Schriftsteller - Buchblogger

Schlagwort: Kommunismus (Seite 1 von 3)

Steffen Kopetzky: Damenopfer

Dieser wunderbare Roman nähert sich der historischen Person Larissa Reissner auf eine ebenso ungewöhnliche wie gelungene Weise. Cover Rowohlt Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Der König ist die wichtigste, die Dame die mächtigste Figur auf dem Schachbrett. Fällt der König, ist das Spiel unwiderruflich verloren, fällt die Dame, bedeutet das in der Regel einen fast vernichtenden Verlust für die betroffene Seite. Fast! Ein gezieltes Damenopfer kann in seltenen Fällen auch einen Sieg erzwingen. Wenn beispielsweise für die geopferte Dame ein Bauer zur gegnerischen Grundlinie vorrücken und gegen eine neue Dame eingetauscht werden kann; oder falls es gelingt, den König der Gegenseite nach dem Opfer zwingend Schachmatt zu setzen.

Das höchste und wirkungsvollste: das Damenopfer.

Steffen Kopetzky: Damenopfer

Bauer und Dame teilen sich auf dem Schachbrett das Schicksal, Figuren in einem Spiel zu sein, dessen Verlauf andere bestimmen. Das gilt auch jenseits des Schachbretts: Der Lebenspfad Larissa Reissners windet sich zwischen Revolution und bolschewistischem Putsch 1917, dem brutalen Bürgerkrieg in Russland und den Häutungen der Herrschaft Lenins hindurch und endet jäh, als sich das blutige Haupt Stalins an der Spitze jenes Staates erhebt, der das Paradies auf Erden versprach und eine nie dagewesene Hölle schuf.

Der Leser folgt in Steffen Kopetzkys Damenopfer dem Schicksal Larissa Reissners für die Jahre 1922 bis 1926, was sich beinahe wie eine Falschaussage anfühlt, denn es suggeriert eine Art voranschreitenden Pfad. Das Lesen fühlt sich aber mehr an, wie ein Gang durch Hogwarts: Die Richtung des Schreitens ändert sich wie die schwingenden Treppen der Zauberschule, während zu dem Vorübergehenden aus den an der Wand hängenden Gemälden gesprochen wird. Zeitgenossen, die auf irgendeine Weise mit Reissner zu tun hatten, kommen zu Wort, mal Ho-Chi-Minh, mal ein erlesener Kreis britischer Experten im Rahmen einer Sitzung, die Dichterin Anna Achmatowa, Leo Trotzki.

Diese Form der Installation verweigert dem Leser das gemächliche und komfortable Abtauchen in eine fiktionale Erzählwelt, immer wieder bricht der Erzählstrom, wird man herausgerissen und konfrontiert mit kommentierenden, (ab-)wertenden, bewundernden, trauernden und befremdenden Äußerungen über die Hauptfigur. Die gewinnt dabei an Gestalt, in einer Weise, wie es mit einer anderen Erzählstruktur nur sehr schwer und umständlich umzusetzen wäre.

Larissa Reissner tritt dem Leser als vielfarbig schillernde Person entgegen, Kommunistin aus bürgerlichem Hause, eine Schönheit mit französischem Parfum und Zigarren aus London, hochfliegende Ideale, eskapistischer Freiheitsdrang mit einem Hauch Femme fatale und einem scharfen Verstand  – fast das Idealbild der jungen, emanzipierten Frau der 1920er Jahre. Sie ist eine starke Frau; und sie scheitert tragisch, mit ihr auch die Revolution und ihre Ideale.

Solche Solitäre wie Larissa waren selbst am Nachthimmel Groß-Berlins selten wie schweiftragende Kometen.

Steffen Kopetzky: Damenopfer

Um Spannung im banalen Sinne geht es in Damenopfer nicht. Kopetzky verzichtet, auf was sich viele Romanschreiber frohlockend gestürzt hätten. Eine fehlgeschlagene Revolution in Deutschland, ein kommunistischer Aufstand ohne jede Aussicht auf Erfolg, Verschwörungsraunen von Verrat, zwielichtige, wetterwendische Opportunisten-Politik, die einen Pakt mit dem eigentlichen Todfeind (Reichswehr) schließt – das alles bildet den politischen Mahlstrom, der Larissa Reissners Leben umtost und sie fortreißt.

