Glück? Ja, tatsächlich steht dieser atemberaubende Satz in dem Roman des österreichischen Schriftstellers Franz Werfel, der 1933 erschien. Es ist ein geradezu mustergültiges Beispiel für die politische und gesellschaftliche Wirkkraft, die Literatur entfalten kann und auch für den Gegenwind, der ihrem Autor dann ins Gesicht weht. Werfel kam der gewaltige Erfolg zu Hilfe, den die Übersetzung von Die vierzig Tage des Musa Dagh ins Englische errang, denn auch er teilte das Exil-Schicksal so vieler deutschsprachiger Schriftsteller.
Sein Roman ist eine große, schwere und sehr lange Erzählung über eine heroische Begebenheit während des Ersten Weltkrieges. Der Verbündete des Deutschen Reiches, das Osmanische Reich, beging an der Volksgruppe der Armenier einen Genozid. Hunderttausende wurden 1915 bis 1917 auf Todesmärschen und in Todeslagern via Hunger, Krankheit oder Mord getötet. Die Schätzungen reichen laut Wikipedia von 300.000 bis 1,5 Millionen Opfer. Bis in die Gegenwart sorgt der Völkermord für hitzige Reaktionen aus der Türkei, wenn er offen als solcher bezeichnet wird.
Vor diesem Hintergrund ist es auf den ersten Blick erstaunlich, dass die Ereignisse um den Musa Dagh fast vollständig vergessen sind. Der Roman von Franz Werfel schildert äußerst geschickt nicht nur den tapferen Überlebenskampf einer recht kleinen Gruppe von Armeniern auf diesem Berg namens Musa Dagh, sondern flicht auch die Gräuel der Deportationen geschickt in den Erzählfluss ein. Der Leser bekommt ein anschauliches Bild von den grausamen Maßnahmen der türkischen Machthaber.
Dabei zeichnet Werfel ein sehr vielschichtiges und differenziertes Bild der Ereignisse. Bewundernswert ist die präzise und lebendige Schilderung der Entscheidungen und Verhaltensweisen der Beteiligten, ihrer Motive, die sie zum Handeln bewegen. So gerät der Widerstand auf dem Berg kurioserweise nicht durch die Türken in größte Bedrängnis, sondern wegen innerer Aufwühlungen.
Möglichkeiten und Grenzen des Einzelnen im Rahmen seiner sozialen Verflechtung und Persönlichkeit werden großartig aufgezeigt. Gut und Böse, die gruseligen Kategorien ideologisch bewegter Menschen, sucht man hier vergebens. Das gilt auch für die Hauptfigur des Romans, die Werfel während des Schaffensprozesses überraschend spät in die Erzählung einfügte: eine völlig fiktive Person namens Gabriel Bagradian, der wesentlichen Anteil am Musa Dagh hat.
Mich hat besonders bewegt, wie Werfel den Prozess schildert, in dem die Armenier aus ihrem Alltag herausgerissen und in einen Strudel aus Entmenschlichung und erbarmungsloser Gewalt gesogen werden. Trotz jahrzehntelanger Bedrückung haben sich viele sicher gefühlt und wie andere nach ihnen, nicht glauben können, dass man sie in Massen töten wollte. Die Menschen gehen mit einer zerbrechenden Welt auf sehr unterschiedlicher Art um und Werfel hat in seinem Roman nicht nur den Widerständlern Raum gegeben.
Wie es sich für einen großartigen Roman gehört, hat Werfel ein wunderbares Ende verfasst. Der viert- und drittletzte Satz des Werkes lauten: »Gabriel Bagradian hatte Glück. Die zweite Türkenkugel durchschmetterte ihm die Schläfe.«
Wer wissen will, warum das so ist, muss den Roman lesen.
Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh
Fischer Verlag 2011
TB 1040 Seiten
ISBN: 978-3-596-90362-7
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