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Schlagwort: Genozid

Christoph Brumme: Im Schatten des Krieges

Ein Tagebuch aus der Ukraine, verfasst von einem Deutschen, der dort schon sehr lange lebt und – anders als viele selbst ernannte Friedens-Freunde hierzulande – weiß, wovon er redet. Cover Hirzel Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Wie wertvoll Tagebuchaufzeichnungen sind, die von den Betroffenen selbst verfasst werden, zeigt sich an Serhij Zhadan oder Julia Solska; im Falle von Christoph Brumme kommt noch hinzu, dass er Deutscher ist und in der Ukraine lebt. Seit vielen Jahren ist er in Poltava ansässig, das nicht allzu weit von der Grenze zwischen Russland und der Ukraine entfernt liegt.

Da er in Ostdeutschland aufgewachsen ist und sich nicht in eine wie auch immer gefärbte Ostalgie geflüchtet hat, sind seine Äußerungen von einer Klarheit, dass manchem selbstgefälligen Zeitgenossen der Atem stockt. In seinem Buch Im Schatten des Krieges gibt es viele solcher Passagen, die ganz besonders den Leser in Deutschland schmerzen dürften.

Brumme beginnt sein Tagebuch im Januar 2022, also bildet die Wochen unmittelbar vor dem Angriff Russlands ab. Man spürt die Unsicherheit der Menschen vor Ort, das Abwiegeln, das Sich-Selbst-in-Sicherheit-Wiegen – was alles mit einem Streich am 24. Februar 2022 hinweggefegt wird. Hellsichtig und offen gibt Brumme wieder, was ihm in den Kriegstagen bis April widerfährt, was er erlebt, sieht, hört, reflektiert und analysiert.

Vieles davon möchte man vielleicht gar nicht hören, sie lassen die Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges dahinwelken. Dafür sind solche Passagen von enormer Wichtigkeit, denn sie erweitern die eigene, allein durch die Distanz beengte Sichtweise. So wird in den (Sozialen) Medien gelegentlich auf die immensen russischen Verluste hingewiesen und als Maßstab der mehr als zehn Jahre währende Krieg in Afghanistan herangezogen. Brumme meint, dieser Vergleich hinke gewaltig, denn:

Die sowjetischer Bevölkerung hat diesen Krieg nicht unterstützt, die russische den jetzigen schon.

Christoph Brumme: Im Schatten des Krieges

Überhaupt sind viele Beobachtungen und Meinungen oft sehr unbequem. Zwölf Jahre Krieg sieht Brumme voraus, denn beide Kontrahenten kämpften ums Überleben. Die Ukraine stehe einer unübersehbaren russischen Vernichtungsabsicht gegenüber, Russland würde eine Niederlage mit dramatischen Folgen bezahlen, eventuell mit dem Ende der aktuellen Staatlichkeit.

Zwölf oder weniger Jahre: Der Krieg wird dauern; ob es uns hier im Westen passt oder nicht. Wir müssen entscheiden, wie wir dazu stehen. Wie wir uns stellen müssen? Das ist angesichts unserer historischen Vermächtnisses eigentlich keine Frage – das macht eine Begegnung des Autors mit einer in Poltava ansässigen Bürgerin jüdischen Glaubens deutlich.

Es ist ein Beweis für eine Zeitenwende, dass eine Jüdin zusammen mit einem Deutschen auf den Sieg gegen die russischen Aggressoren trinkt.

Christoph Brumme: Im Schatten des Krieges

So ist es.

Christoph Brumme: Im Schatten des Krieges.
Hirzel Verlag 2022
Kart. 112 Seiten
ISBN: 978-3-7776-3310-7

Serhij Zhadan: Himmel über Charkiw

Spätestens beim Besuch Annalena Baerbocks in Charkiw dürfte hierzulande klargeworden sein, dass es sich um eine Frontstadt handelt. Über das Leben in den ersten Kriegsmonaten berichtet der ukrainische Auto in zahlreichen Impressionen. Cover Suhrkamp, Bild mit Canva erstellt.

Mit wuchtigem Pathos zieht der Autor Serhij Zhadan am Tag eins des russischen Vernichtungskrieges gegen die Ukraine ins Feld der Sozialen Medien:

„Freunde, vergesst nicht: Dies ist ein Vernichtungskrieg und wir haben nicht das Recht, ihn zu verlieren. Wir müssen ihn gewinnen.“
Serhij Zhadan am 24. Februar 2022.