Die montierende Romanstruktur stellt zeitlich, räumlich und inhaltlich getrennte Ereignisse und Begebenheiten einander direkt gegenüber. Im ersten Kapitel, das mit der klassischen Märchenfomel »Es war einmal …« überschrieben ist, steigen 1922 ebenso kühne wie idealistische Pläne, Träume und Ambitionen in den klaren, blauen Himmel über Afghanistan auf, strahlend bunte Heißluftballons.

Ein Kapitel später wird der Leser nach dem Höhenflug in den Dreck geschleudert, ein finster-grau-trüber Februar in der real-existierenden Sowjetunion, »Totengräber« gehen ans Werk, heben das Grab aus, in dem der Leichnam der völlig unvermutet verstorbenen Heldin bestattet werden soll. Ein irrer Kontrast, angereichert durch abwegige Gedankenflüge einer Flucht von der Erde, einer unbewohnbaren, menschenunwürdigen Erde.

Also war Totengräber mit Sicherheit der falsche Name, man war doch vielmehr Geburtshelfer.

Steffen Kopetzky: Damenopfer

Die Dramaturgie der beiden Anfangskapitel ist einigermaßen gnadenlos. Afghanistan ist als Ort des Handlungsauftakts ohnehin eine Überraschung, doch klärt sich bald, warum er so gut gewählt ist. Reissner ist Teil der sowjetischen Delegation in diesem Land, das als einziges den jungen, bolschewistischen Staat anerkannt hat. Kein Wunder angesichts der herrschenden Ideologie und den Unbilden des wütenden Bürgerkrieges, in dem die westlichen Mächte kräftig mitmischen.

Die aktivistische und idealistische Larissa richtet ihren scharfen geopolitischen Blick auf den britischen Imperialismus, das globale Weltreich ist ihr ein Dorn im Auge – sie hält es für die Zwingfeste der Ausbeutung des Proletariats und will es stürzen. Dabei stößt sie auf die  Pläne eines deutschen Offiziers namens Oskar von Niedermayer, die einen Angriff auf die britische Kolonie Indien von Afghanistan aus durchspielen – ein gefundenes Fressen für Reissner, die sich alsbald auf die Suche nach dem Urheber dieses Vorhabens macht.

Man trifft sich, später, sehr viel später im Buch, um ein geheimes Projekt voranzutreiben, im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee, jenen Kräften, die knapp zwei Jahrzehnte später den blutigsten und brutalsten Krieg gegeneinander führten.

Dem geht eine lange, gewundene Annäherung voraus, die für Larissa Reissner auch eine Distanzierung von dem darstellt, was sie zunächst enthusiastisch vertreten hat. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits unendlich viel verloren, es hat sich bewahrheitet, was der spanische Schriftsteller Javier Marías in seinem Opus Magnum Dein Gesicht morgen warnend geäußert hat:

Niemand weiß je, was er in Gang setzt, unter keinen Umständen, und alles kann zu jedem beliebigen Zweck dienen, zu diesem und zum Gegenteil.

Javier Marías: Dein Gesicht Morgen

Im Spiel der Macht dienen Ideen nicht selten als Rechtfertigung unerhörter Grausamkeiten. Hätte Karl Marx ahnen können, zu was seine Ideen in den Händen Lenins und Stalins entarteten? Hätte die Afghanistan-Larissa ahnen können, wem sie in die Hände spielt, um ihr Ziel, die Niederwerfung des anglo-amerikanischen Kapitalismus und die globale Revolution zu erreichen?

Schwerwiegende Fragen, die leicht in stiefeliges Stapfen münden könnten. Steffen Kopetzky ist jedoch nicht nur ein enorm bildstarker Autor, sondern versteht es auch, seiner Sprache mit ironisch-komischen Wendungen Leichtigkeit zu verleihen. Bei aller Tragik um das Schicksal Larissa Reissners ist die Lektüre von Damenopfer ein Genuss. Ganz am Ende sorgt eine Postkarte aus dem Jahr 1948, dem Jahr der Berlin-Blockade, mit einem optimistischen Schlachtruf für einen lichten Funken im Abgrund.

