholt, denn deutsche Truppen kämpften tatsächlich im Osmanischen Reich. Franke kommandiert eine halb irreguläre Truppe aus freigelassenen Verbrechern, die an die SS-Sondereinheit Dirlewanger erinnert.

Vor allem aber lässt die Wortwahl des Deutschen keinen Zweifel daran, dass alles in dunkle Zukunft des nahenden Verhängnisses verweist: Franke korrigiert das Wort »Ausrottung« durch »Umsiedlung«, jene verbale Verschleierung der Massentötungen im Vernichtungskrieg des Hitlerreiches. Das ist kein Zufall, an anderer Stelle ist von »Endlösung« die Rede. Der Genozid an den Armeniern ist Teil von etwas Größerem, des späteren Zivilisationsbruchs, der ausgerechnet von den hochkultivierten Deutschen begangen wurde.

›Reden können Sie ja gut‹, sagte Rittmeister Franke.
Miss Temple deutet auf eine Tisch, an dem zwei weitere deutsche Offiziere saßen, gemeinsam mit drei Angehörigen des türkischen Militärs, die der Geheimorganisation angehörten.
›Sie und diese Männer haben über die Ausrottung …‹
›… Umsiedlung der armenischen Volksgruppe innerhalb des osmanischen Staatsgebiets.‹
›Warum sind die Deutschen eigentlich hier? Zum Beaufsichtigen …?‹
›Um die Souveränität der osmanischen Regierung gegen internationale Agitatoren und ausländische Agressoren zu verteidigen.[…]‹

Boston Teran: Gärten der Trauer

Boston Teran hat seinem Roman den Charakter eines Agenten-Thrillers gegeben, Dynamik und Spannung wachsen, je weiter sich Special Agent John Lourdes in das Land hineinbegibt und in das Geschehen verwickelt wird. Angesichts des Krieges handelt es sich bei seinem Auftrag um eine verdeckte Geheimoperation. Diese dient erklärtermaßen nicht dem Ziel, die Armenier oder andere Völker zu befreien oder vor dem massenhaften Tod zu bewahren. Es geht um die Kontrolle über die reichhaltigen Ölvorkommen im Zweistromland (Basra) und am Kaspischen Meer (Baku).

Lourdes Auftrag und die geostrategischen Interessen der Auftraggeber kollidieren mit moralischen Erwägungen. Der Special-Agent steht vor der Wahl, seine Entscheidung geht auf seine eigene Herkunft zurück, wird aber auch durch die schockierenden Erlebnisse und Bekanntschaften mit Armeniern und ihren westlichen Unterstützern motiviert. Da wäre jene Aktivistin Alev Temple, die sich in exponierter Weise für die Verfolgten und Gejagten engagiert, vor allem dafür sorgt, dass die Vernichtung eines ganzen Volkes nicht im Nebel des Krieges verborgen bleibt.

Mit diesen Aspekten verweist der Roman auf eine Entwicklung, die bis in die Gegenwart reicht und vermutlich auch die Zukunft bestimmen wird. Moral und Interesse werden weiterhin kollidieren, die Versuche, Schandtaten zu verbergen, gibt es immer noch, auch wenn sie eine andere Gestalt angenommen haben. Aktivisten und Journalisten mit Mut und Courage können dagegen angehen oder sich zum Sprachrohr von Propaganda und Desinformation machen.

Doch weist Gärten der Trauer auch in die Vergangenheit. An einigen Stellen schimmert eine gewisse Zeitlosigkeit durch, außerdem werden die tiefen Wurzeln der Gegenwart sichtbar, wie das schöne Zitat zeigt. An einer anderen Stelle ist von »Straßen und Gassen dieser zeitlosen Welt« die Rede, ein Aquädukt bezeugt die schöpferische Hochkultur der Römer und als Lourdes den Tigris erreicht, ist ihm bewusst, an der Wiege der menschlichen Zivilisation zu stehen.

Seit den Tagen der Seleukiden und Parther kreuzten sich hier die Wege der Gewalt.

Boston Teran: Gärten der Trauer

Boston Teran ist das Kunststück geglückt, sein Thema in das Gewand eines hochspannenden, dramatischen, wendungsreichen Thrillers zu kleiden. Manchmal erinnern Szenen an Western, wenn etwa eine Befreiungsaktion unternommen wird. Die Atmosphäre gemahnt an einen Abenteuerroman mit Niveau. Wie es sich für einen Thriller gehört, mündet die Handlung in einen furiosen Showdown, der in diesem Fall sehr passend apokalyptische Züge trägt. Chapeau!