Serhij Zhadan: Himmel über Charkiw

Ein Tagebuch ist eine Art Resonanzboden, der wiedergibt, was von den großen Ereignissen, den politischen, wirtschaftlichen oder natürlichen beim Einzelnen ankommt und wie er oder sie das verarbeitet. Schon das Zitat zeigt eine ungeheure Entschlossenheit angesichts des russischen Angriffskrieges und eine hellsichtige Klarheit, die man hierzulande so lange vermisst hat.

Mit dieser Klarheit wird gerade Deutschland einige Wochen später ein Spiegel vorgehalten, Zhadans Worte sind sehr unangenehm, aus meiner Sicht aber völlig angemessen. Leider werden sie von jenen, die sie betreffen, nie gelesen werden. Ebensowenig die übrigen Impressionen aus dem Augenblick heraus, die einen unmittelbaren Eindruck verschaffen, wie es sich in einer Frontstadt lebt.

Nach Butscha verändert sich der Tonfall, er wird ernster, düsterer. Die Appelle an den Westen klingen dringend: Waffen! Waffen, um Leben zu retten, denn den Russen ist es ernst mit der Vernichtung von Staat und Volk. Die Massaker an Zivilisten, die riesige Zahl an Kriegsverbrechen und gravierenden Menschenrechtsbrüchen lassen keinen Raum für Zweifel – auch nicht an der Berechtigung, Waffenlieferungen zu fordern.

Beeindruckend auch, wie sehr sich Zhadan um Kultur, Bildung und Soziales Gedanken macht. Es klingt so lakonisch, wenn er immer wieder von Beschuss durch Raketen spricht; ja, es ist in Charkiw Alltag, trotzdem ist es keine Kleinigkeit, wie man ja auch beim Besuch Annalena Baerbocks in der Stadt gesehen hat. Und trotzdem diese energiegeladene Empathie!

Gern würde ich wissen, was Zhadan jetzt denkt, ob und was sich verändert hat; der Blick für die Dinge und die Fähigkeit, diese in Worte zu fassen, hat mich schon bei seinem brillanten Roman Internat beeindruckt. Leider sprengt die Weiterführung des Tagebuchs die Grenzen eines Buches.

„Der Himmel über Charkiw ist heute tief und aufmerksam wie ein Auge.“

Serhij Zhadan: Himmel über Charkiw

Himmel über Charkiw ist ein Motiv, das Zhadan immer wieder aufgreift, wie auch jenes, dass die ukrainische Fahne über der Stadt weht. Mögen sie das bald auf der Krim, in Mariopol und allen Orten von Luhansk und Donezk.

Serhij Zhadan: Himmel über Charkiw
Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr, Juri Durkot und Claudia Dathe
Suhrkamp 2022
Fester Einband 239 Seiten
ISBN: 978-3-518-43125-2

Hasan Hasanović: Srebrenica überleben

Eine kurzes, sehr eindrückliches Buch über ein wichtiges Thema: Mit Srebrenica begann aus meiner Sicht das blutig 21. Jahrhundert. Cover Wallstein, Bild mit Canva erstellt.

Ein kurzes Büchlein nur, doch ein wichtiges. Srebrenica ist eine Stadt in Bosnien-Herzegowina, die stellvertretend steht für den Genozid serbischer Milizen an der muslimischen Volksgruppe des Landes. Mit Srebrenica hat das blutige 21. Jahrhundert begonnen und das von Auschwitz befeuerte »Nie Wieder« sein jähes Ende genommen. Wir haben es nur nicht gemerkt.

Hasan Hasanović hat überlebt. Sein Bericht Srebrenica überleben hebt an mit einem kurzen Abriss von Kindheitserinnerungen, geprägt von eher ärmlichen, aber durchaus glücklichen Jahren. Der Krieg, der hierzulande eher als nebulöses Hauen und Stechen fern auf dem Balkan wahrgenommen wurde, kam auf leisen Sohlen. Steigender Nationalismus, anschwellender Hass, schockierende Drohungen – plötzlich war es wichtig, ob man Serbe oder Kroate oder Muslim war.

Wie immer unter düsteren Wolken stellte sich die Frage: gehen oder bleiben? Die Entscheidung, nicht zu fliehen, setzte die Familie den Schrecken des Krieges aus. Belagerung, Bomben, Artillerie, alltägliche Todesangst, Verelendung, Hunger, Krankheiten und Tod. Es ist wichtig, die Bedeutung der Hilfe zu verstehen. Flugverbot und Schutzzone boten den Menschen die Hoffnung auf Besserung, die Verweigerung militärisch abgesicherten Schutzes führte in das Genozid.