[Rezensionsexemplar]

Steffen Kopetzky: Damenopfer
Rowohlt Berlin 2023
Gebunden 448 Seiten
ISBN: 978-3-7371-0151-6

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Lange habe ich mir einen Roman aus (nord-)vietnamesischer Sicht gewünscht, hier ist er. Oftmals überwältigend angesichts des endlosen Leids der Menschen. Cover Insel, Bild mit Canva erstellt.

Seltsam gesichtslos sind die Nordvietnamesen in jenen Filmen, die in Vietnam zur Zeit des Krieges spielen. In diesem Punkt unterscheiden sich Platoon, Full Metal Jacket, Der stille Amerikaner, Good Moring Vietnam, Apocalypse Now, Deer Hunter und andere nicht wirklich voneinander. Sie wirken weniger wie Individuen, eher wie eine amorphe Masse, verborgen hinter rassistischen Ausdrücken und Spitznamen wie »Charlie«.

Menschen in Uniform verlieren einen Teil ihrer Individualität, während Nordvietnamesen fast immer als Teil des Vietcong oder der regulären nordvietnamesischen Streitkräfte auftreten, sind die Zivilisten faktisch unsichtbar. Diese amerikanischen Filmdarstellungen sind auch ein Echo auf den Umstand, dass die Amerikaner einem Feind gegenübertraten, der asymmetrisch focht, oft aus dem Verborgenen heraus, eine Kriegführung, die traditionell wie ein Katalysator auf Kriegsverbrechen wirkt.

Eine der Folgen ist, dass die gnadenlose Bombardierung Nordvietnams in Deutschland faktisch in Vergessenheit geraten ist, ausgerechnet in jenem Land, dessen Städte durch den so genannten »strategischen Bombenkrieg« während des Zweiten Weltkrieges vernichtet wurden. Über Nordvietnam wurden noch mehr Bomben abgeworfen, ohne entscheidende militärische Wirkung zu erzielen. Dafür traf es die Zivilbevölkerung mit unerhörter Härte – im Verborgenen.

Nguyễn Phan Quế Mai lüftet mit ihrem Roman Der Gesang der Berge den Schleier. Schon im ersten Kapitel sehen sich Hu´o´ng und ihre Großmutter Diệu Lan in Hanoi einem amerikanischen Luftangriff ausgesetzt. Der Leser wird mitten hineingerissen in einen Alptraum, die hektische Suche nach einem Bunker; es folgen Flucht aufs Land, Hunger, Rückkehr in eine zermalmte Stadt und eine Existenz am Rande des Hungertodes.

Die Herausforderungen, die das vietnamesische Volk im Lauf der Geschichte meistern musste, sind so groß wie die höchsten Berge.

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Das steht am Angang eines schier endlosen Laufs von Gewalt. Die Struktur des Romans, der zwischen den Zeiten und Erzählstimmen stetig wechselt, verstärkt diesen Eindruck, aber selbst eine lineare Erzählung würde daran wenig ändern: Franzosen, Japaner, Amerikaner haben als Kolonialherren, Eroberer oder Kriegspartei über Jahrzehnte dem Land Unheil und Verwüstung gebracht; die Kommunisten zudem noch einen Krieg gegen das eigene Volk entfesselt.

Wie erzählt man davon? Nguyễn Phan Quế Mai wählt einen geschickten Weg, um den Leser nicht in einer Flut an unerträglicher Gewalt zu ertränken. Die Hauptfiguren in Der Gesang der Berge sind Frauen, sie schultern die Ungeheuerlichkeiten, denen sie ausgesetzt sind. Die vielfältigen Kriege wirken auf sie auf ganz verschiedene Weise ein, etwa durch die Abwesenheit ihrer Liebsten, die an fernen Fronten kämpfen und jahrelange Ungewissheit bei den Zurückgebliebenen sorgen.