Abgerundet wird der großartige Roman von einem sehr informativen Nachwort von Martin Compart, der auch die Klassiker-Reihe des Elsinor-Verlages mit seinen einordnenden Worten bereichert. Lange Passagen mit Äußerungen des Autors sind sehr aufschlussreich über die Motivation zur Auseinandersetzung mit diesem ungewöhnliche Thema im Rahmen eines Thrillers. Auch über Boston Teran selbst erfährt der Leser eine Menge, denn wer das eigentlich ist, liegt noch im Nebel des Pseudonyms verborgen.

[Rezensionsexemplar]

Boston Teran: Gärten der Trauer
Aus dem Englischen von Jakob Vandenberg
Herausgegeben von Martin Compart
Elsinor Verlag 2024
Klappenbroschur 244 Seiten
ISBN 978-3-942788-78-6

Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer

Mit der Wahl im Jahr 2023 endete die Geisterfahrt Polens unter der PiS. Deren Risiken und Nebenwirkungen reichen weit über den Wahltermin hinaus. Die Rückkehr zur Demokratie ist nämlich alles andere als einfach. Cover edition.fotoTAPETA, Bild mit Canva erstellt.

»Das ist nicht Polen.«

Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer

Polen wird hierzulande gern ein wenig unterschätzt, keineswegs nur von den zahlreichen offenen und verdeckten Russland-Freunden, die in verhängnisvoller Tradition allzu leichtfertig über die Staaten Osteuropas hinwegschauen. Dabei ist Polen wirtschaftlich viel bedeutender als etwa Russland, zuletzt übertraf das deutsche Exportvolumen in unser Nachbarland das Richtung China. Grund genug also, einen genaueren Blick auf unseren östlichen Nachbarn zu werfen.

Acht Jahre bestimmte die PiS unter dem autoritären Regime von Jaroslaw Kaczyński die Geschicke der polnischen Politik. Geprägt war die Zeit von Berichten von lautem Reparationsgetrommel Richtung Deutschland und der Neigung, wie Ungarns Victor Orban eine antidemokratische, antipluralistische und antieuropäische Politik zu betreiben. Gelegentlich wurde in größeren Zeitungen von den Entwicklungen berichtet, doch zeigt das Buch von Klaus Bachmann wieder einmal, dass Medienberichte oft nur an der Oberfläche kratzen.

Schon der Titel Die Geisterfahrer gibt die Marschrichtung vor. Autor Bachmann hat erklärtermaßen ein subjektives Buch über die PiS-Jahre verfasst, denn die Schilderungen basieren auf eigener Anschauung. Die sieht die PiS-Partei und ihre ausführenden Macht-Menschen als im Kern bemerkenswert unfähig an. Der Grund ihres Scheiterns lag letztlich auch darin, dass zwischen pompöser, aggressiver Rhetorik und Repression und den sich immer weiter davon entfernenden Realitäten eine allzu große Lücke klaffte.

PiS, die Partei, die stets geschworen hatte, die polnische Bevölkerung vor illegaler Einwanderung zu bewahren, hatte diese selbst organisiert, und, das war der unbewiesene Verdacht dahinter, daran sogar noch verdient.

Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer

Da wäre etwa die Migrationspolitik, ein Thema, das auch in Deutschland ein Dauerbrenner ist und weidlich von interessierten Kreisen genutzt wird, um Stimmung zu machen. Das hat auch die PiS getan, etwa um die gezielt als Waffe eingesetzten Flüchtlinge aus Belarus (und später Russland) abzuwehren. Nach außen setzte man auf Brutalität, in der Realität wurden die Flüchtlinge oft nach Westen durchgelassen.

Während offen gehetzt wurde, gelangte gleichzeitig »eine in die Hunderttausende gehende Zahl von Arbeitsmigranten aus aller Welt nach Polen«, um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen. Die mittels hoher Schmiergelder an Visa gelangten Personen hatten Zutritt zum Schengenraum. Daraus lässt sich einiges ableiten, etwa eine große Skepsis, wenn Parteien in anderen europäischen Ländern mit hohem Arbeitskräftemangel massiv gegen Migration wettern.