Den meisten Menschen in Mitteleuropa war das alles schlichtweg egal. Wenn Bismarcks Spruch, der Balkan wäre nicht die Knochen eines einzigen preußischen Landsturmmannes wert, exhumiert und auf die damalige Lage umgedeutet wurde, hieß das nichts anderes, als dass die dort lebenden Menschen nichts wert wären. Daran hat sich bis in die Gegenwart viel zu wenig geändert, wie die bisweilen befremdliche Balkanpolitik der EU zeigt.

Europa und seine Führungsmächte, darunter Deutschland, haben versagt, als es darum ging, die Gewalt zu verhindern. Im Grunde ist es das, was Srebrenica überleben wertvoll macht. Die diplomatisch-ideologischen Winkelzüge, mit denen versucht wird, zu begründen, warum man auf militärische Mittel verzichtet, um Völkermord zu verhindern, haben ganz konkrete Auswirkungen vor Ort.

Wie die aussehen, erfährt der Leser aus diesem schmalen, wertvollen Buch. Europa ist eine Verpflichtung eingegangen, sich als Friedensmacht zu etablieren. Das beinhaltet eben auch, Kreaturen á la Milosevic oder Mladic mit allem entgegenzutreten, was man hat, und selbiges vorher bereitzustellen. Andernfalls wird ein „Nie wieder“ zu einer hohlen Phrase vorgeschützten Lernens aus der Geschichte.

Hasan Hasanović: Srebrenica überleben
Aus dem Englischen von Filip Radunović
Wallstein-Verlag, 2022
Hardcover 104 Seiten
ISBN: 978-3-8353-5260-5

Saša Stanišić: Herkunft

Autofiktionales aus der Feder von Saša Stanišić, preisgekrönt und lesenswert, weil es an Selbstverständlichkeiten rüttelt. Cover Luchterhand, Bild mit Canva erstellt.

Ein Roman im eigentlichen Sinne ist Herkunft nicht. Autofiktionales Erinnern wäre vielleicht ein passender Begriff für dieses preisgekrönte Werk, das 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Angesichts des für die Gegenwart wichtigen Themas und der literarischen Befähigung des Autors eine gute Entscheidung, insbesondere aber weil Stanišić die Gelegenheit nutzte, um die Verleihung des Nobelpreises an Peter Handke zu kritisieren.

Wer Herkunft liest oder hört, wird mit dem konfrontiert, was Handke mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit verschweigt, während dieser seine aus altlinkem Antiamerikanismus motivierte Serbienapologetik verbreitet. Das darf man ruhig bedenken, wenn man liest, wie Stanišić seine Herkunft ausbreitet und in manchmal bewegenden, manchmal lustigen, oft ironischen und bisweilen auch bitteren Worten von seinem Lebensweg und denen seiner Vorfahren berichtet.

Jugoslawien ist ein historisch-politisches Gespenst, wie das Römische Reich, Burgund, Indochina oder die Sowjetunion. Die jüngeren Geister haben die eigentümliche Eigenheit, für Zeitgenossen etwas sehr Reales zu sein, das ihnen etwas bedeutet, dem sie mit Stolz und Zuneigung begegnen, auch in der Erinnerung. Das Motiv kennt man, etwa aus den Romanen von Nina Haratischwili: Leicht verklärend, was für den in Deutschland sozialisierten Leser manchmal seltsam anmutet.

Doch darin liegt die Stärke von Büchern wie Herkunft. Sie lassen den tiefen, nachhaltigen und durch nichts zu kittenden Lebensbruch nachempfinden, ein hierzulande über Jahrzehnte hinweg mehr oder weniger ausgeschlossenes Szenario. Corona und der wirtschaftliche Fallout von Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine haben an der behaglichen Ignoranz ein wenig gerüttelt, doch im Kern bleibt das Leben in Deutschland für die meisten das einer Gated Community, abgeschottet von den Zudringlichkeiten des Lebens.

Ein Teil davon ist der Begriff Heimat, mit dem Lumpenpatrioten so gern hausieren gehen. Diese wird bisweilen an abstruse Aspekte geknüpft, wie Blut oder zusammenphantasierte Traditionen. Stanišić sieht das anders, wenn er auf den Zufall verweist, der per Geburt oder Vertreibung für ein Zuhause sorge; und dass jener Glück habe, der “den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will.“

Nach der Lektüre von Herkunft, weiß der Leser sehr genau, wovon die Rede ist.