Die haben zwar nicht direkt mit dem Gegner zu kämpfen, dafür mit tödlichem Hunger, der viele Menschen in erbarmungslose Bestien verwandelt, und mit den Auswüchsen des kommunistischen Ideologie. Die kommt in Gestalt der »Landreform« daher und – man ahnt es – schauerlichen Gewalttaten. Die Neigung, Ideen zur Rechtfertigung brutalster Handlungen gegen Mitmenschen zu missbrauchen, scheint ortsunabhängig eine anthropologische Grundkonstante zu sein.

Die Umrisse der Dörfer am Horizont sahen aus wie Frauen, deren Rücken sich unter der Last des Lebens beugt.

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Hu´o´ng und ihre Großmutter kämpfen ums Überleben. Immer wieder werden ihnen die Grundlagen dafür entzogen; insbesondere ihre Flucht vor der »Landreform« nach Hanoi ist schwer erträglich. Um am Leben zu bleiben, muss die Fliehende ihre Kinder zurücklassen, mit der vagen Aussicht, in der Stadt unerkannt eine neue Existenz aufzubauen. Erst dann kann sich die Mutter auf die Suche nach ihren Kindern machen.

Beeindruckend fand ich den unerbittlichen Familienzusammenhalt, den die Autorin schildert. Dieser geht so weit, dass ein Mitglied seine eigene Frau und Kinder in die USA fliehen lässt und selbst zurückbleibt; das klingt so befremdend wie ich es beim Lesen empfunden hätte – wäre da nicht diese ungeheuerliche Zerrissenheit von Land, Familien und Menschen. Familienbande erscheinen wie eine Art Gegenkraft zu der alles zerreißenden Destruktion.

Besonders gefallen hat mir die Entscheidung der Autorin, dem Vietnamesischen einigen Raum zu geben. Das bleibt nicht bei den Eigennamen, wie Saigon (»Sài Gòn«), es werden ganze Sätze in der originalen Sprache abgebildet – und natürlich gleich darauf übersetzt. Dieser Kniff verstärkt beim Leser den Eindruck der Fremdheit und der kulturellen Distanz und erhöht die Wahrhaftigkeit des Erzählten.

Wir haben genug Tod und Gewalt gesehen, um zu wissen, dass wir nur auf eine Art über den Krieg sprechen können: aufrichtig.

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge

Für meinen persönlichen Lesegeschmack ist der Roman an manchen Stellen ein wenig zu emotional geraten, doch das ist Teil des Stils, der dem Erzählten auch angemessen ist und viele andere Leser eher ansprechen könnte. Am Ende von Der Gesang der Berge steht wie am Ende jedes Lebens der Tod. Nguyễn Phan Quế Mai verbindet das Ableben gekonnt mit Leitmotiven ihres Romans und entlässt auf eine friedvolle Weise den Leser in die Stille, die jedem guten Buch folgt.

[Rezensionsexemplar]

Nguyễn Phan Quế Mai: Der Gesang der Berge
Aus dem Englischen von Claudia Feldmann
Insel Verlag 2021
Gebunden 429 Seiten
ISBN: 978-3-458-17940-5

Jason Lutes: Berlin

Eine epische Grafic Novel erzählt die Ereignisse der dem Abgrund entgegentaumelnden Weimarer Republik aus vielen, spannenden Perspektiven. Cover Verlag, Bild mit Canva erstellt.

Volker Kutscher, Autor der von mir sehr geschätzten Romane um den Kriminalkommissar Gereon Rath, ist es zu verdanken, dass ich auf diesen Schatz aufmerksam geworden bin. Seine lobenden Worte auf dem Cover dieses wahrlich dicken Schinkens haben mich zu einem zweiten Blick bewogen, obwohl ich mit Grafic Novels bislang nicht so viel anfangen konnte.

»Ein opus magnum, eine Sinfonie der Großstadt, eine Comic-Sinfonie.« Kutschers Worte erweisen sich als wahr: Die Lebensumstände im Berlin der Jahre 1928 bis 1933 werden vielschichtig erzählt und ganz wundervoll ins Bild gesetzt. Die Darstellung wirkt karstig, garstig, schwarz-weiß und frei von allem Glamour.