Es ist schon bemerkenswert, wie sehr es der Regierung unter der Zuchtrute Kaczyńskis gelungen war, ihre Gegner zu mobilisieren. Das zeigte schon die gewaltige Wahlbeteiligung. Zwar hatte die PiS durch verschiedene Maßnahmen, etwa durch ein zur Wahl parallel anberaumtes Referendum, versucht, die eigenen Leute zu in die Wahllokale zu bekommen. Gleichzeitig wurde die Opposition behindert, doch hatten Korruption, Vetternwirtschaft, groteske Propaganda und nicht zuletzt der gravierende Missgriff in der Abtreibungsfrage die Gegner in Scharen zu den Wahlurnen getrieben.

Besonders wertvoll ist die Darstellung von dem, was nach der Wahl kam. Mit Präsident Duda saß die PiS noch mit an den Schalthebeln der Macht, auch wenn die Parlamentsmehrheit vergangen war. Das reichte für eine weitere groteske Komödie, eine Hängepartie, die den Antritt einer neuen Regierung unter Donald Tusk verzögerte. Doch das war nur ein Präludium zu dem, was Bachmann als grundlegendes Dilemma identifizierte.

Wie macht man ein Land wieder demokratisch, ohne gegen demokratische Prinzipien zu verstoßen?

Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer

Polen ist nach der Herrschaft der Geisterfahrer auch in diesem Punkt ein Vorreiter in Europa, denn dieses Dilemma habe es laut Bachmann „in Europa seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben“, könnte es „aber bald wieder geben“. Natürlich denkt man zuerst an Ungarn, aber auch hierzulande sind jenseits AfD und BSW Politiker in anderen Parteien weit auf das Territorium antidemokratischer Rhetorik eingeschwenkt, die auf verhängnisvolle Weise an jene „Lügenkaskaden“ erinnern, die Anne Applebaum als einen wesentlichen Faktor bei der Aushöhlung einer freiheitlichen Ordnung identifiziert hat.

Das Problem ist, dass eine neue, demokratische Regierung wie die von Donald Tusk in Polen nur dann etwas ändern kann, wenn sie auf die von der PiS etablierten autoritären Machtmechaniken zurückgreift. Damit besteht die Gefahr, ein wenig wie sie selbst zu werden. Selbst lupenreine Demokraten können dank der Umstände den Autokraten ähnlicher werden, als ihnen selbst lieb ist. Ganz davon abgesehen, dass Machtmenschen wie alle anderen nie jene Widerständigkeit gegenüber den Verlockungen haben, die nötig wäre, um sich nicht korrumpieren zu lassen.

Demnächst wird es wohl noch ein weiteres Land mit Alleinstellungsmerkmal geben: Polen als der Staat, dessen Eliten versuchen, ihn mit undemokratischen Mitteln zu demokratisieren.

Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer

So ist Die Geisterfahrer eben auch ein Buch, das dazu auffordert, Polen im Blick zu behalten. Sollte Bachmann recht haben, wäre das ein Menetekel für Russland, das sich in der Putin-Zeit zu einer repressive Diktatur verwandelt hat, dessen offen menschenverachtendes Regime sich noch viel weniger demokratisieren lässt. Dort gibt es nicht einmal eine Opposition, die ihren Namen verdient hätte, geschweige denn Eliten, denen westliche Werte etwas bedeuten.

Zugleich zeigt es aber auch, wie gefährlich das Geschwätz ist, das behauptet, Autoritäre würde man bloßstellen können, man solle sie sich an der Macht selbst entzaubern lassen. Es gibt genug Beispiele, die das Gegenteil belegen. Einer davon ist die PiS, die immer Sündenböcke für eigenes Scheitern fand, auf die bequem jede Verantwortung abgewälzt werden konnte. Das ist eine der Warnungen, die von den Geisterfahrern aus Polen ausgeht. Wer schon in der Opposition nach Sündenböcken sucht und die tatsächlichen Probleme verschweigt, wird das in der Regierung nicht anders handhaben.

Klaus Bachmann: Die Geisterfahrer
Polen und acht Jahre PiS
edition.fotoTAPETA_Flugschrift 2024
Broschiert 116 Seiten
ISBN: 978-3-949-262-39-5

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