Saša Stanišić: Herkunft
Luchterhand 2019
Hardcover  368 Seiten
ISBN: 978-3-630-87473-9

Franz Werfel: Die Vierzig Tage des Musa Dagh

Ein besondere Welterfolg ist der epische Roman von Franz Werfel gewesen, mit dem er dem Genozid an den Armeniern ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Cover Fischer, Bild mit Canva erstellt.

Glück? Ja, tatsächlich steht dieser atemberaubende Satz in dem Roman des österreichischen Schriftstellers Franz Werfel, der 1933 erschien. Es ist ein geradezu mustergültiges Beispiel für die politische und gesellschaftliche Wirkkraft, die Literatur entfalten kann und auch für den Gegenwind, der ihrem Autor dann ins Gesicht weht. Werfel kam der gewaltige Erfolg zu Hilfe, den die Übersetzung von Die vierzig Tage des Musa Dagh ins Englische errang, denn auch er teilte das Exil-Schicksal so vieler deutschsprachiger Schriftsteller.

Sein Roman ist eine große, schwere und sehr lange Erzählung über eine heroische Begebenheit während des Ersten Weltkrieges. Der Verbündete des Deutschen Reiches, das Osmanische Reich, beging an der Volksgruppe der Armenier einen Genozid. Hunderttausende wurden 1915 bis 1917 auf Todesmärschen und in Todeslagern via Hunger, Krankheit oder Mord getötet. Die Schätzungen reichen laut Wikipedia von 300.000 bis 1,5 Millionen Opfer. Bis in die Gegenwart sorgt der Völkermord für hitzige Reaktionen aus der Türkei, wenn er offen als solcher bezeichnet wird.

Vor diesem Hintergrund ist es auf den ersten Blick erstaunlich, dass die Ereignisse um den Musa Dagh fast vollständig vergessen sind. Der Roman von Franz Werfel schildert äußerst geschickt nicht nur den tapferen Überlebenskampf einer recht kleinen Gruppe von Armeniern auf diesem Berg namens Musa Dagh, sondern flicht auch die Gräuel der Deportationen geschickt in den Erzählfluss ein. Der Leser bekommt ein anschauliches Bild von den grausamen Maßnahmen der türkischen Machthaber.

Dabei zeichnet Werfel ein sehr vielschichtiges und differenziertes Bild der Ereignisse. Bewundernswert ist die präzise und lebendige Schilderung der Entscheidungen und Verhaltensweisen der Beteiligten, ihrer Motive, die sie zum Handeln bewegen. So gerät der Widerstand auf dem Berg kurioserweise nicht durch die Türken in größte Bedrängnis, sondern wegen innerer Aufwühlungen.

Möglichkeiten und Grenzen des Einzelnen im Rahmen seiner sozialen Verflechtung und Persönlichkeit werden großartig aufgezeigt. Gut und Böse, die gruseligen Kategorien ideologisch bewegter Menschen, sucht man hier vergebens. Das gilt auch für die Hauptfigur des Romans, die Werfel während des Schaffensprozesses überraschend spät in die Erzählung einfügte: eine völlig fiktive Person namens Gabriel Bagradian, der wesentlichen Anteil am Musa Dagh hat.

Mich hat besonders bewegt, wie Werfel den Prozess schildert, in dem die Armenier aus ihrem Alltag herausgerissen und in einen Strudel aus Entmenschlichung und erbarmungsloser Gewalt gesogen werden. Trotz jahrzehntelanger Bedrückung haben sich viele sicher gefühlt und wie andere nach ihnen, nicht glauben können, dass man sie in Massen töten wollte. Die Menschen gehen mit einer zerbrechenden Welt auf sehr unterschiedlicher Art um und Werfel hat in seinem Roman nicht nur den Widerständlern Raum gegeben.

Wie es sich für einen großartigen Roman gehört, hat Werfel ein wunderbares Ende verfasst. Der viert- und drittletzte Satz des Werkes lauten: »Gabriel Bagradian hatte Glück. Die zweite Türkenkugel durchschmetterte ihm die Schläfe.«

Wer wissen will, warum das so ist, muss den Roman lesen.

Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh
Fischer Verlag 2011
TB 1040 Seiten
ISBN: 978-3-596-90362-7

© 2023 Alexander Preuße

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