Freunde von »Babylon Berlin« werden möglicherweise die Nase rümpfen, denn in Lutes Berlin gibt es keine Charlotte Ritter; die Figuren bilden ein breites, widersprüchliches Spektrum der Bevölkerung und sozialer Schichten ab, Jason Lutes hat es meisterhaft verstanden, in kargen Zeichnungen ihre Befindlichkeiten einzufangen.

Geschickt werden Ereignisse und Begebenheiten neben- und nacheinander montiert, Lutes verzichtet zum Glück auf jede Form moralinsaurer Belehrungen. Trotzdem bezieht »Berlin« klar Stellung gegen die brutalen, grobschlächtigen und in ihrem Wesenskern gar nicht so unähnlichen Gewaltextreme der Zeit.

Vor- und Nachwort geleiten den Leser, außerdem findet sich in der Gesamtausgabe noch ein sehr interessantes Interview mit dem Zeichner. Toll hat mir das Berlinern einiger Figuren gefallen und – soviel darf gesagt werden – es endet trotz der Machtübertragung an Hitler 1933 nicht alles in depressiver Schwärze.

[Ein Bibliotheksfund, daher unbezahlt]

Jason Lutes: Berlin
aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders
Berlinerisch von Lutz Göllner
Carlsen Verlag 2019
HC 610 Seiten
ISBN 978-3-551-76820-9

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Ein wunderbarer Roman mit handfester Ermittlerarbeit im Kyjiw des Jahres 1919. Cover Diogenes, Bild mit Canva erstellt.

Der Bürgerkrieg zwischen den Roten und Weißen im Gefolge der Oktober (November)-Revolution 1918 bildet den Auftakt für zwei äußerst blutige Jahrzehnte in der Sowjetunion. Erst nach Stalins Tod Anfang der 1950er Jahre ist der Blutzoll im geographisch größten Land der Erde, das politisch, gesellschaftlich, technologisch und in vielen anderen Bereichen immer noch weit vom Westen entfernt ist, geringer geworden.

Buchstäblich mitten hineingeworfen in den Strudel aus Gewalt wird der Leser des Romans Samson und Nadjeschda von Andrej Kurkow. Die Hauptfigur verliert seinen Vater durch den Säbelhieb eines Kosaken und sein Ohr. Eine dramatische Szene, direkt am Anfang, die jedoch keine falschen Erwartungen wecken sollte: Action und explizit geschilderte Gewalt halten sich über weite Strecken der erzählten Geschehnisse in Grenzen.

In diesen Zeiten ist manchmal auch nicht klar, wo das Gute ist und wo das Böse.

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Stattdessen erzählt Kurkow seine Geschichte in einem eher plüschig wirkenden Tonfall. Gesetzt und gediegen wirken Sprache und Handlungsweise Samsons, in gewisser Weise Teil des kleinen, vorrevolutionären Bürgertums. Er taumelt. Der Krieg hat die Gesellschaft ohnehin erschüttert, Revolution, Bürgerkrieg und Gesetzlosigkeit haben der Sicherheit den Garaus gemacht. Alles wirkt improvisiert, chaotisch, viele Zeitgenossen führen Tätigkeiten aus, für die sie gar nicht qualifiziert sind.

Die Konfrontation mit dem Tod seines Vaters und der eigenen Verstümmelung vertiefen die Orientierungslosigkeit des Protagonisten. Kurkow lässt ihn einige Zeit durch Kyjiw irren, bei seinem Versuch, in der sich rasant verändernden Welt Fuß zu fassen. Die neue Macht in der ukrainischen Großstadt macht sich recht bald durch zwei Rotarmisten bemerkbar.

Die beiden Soldaten kundschaften Samsons Wohnung aus, indem sie vorgeben, Nähmaschinen zu suchen, um sie zu requirieren; etwas später quartieren sie sich unter Vorlage eines obskuren Dokuments bei ihm ein, besetzen ein Zimmer und verwenden die Bleibe, um ihre Beute abzustellen. Die Rotarmisten nutzen nämlich die halbanarchischen Zustände als Gelegenheit, um sich zu bereichern.

Samson wird nach einigem Vorlauf und mehr durch Zufall Teil der neuen Macht, indem er der Miliz beitritt und Teil der Ordnung wird. Das ist fast ein wenig komisch, denn von polizeilichen Ermittlungen versteht er überhaupt gar nichts; trotzdem findet er sich plötzlich bewaffnet, mit entsprechenden Papieren und Kleidung ausgestattet auf der Seite der Bolschewisten wieder – ohne selbst einer zu sein.

»Ordnungen gibt es verschiedene.« Der Arzt biss sich auf die Lippen. »Es gibt die bolschewistische Ordnung, es gibt die anarchische von diesem Machno, und es gibt die weiße, denikinsche. Sie stehen alle auf keinem Papier und ändern sich wie das Wetter in England.«

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Merkwürdig indifferent bleibt die Haltung Samsons, die am ehesten mit dem Drang nach bürgerlicher Anständigkeit beschreibbar wäre. Nadjeschda, die erst nach einer geraumen Zeit und dann auch noch im Rahmen heiratsvermittlerischer Aktivitäten der Hausmeisterwitwe in Samsung Heim auftritt, ist ganz anders: Sie verkörpert jenen zukunftsoptimistischen Sowjetbürger, der sich ebenso entschlossen wie naiv in den Dienst der Sache stellt. Nadjeschda, obschon im Titel genannt, bleibt recht blass und passiv, was ein wenig schade ist.

Die Lage ist aber während der gesamten Handlung begleitet von dem Eindruck einer nahen Bedrohung. Immer wieder ist von den Weißen und ihren Generälen die Rede, es gibt Aufstände, an deren Niederschlagung auch die Miliz teilnehmen soll. Militär und Polizei sind ohnehin eng miteinander verwoben, oft begleiten Rotarmisten Samson bei seinen Ermittlungen, umgekehrt muss er an nächtlichen Patrouillen teilnehmen.

Der Protagonist bleibt von einem Kampfeinsatz verschont, angesichts der Erbarmungslosigkeit, die im Buch nur genannt, nicht explizit beschrieben wird, für Samson ein ein großes Glück. Brutal geht es aber auch in den Straßen Kyjiws zu, als Gefangene aus den Kellern des Polizeigebäudes ausbrechen. Ein Toter liegt lange auf der Fahrbahn vor dem Gebäude des Miliz; Samson wird von seinem Kollegen davon abgehalten, einem Fliehenden in den Rücken zu schießen.

Samson, den Nagant im Anschlag, versuchte schnell zu entscheiden, in welchen der sich entfernenden Rücken er schießen sollte. »Lass das«, hielt ihn Wassyl auf. »Was bringt dir das?«

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Unterdessen entwickelt sich tatsächlich ein Kriminalfall, eng verwoben mit dem politischen Durcheinander. Ohne die nötige Schulung, gar nicht zu reden von Ausrüstung und Erfahrung, macht Samson sich daran, den Mörder eines seiner Kollegen aufzuspüren. Dabei nutzt der findige Ermittler-Frischling aber auf intelligente Weise seine bzw. Nadjeschdas Möglichkeiten, die im statistischen Büro arbeitet und an einem Zensus beteiligt war – ein Ansatz für Samson, seinen Fall voranzubringen, der auf eine Weise schön aufgelöst wird.

Samson und Nadjeschda ist kein klassischer Krimi, wie deutlich geworden sein dürfte. Die Ermittler-Tätigkeit des Helden ist einem Zufall geschuldet, von dem Versuch, sich zu orientieren, in der aus den Fugen geratenen Welt einen Platz zu finden und anständig zu bleiben. Eigentlich ist das zum Scheitern verurteilt und man darf gespannt sein, wie lange es Kurkow gelingt, seinen Helden unbescholten durch das blutige Chaos zu lavieren.

Ach, ja: das Ohr. Samson bewahrt sein Ohr auf, denn es leistet ihm als abgetrennter Körper weiterhin gute Dienste, weil es ihn hören lässt, was im Umfeld des alleinstehenden Organs geschieht. Eine skurrile, alle Realitäten verspottende Idee, die aber gerade im Rahmen des sowjetischen Realismus einen gehörigen Charme hat. Möglicherweise ist das Ohr Kurkows zwinkerndes Auge in Bezug auf die historische Bodenständigkeit seines Romans.

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda
aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing
Diognes 2022
Hardcover Leinen 368 Seiten
ISBN: 978-3-257-07207-5

Giuliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Mit großer Spannung habe ich diesen Roman erwartet. Eine großartige politische Erzählung in den Schatten hinter den Kulissen. Cover C.H. Beck. Bild mit Canva erstellt.

Wenn man an einem Lagerfeuer oder vor einem Feuerkorb sitzt, wärmen die Flammen von vorn, am Rücken fröstelt man. So ist es bei  mir gewesen, kaum dass ich in die Handlung des Romans Der Magier im Kreml von Giuliano da Empoli hineingezogen wurde. Ich wusste ja, was kommt. Grundsätzlich. So wird es jedem gehen, der die vergangenen 25 Jahre nicht mit fest verschlossenen Augen durchs Leben taumelte.

Der wunderbar politische Roman entfaltet sein Thema gemächlich vor den Augen des Lesers. Er erschafft das Profil einer Persönlichkeit, ihrer Herkunft und en passant die Entwicklung Russlands seit der Zarenzeit: Wadim Baranow, der Magier im Kreml oder – wie es Beresowski an einer Stelle formuliert: »Putins Rasputin«. Ein  Berater des Zaren, wie Putin genannt wird, ohne Fachressort, aber mit direktem Zugang zu ihm.

In Russland zählt nur das Privileg, die Nähe zur Macht.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Baranows Tätigkeit nahe dem Zentrum aller Macht in Russland liefert einen Reiz des Romans, die Hoffnung auf erhellende Blicke hinter die Kulissen. Glücklicherweise vermeidet der Autor effektheischende »Enthüllungen«; entäuscht wird, wer Action oder Handlungsspannung erwartet. Für jene, die sich seit 1998 den Entwicklungen in Russland nicht verschlossen haben, bietet das Buch ein immens spannendes und gleichfalls irritierend gruseliges Leseerlebnis.

Der Magier im Kreml ist eine Fiktion, aber eine klug arrangierte und informierte. Der Tonfall ist nüchtern, in einem überlegenen, von der Arroganz des Machtwissens umflorten Gestus vorgetragen. Baranow gibt vor, genau zu wissen, wie es läuft und gelaufen ist; er lässt seinen Zuhörer (und die Leser) daran teilhaben, eine fürstliche Gunstbezeugung. Er hat nach eigenem Bekunden wesentlichen Anteil daran, dass Russland heute so ist, wie es ist, er ist ein loyaler Zyniker der Macht, machiavellistisch und bigott.

Der Krieg in der Ukraine war wie alles andere auch. Ich hatte ihn bestimmt nicht gewollt. Ich hatte meine Ablehnung im Übrigen lautstark zum Ausdruck gebracht. Aber dann, als der Zar diesen Krieg beschlossen hatte, tat ich alles in meiner Macht Stehende, ihn zum Erfolg zu führen.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Da Empoli hat seinen Roman im Wesentlichen als Kaminzimmergespräch in Szene gesetzt, eine großartige Entscheidung, diese Form passt wie angegossen. Der Ich-Erzähler kommt über ein Posting in den Sozialen Medien zu einem sehr speziellen Roman aus den 1920erJahren in Kontakt mit Baranow und wird zu diesem eingeladen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn der ehemalige Kremlmagier ist zu einem Gespenst geworden, nach seinem Rücktritt, umwittert von Gerüchten und Vermutungen zu seinem Schicksal.

In dem Gespräch zwischen den beiden Männern verstummt der Ich-Erzähler mehr und mehr, er unterbricht Baranows Erzählfluss nur anfangs ab und zu durch eine Nachfrage. Manchmal spricht dieser seinen Gast direkt an, das wirkt, als wende er sich direkt an den Leser. In diesen Passagen bekommen der Westen und seine Protagonisten oft abfällige Bemerkungen zu lesen, eine tiefgreifende Verächtlichkeit und Abneigung gegen die vermeintliche Schwäche – sehr authentisch, denn die Echos dieses Weltbildes waren tatsächlich den vergangenen Jahren oft in Zeitungen zu lesen.

Baranow ist eine unangenehme Person. Eingebildet. Arrogant. Narzisstisch. Stolz. Selbstgefällig. Er vermittelt gegenüber seinem Gesprächspartner (und dem Leser) das Gefühl der Überlegenheit einer bedeutenden Persönlichkeit, die auf die anderen herabsieht wie auf durcheinanderwirbelnde Ameisen. Menschen sind  ihm im Grunde genommen völlig gleichgültig, insbesondere die Russen, denen er attestiert, sie bräuchten Härte, Führung, aber keine Demokratie.

Wer ein wenig in Geschichte bewandert ist, kennt derlei Aussagen auch über »die Deutschen«, etwa von den Reaktionären um 1848 und während des Kaiserreichs, den Völkischen und Nazis; man kennt es auch aus China und hier wie da ist es schlichtweg falsch. Aber nützlich, denn rund um den Erdball wird diese Verschlichtung allzu gern aufgegriffen, wenn andere Erklärungen zu kompliziert oder lästig geraten. So auch, wenn man den Aufbau einer Diktatur rechtfertigen will.

Die erste Regel der Macht lautete, auf Fehlern zu beharren, in der Mauer der Autorität nicht den kleinsten Riss zu zeigen.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Am Aufstieg Putins und der Errichtung einer Machtvertikale hat Baranow einen gehörigen Anteil. Er weiß darum, wie Dinge inszeniert werden, denn er stammt aus intellektuellen Theaterkreisen und hat im Fernsehgeschäft die wesentlichen Instrumente kennengelernt. Als Beresowski ihn kontaktiert und klar wird, worum es dem einst mächtigen Medienmogul geht, endet alles fröstelige Kaminfeuerbehagen und die Luft scheint zu vereisen.

Es ist wie beim Anschauen der herausragenden TV-Serie Chernobyl, wenn der unverzeihliche und verhängnisvolle Leichtsinn jene dramatische und schreckliche Entwicklung einleitet, der gewöhnlich als GAU bezeichnet wird. Da Empolis Roman erreicht diesen Punkt, wenn die Zauberlehrlinge á la Beresowski im Dunstkreis der Macht ihr Spiel spielen und wie Dr. Frankenstein ein Geschöpf in die Welt setzen, das nicht mehr zu kontrollieren ist. Und seine Schöpfer frisst. Der GAU ist hier ein politischer.

Das Reich des Zaren wurde aus dem Krieg geboren, und es war nur folgerichtig, dass es am Ende wieder zum Krieg zurückkehrte.

Guliano da Empoli: Der Magier im Kreml

Je näher das Romanende kommt, desto deutlicher wird, wie gefestigt Weltbild und Macht des Zaren sind. An einer Stelle lässt da Empoli jemanden zu Wort kommen, der sich über einen Exit des Machthabenden auslässt – genauer gesagt: einen Bogen zur Mafia schlägt und die Meinung vertritt, in beiden Fällen sei ein Abgang unmöglich. Das aber hieße, nach allem, was vorher zu lesen war, dass mit Putin kein Frieden möglich wäre. Schöne Aussichten!

Da Empoli lässt seinen Roman in schauderhaft dystopischen Äußerungen münden, die inhaltlich  überraschend sind und dennoch in gewisser Hinsicht zu dem ganzen Vorangehenden sehr gut passen, obwohl sie über Putin hinausreichen. Die düstere Prophetie aus dem Munde Baranows hinterlässt ein Gefühl nachdenklichen Grauens, das den Leser noch einige Zeit begleitet, wenn er Der Magier im Kreml zugeschlagen hat.

Guiliano da Empoli: Der Magier im Kreml
aus dem Französischen von Michaela Meßner
C.H. Beck 2023
Hardcover 265 Seiten
ISBN 978-3-406-79993-8

« Ältere Beiträge

© 2023 Alexander Preuße

Theme von Anders NorénHoch ↑

GDPR Cookie Consent mit Real Cookie Banner